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Einer bangen Nacht folgte ein noch bangerer Morgen. Um sechs Uhr schwankte eine Droschke mit mir zum Bahnhof. Ich wollte das Glück herausfordern, biegen oder brechen!
Vor dem Bahnhof stürzen zwei Soldaten auf meinen Wagen zu, sonderbarerweise ohne Gewehre.
Sie kommen beide von links, und ich trete schnell auf das rechte Trittbrett – im Laufen holt mich ein Russe so leicht nicht ein. »Dürfen wir Ihr Gepäck tragen, Herr?«
Aha, harmlose Herumlagerer. Ich lasse mir meinen Koffer nehmen. Es ist ganz gut, wenn ich in soldatischer Begleitung den Bahnhof betrete.
Keine Absperrung, nichts Auffallendes.
Wie in X. damals, rauche ich ruhig einige Zigaretten, lese Zeitung und trinke Kaffee.
Am Büfett lehnt der Bahnhofstscheche. Er ist sofort an Akzent und Kleidung zu erkennen. Mein eifriger Gepäckträger belegt im fast leeren Zuge ein oberes Bett. Die dritte Glocke hallt, der Zug rollt.
Hinter der grossen Brücke in Kulomsino kommt die erste Passkontrolle. Das ist die gefährlichste, falls die Soldaten von Vobigs Verhaftung unterrichtet sind.
Ein Soldat ruft in das Abteil: »Pässe vorzeigen!« Dicht an die Tür gedrückt, stelle ich mich schlafend. Unter den gesenkten Wimpern sehe ich, wie mein Gegenüber, ein Offizier, seinen Pass zur Tür hinausreicht. Eine Hand gibt ihn zurück, die Kontrolle geht weiter. Wenn ich auch schon recht gut russisch spreche, so ist mir der Offizier doch unangenehm. Um ihn abzulenken, nehme ich seine kleine Tochter auf die Knie, lasse sie reiten und füttere sie mit Schokolade.
»Verwöhnen Sie doch das Kind nicht so!«
»Aber ich bitte, ich habe Kinder sehr lieb.«
Bis zum Abend verwöhne ich das Mädchen.
Am nächsten Morgen sind Vater und Kind verschwunden. Reisende steigen aus und ein. Meist stelle ich mich schlafend, um neugierigen Fragen zu entgehen, oder verkroch mich hinter einer Zeitung, was nicht davor schützte, dass einen so eine Revolverschnauze über den Zeitungsinhalt ausfragte.
In den Nächten fürchtete ich mich zuerst wirklich, zu schlafen, weil ich die Angewohnheit habe, im Schlafe leise zu sprechen. Um mich einigermassen zu schützen, hielt ich mir vor dem Einschlafen lange russische Reden, schloss mit einigen kräftigen Flüchen – und schlief.
Drei Tage und Nächte schüttelte der Zug. Den Ural, den ich gern gesehen hätte, verbarg die letzte Nacht.
Kurz vor P. kam die zweite Kontrolle. Ich zeigte mein schönes Papier und dachte an den armen Hans.
»Wohin fahren Sie?«
»Nach Moskau, zum polnischen Generalkomitee, ich bin dort Buchhalter.«
Auch dieser Schmerz ging vorüber.
Mit lang ausgestreckten Beinen, meine Butterblume tief im Genick, rollte ich in einer Droschke durch das entzückende P. Herrlich, so als freier Mann sauber, wenn auch ärmlich gekleidet, spazierenzufahren.
Nach einigem Fahren stoppte der Wagen vor einem Hause, in dem der Einjährige mit. dem Doktor wohnen musste, wenn sie angekommen waren. Der Einjährige war da.
Ich hatte eine grosse Wiedersehensfreude nach den zehn Tagen. Ja, er wohnte hier, lag noch in den Federn und rieb sich höchst erstaunt die Augen, als ich ihn weckte.
