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Die Revolution warf Brandfackeln in die Stadt, dass Häuser aufflammten – – In einem südlicheren Ort waren sechsundzwanzig Strassen niedergebrannt wie Streichholzschachteln. Die Zeitungen sprachen mit fetten, druckschwarzen Überschriften eine neue Sprache.
Die Welt schien aus den Fugen zu krachen.
Über all das hauchte die Sommersonne heissen Steppenatem, Staub- und Sandsäulen standen in der Glutluft, umtanzt von tausend Mücken und Fliegen.
Wir waren atemlos und unruhig wie die neue Zeit.
Eine Juniwoche mit allen Qualen nervenzerreibenden Wartens und Versuchens lag hinter uns. Hast du eine Maus gesehen, die, mit angstvollen Augen und zitternden Flanken, an den Drahtwänden ihrer Falle beissend einen Ausweg sucht?
So waren wir eine Woche an den Planken herumgelaufen, die Posten beobachtend, die, seit der Flucht eines zu vier Jahren Kettenarbeit verurteilten deutschen Fliegers verstärkt, aufmerksam wachten. Der hohe Sprung von einer rückwärtigen Planke, wie ihn der Verurteilte vor sieben Tagen gewagt, war unmöglich. Heimlich aufgestellte Patrouillen warteten dort. Rechtzeitig hatten unsere Helfer im Mannschaftslager sie entdeckt und uns gewarnt. Es blieb nur ein Ausweg: über die niedrige Planke durch das Kosakenlager.
An den Tagen schliefen wir kaum, die Nächte sahen uns an den Zäunen schleichen, überall standen Soldaten mit wachen Augen und entsicherten Gewehren.
Um zwei Uhr nachts, wenn die neueingerichtete Nachtzählung kam, schlüpften wir angezogen ins Bett, stellten uns schlafend, und dann wieder hinaus, bis der Tag im Osten blendete.
Dieses Suchen war zum Verrücktwerden, weit schlimmer aber, dass das ganze Lager aufmerksam geworden war. Am Morgen begegneten wir erstaunten Gesichtern. Die gelangweilten Zungen standen natürlich nicht still. Schliefen denn die Spione?
Der 8. Juni brachte einen Freitag und eine Nacht, die nicht dunkel werden wollte. Unendlich langsam senkten sich die Nachtschatten, die Sterne funkelten viel zu hell.
Zum achten Male zogen wir unser Zivil an. Da gab es eine grosse Bestürzung: die Hosenträger des Doktors, mit fast tausend eingenähten Mark in Banknoten, waren weg, spurlos verschwunden. Nach langem Suchen kamen sie zum Vorschein. Ein Herr, dem der Doktor seine alten Hosenträger geschenkt hatte, hatte versehentlich und ahnungslos den kostbaren Fluchtgeldschrank an sich genommen.
Um zehn Uhr dreissig Minuten standen wir vor dem Schweinestall und beobachteten einen Soldaten, der durch einen geriebenen, russisch sprechenden Burschen von seinem Posten gelockt werden sollte. Ob er dumm genug war, auf den Schwindel hereinzufallen?
Ein Grammophon steckte seinen grünen Blechhals aus einem Barackenfenster, grölte Tänze in die bange Nacht und bemühte sich, die Wachen unaufmerksam zu machen.
Der Bursche stand vor dem kopfschüttelnden Posten. Anscheinend wollte er die schönen billigen Stiefel nicht kaufen. Verdammt – was nun? Noch war der Russe der Lockung nicht entgangen. Eine schöne silberne Uhr blitzte in der Hand des Dieners und billig, so billig, fast geschenkt.
Da nahm der Posten das Gewehr unter den Arm und ging, wie beabsichtigt, mit dem Burschen in den Vorraum der Baracke, um die Uhr genau bei Lampenlicht zu besehen.
Jetzt galt's. Im Nu standen wir zwischen Schweinestall und Planke. Der Doktor enterte auf, verfing sich in den Stacheldrähten, Reissen von Tuch, ein dumpfer Fall – er war im Kosakenlager.
Mit einem langen Sprung war ich oben, mein Uhrglas klirrte in Scherben – Scherben bringen Glück – ein Stachel bohrte sich in meine Hand, dann hockte ich neben dem Doktor, in den Schatten des Zaunes gedrückt.
Das Herz klopfte ein wenig, blieb plötzlich mit einem Ruck stehen und hämmerte dann wild in kurzen, unregelmässigen Stössen. Vier Hunde sprangen aus der dunklen Nacht und kläfften uns mit heiseren Zungen an.