»Wo ist Reiss?«
Er wusste nur, dass Reiss am Ankunftstage sofort zum Marineoffizier weitergefahren war, und gestand etwas verlegen, dass er einen Brief vom Doktor an mich verloren hatte. Deubel auch – verloren, er konnte Wichtiges enthalten, vielleicht eine Änderung des Planes. Nicht ein Sterbenswörtchen hatte der Doktor in den zehn Tagen von sich hören lassen. Ich war sehr niedergedrückt. Zuerst meinen treuen Hans verloren und jetzt den Doktor vielleicht auch. Was tun?
Ich telegraphierte und schrieb an Margot nach Moskau. Zwei Tage, drei Tage – eine Woche. Keine Antwort. Reiss blieb verschwunden, Margot schwieg, rätselhaft! Sollte eine neue Pechserie beginnen? Um die Passabgabe im amerikanischen Hotel schwindelte ich mich herum. Ich hatte so viel Sicherheit im Auftreten gewonnen, dass man mich nicht belästigte.
Der Telegraph verschlang ein Sündengeld. Mein Beutel wurde leichter und ich unruhiger.
Ein Sonntag erwachte mit Morden und Totschlagen. Zehntausend Maximalisten und Minimalisten prügelten sich in den Strassen der Stadt Brüllende Weiber mit aufgelösten Haaren, zerrissenen Kleidern zogen mit Bierflaschen in den Kampf: »Es lebe das Proletariat, nieder mit den Kapitalisten!« Die Minimalisten rissen Pflastersteine aus und stopften ihnen die Mäuler.
Schüsse fielen, Kugeln zischten blutige Bahnen. Da riss das schwache Geschlecht aus, das stark sein wollte.
Patrouillen stellten die Ordnung wieder her. Einige Tote lagen auf aufgewühltem Strassenpflaster. Aus irgendeinem schwachen Haufen schrie es noch: »Nieder mit dem Krieg, hoch Deutschland!«
Reiss blieb in der Versenkung verschwunden, die bezahlten Rückantwort-Telegramme kamen nicht – Depeschen, die ihn nie erreichten.
Vierzehn Tage waren ins Land gegangen. Mit den letzten fünfundsiebzig Rubeln in der Tasche fuhr ich zum Bahnhof. Wenn Fräulein Margot gar nicht zu Hause, vielleicht verhaftet war – wenn, wenn – –
Mit dem Doktor rechnete ich nicht mehr, der sass irgendwo hinter Schloss und Riegel.
Die bis auf Dächer, Toiletten und Puffer überfüllten Züge hatten enorme Verspätung. Ich wartete schon fünf Stunden. Um ein Uhr nachts kam der Einjährige, um mich nochmals zu sehen. Wozu – in dieser gefährlichen Zeit, in der jeder verdächtig war, Antirevolutionär, Deserteur oder deutscher Spion zu sein?
Schweigend brüteten wir über dampfenden Teetassen, der Einjährige, sein Wirt und ich.
Zwei Uhr, und noch kein Zug.
Ich wollte auf den Bahnsteig, um mich zu erkundigen.
In der Tür zwei Soldaten mit gekreuzten Gewehren: »Stoi! Wohin?« In der anderen Tür auch ein rauhes »Halt!« Ebenso in der dritten.
Die Mausefalle war zu, es gab kein Entrinnen mehr.
Was war vorgefallen, warum wurde abgesperrt – Spione, Deserteure? Ich nahm meine Ruhe in beide Hände und wartete. Der Einjährige wurde kreideblass.
Da kamen sie, ein weissbärtiger Beamter mit mehreren Soldaten. An der entgegengesetzten Seite des Saales fingen sie an: »Pässe vor!«
Lautlose Stille, nur vom Summen der gelben Riesensamoware unterbrochen.
Bleiche Männer wurden zwischen zwei Spiessen abgeführt. Also Deserteure! Nein, nicht – Frauen verschwanden auch, von Soldaten begleitet, in einen Raum, vor dem ein Doppelposten wachte. Spionenjagd!
Das konnte gut werden mit dem Einjährigen, der kaum Russisch verstand. Mit zitternder Hand schob er ein Päckchen Briefe unter das Tischtuch. Er bereitete sich vor – um so besser.
Eine ausgebreitete Zeitung vor dem Gesicht, sah ich den Weissbart an unseren Tisch treten.
Er sprach. Ich tat leseversunken.
»Wie, mein Pass? Bitte!«
»Hm – sind Sie auf der Durchreise oder wollen Sie in die Stadt?«
Diesen Fallstrick kannte ich.
»Ich bin auf der Durchreise nach Moskau und habe wegen Überfüllung einen Zug übersprungen.«
Heureka! Ich war durch! Langsam, langsam, nicht zu früh freuen.
Der Einjährige Der »Einjährige« ist der Kaufmann Josef Linz, der heute in Wuppertal-Barmen lebt. Durch diese Verhaftung und ihre Folgen büsste er in den roten Gefängnissen eine Lunge ein. stotterte russische Brocken neben mir
Nur kein Spionageverdacht! Als angeblicher Pole fiel ich nicht weiter auf, wenn ich Deutsch konnte. Ich wandte mich an den Einjährigen wie an einen Fremden und übersetzte sein bleiches Stottern:
»Der Herr ist österreichischer Zivilgefangener, vor drei Wochen aus Omsk gekommen, und wohnt hier.«
»Auf so ein Papier darf man nicht reisen«, sagte der Weissbart.
Der Einjährige wurde verhaftet und verschwand hinter dem Doppelposten. Die Wachen traten von den Türen zurück, die stark gelichtete Menschheit atmete auf, dass es wie ein Rauschen durch den Saal ging.
Fett gedruckte Zeitungen flatterten auf den Tisch. Mein Herz bekam einen gewaltigen Freudenstoss.
»Durchbruch bei Tarnopol, Tarnopol gefallen, unsere Armee im Zurückfluten.«
Oh – der schöne, schöne Sieg.
So dachte ich und las bis in den grauenden Morgen.
Um sechs Uhr wurde, bleich und übernächtig, der Einjährige an mir vorbeigeführt. Armer Kerl – wozu kamst du auch zum Bahnhof, wo du es nicht nötig hattest!
In zwei Stunden sollte nun wirklich der Zug einlaufen. Ich ging zur Kasse. »Nitschewo, keine Fahrkarte mehr, nitschewo!«
Keine Fahrkarte – ich werd euch, ihr Höllenbraten, dann fahre ich ohne, aber vorher wollen wir mal sehen.
Eine Stunde lang rannte ich dem Bahnhofsvorsteher die Bude ein. »Herr, ich muss nach Moskau!«
»Keiner muss, Fahrkarten gibt es nicht.«
Verfluchter Hund – alle fünf Minuten schrie ich ihm die Ohren voll. Als er aus der Tür hinaus wollte, stellte ich ihm meinen Koffer vor die Beine, dass er stolperte.
Da ging er zur Kasse: »Geben Sie diesem Herrn eine Fahrkarte, damit ich ihn loswerde.«
Rückgrat, viel Rückgrat in Russland, nur keine schüchterne Angst! Der Zug war wie eine rollende Heringstonne. Männer balgten sich an den Türen, Frauen schrien, Kinder jammerten.
Drittes Glockenzeichen – Abfahrt.
Hopp – flog mein Koffer durch ein geöffnetes Fenster und ich hinterher. Diese Fülle im Korridor, Mann an Mann! Ein alter Jude hockte auf meinem Koffer. Jeder Schornstein auf den Dächern war von einem Menschen umarmt.