»Fort!« sagte der Doktor.
Wie Schatten huschten wir, die jaulende Meute hinter uns, an den Pferdeställen vorbei. Die Türen standen offen und liessen im Flackerlicht von Stallaternen Kosaken sehen, die ihre Pferde tränkten.
Den letzten Zaun, der hoch und glatt war, hatten Jahre und Wetter morsch gemacht, eine Lücke klaffte. Wir pressten uns durch.
Draussen gingen wir langsam, schwerfällig und bedächtig, wie Russen schreiten. Reiss sprach laut russisch. Wir gingen einen Bogen um das Lager. Von den Patrouillen war nichts zu sehen.
In der Nähe des Lagers fand ich mein Quartier.
Abgegriffene rote Plüschmöbel, ein unbezogenes Bett, auf dem ich angekleidet schlief – eine schlimme Spelunke. Im Nebenzimmer wohnten vier verwilderte, schmutzstarrende Dirnen, die nachts mit rohen Soldaten zechten und lärmten.
Ich rasierte mir den Schnurrbart ab und zog einen neuen, eleganten Anzug an, den ich von dem Einjährigen gekauft hatte. Ein langer schwarzer Mantel, steifer Hut vervollständigten den würdevollen Aufzug.
Meine Augen tränten hinter den scharfen Gläsern eines geborgten Zwickers, der mir ein anderes Gesicht geben sollte. Eine lederne, mit alten Zeitungen angefüllte Mappe konnte den Anspruch erheben, einem Advokaten zu gehören.
Der Advokat eilte von Büro zu Büro, das heisst von Laden zu Laden, und kaufte Kleider, Wäsche und so weiter, bis die Brieftasche schwindsüchtig wurde.
Wie ein Kind vor Weihnachten ging ich in die Läden, mit einer kindischen Freude am Kaufen. Manchmal stand ich neben Bekannten aus dem Lager, die mich nicht erkannten, einige Male musste ich fluchtartig ein Geschäft verlassen, in dem ein Konvoi oder russischer Offizier war, dem ich nicht zu nahe unter die Augen kommen wollte. Die versprochenen Pässe blieben Versprechungen.
Ich fuhr von Adresse zu Adresse, betete eine von den zurechtgemachten Lügen her, deponierte Anzahlungsgeld, das ich nie wiedersah mitsamt den angeblich guten Pässen. In den schlimmsten Vierteln, bei polnischen Flüchtlingen, in Kellern, die stark nach Verbrechern rochen, trieb ich mich herum. Resultat gleich Null.
Um nicht einer der Patrouillen in die Hände zu fallen, die jeden Fussgänger nach Ausweisen anhielten, musste ich ununterbrochen fahren. Oft sprang ich aus einer Droschke in die andere und kannte in vierzehn Tagen alle Droschkenkutscher mit den schnellsten Pferden.
Eines Tages gehe ich in Gedanken auf eine Droschke zu, setze meinen Fuss auf das Trittbrett – da steigt von der anderen Seite der Lagerkommandant ein.
Deubel auch, denke ich.
Schnupftuch vors Gesicht, dem Kutscher eine Adresse zugerufen, und weg, ehe der Lagerkommandant ganz einsteigen konnte.
Allmählich kamen alle Zivilgefangenen, alle Deutsch-Russen in der Stadt in Aufregung. Die Tschechenpolizei – die aus über hundert Überläufern bestand – war hinter uns her. Es war keine Kleinigkeit, diesen Spürnasen zu entrinnen, die sich mit dem ganzen Hass der Tschechen an unsere deutsche Fährte hefteten. Meine Bekannten besuchte ich nur noch über die Hintertreppen. Oft trank ich Kaffee, während in der Nähe der Haustür ein, manchmal zwei Tschechen lauerten.
Aus den Pässen wurde nichts, die Banknoten schrumpften erschreckend zusammen, ein zivilgefangener Deutscher wurde verschickt, andere erwarteten täglich ihre Verhaftung.
Reiss sass in diesen Tagen zwischen schmalen, weiss getünchten Wänden. Als ich ihn eines Mittags besuchte, fand ich ihn in grosser Aufregung. Sein Quartierwirt war in der Nacht im Hause eines anderen Zivilgefangenen verhaftet worden, jeden Augenblick konnte die Polizei auch hier nachsuchen.
Wohin mit dem Doktor? Ratlos warf ich mich in eine Droschke, um bei Bekannten auf dem Heuboden wenigstens für eine Nacht Quartier für Reiss zu machen.