Zwei Tage und drei Nächte stand ich auf dem Korridor, abwechselnd auf einem Bein, aber ich war froh, dass ich auf einem Bein nach Moskau kam.
In Jaroslaw stieg ich aus und ging zu dem grossen Bahnhofsaltar, neben dem ich vor anderthalb Jahren mit meinem Piloten gesessen. Genau wie damals brannten Kerzen, und andächtige Russen spuckten dem Heiligen vor die Füsse. Ich sah noch schnell hinter den Ofen, hinter dem wir damals zehn Tassen Kaffee tranken und rausflogen. Ja, damals – diesmal stand kein Gendarm in der Tür, nur ein schmieriger Milizsoldat mit weisser Armbinde.
Neben mir im Korridor hockte ein russischer Offizier, der voller Schnurren steckte. Er hielt uns den Schlaf aus den müden Augen mit seinen Geschichten.
»Da kommt so ein dicker, kurzsichtiger Herr mit Frau, Sohn und Mops kurz vor der Abfahrt eines überfüllten Zuges. Der Gepäckträger wirft den Koffer in den Gang und drängt den kurzsichtigen Dicken hinterher. Dritte Glocke. Der kurzsichtige Herr gibt schnell dem Gepäckträger einen Kuss, seiner Frau zwanzig Kopeken, bekreuzigt den Mops und gibt seinem Jungen einen Tritt mit den Worten: Dummes Vieh, immer musst du einem vor den Beinen herumlaufen.«
Haha – so eine Kurzsichtigkeit.
Vor Moskau redet mich der alte Jude plötzlich deutsch an.
Was tun? Überhören geht nicht, nicht deutsch antworten würde den Juden stutzig machen und manchen schärferen Beobachter vielleicht auch.
Das zuckt wie ein Blitz durch mein Gehirn.
Ich antworte also deutsch und lotse ihn langsam wieder ins Russische. Das sind peinliche Momente, in denen man blitzschnell überlegen muss bei sicherem Gefühl.
Um zehn Uhr abends wälzt sich der steifgewordene Menschenhaufen in Moskau aus dem Zuge.
Ich gebe meinen Koffer im Handgepäck ab und eile in die fremde Riesenstadt, um möglichst heute noch Fräulein Margots Wohnung aufzusuchen.
Strassenbahnen verkehren nicht mehr, den Luxus einer Moskauer Droschke kann ich mir nicht leisten, weiss ja gar nicht, was mit Fräulein Margot ist, und ob ich nicht schon übermorgen ratlos mit dem letzten Rubel in der Tasche durch Moskau irre.
In fünfunddreissig Minuten frage ich mich über die »Rote Pforte« zu der mir bekannten Adresse durch.
Ein Viertel vor elf schellt die Glocke. Nach bangem Warten öffnet sich ein Spalt der mit einer Sperrkette versorgten Tür.
»Ist Fräulein Wie die Schwedin Elsa Brandström der »Engel Sibiriens« der deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen war, so war Fräulein Sachsendahl, die heute verheiratet in Potsdam lebt, der »unsichtbare Engel Sibiriens« für flüchtende Kriegsgefangene, Fräulein Sachsendahl, die deutsche Frau mit der Männercourage, hat über zweihundert deutschen und österreichischen Soldaten und Offizieren auf der Flucht aus russischer Gefangenschaft geholfen und der feldgrauen Front eine Kompanie erprobter Soldaten wiedergegeben. … zu Hause?«
»Nein, aber sie muss bald kommen.«
Gott sei Dank, sie ist also in Moskau.
Eine halbe Stunde warte ich im Schatten einer Kirche. Eine Dame biegt um die Ecke. Ist sie es? Als Kind habe ich sie einmal gesehen.
Sie sieht nicht russisch aus, und ich trete unter einer Laterne dicht an sie heran. Stutzen, Fragen mit den Augen, da drückt sie mir schon die Hand.
»Ich habe Sie gleich erkannt, Sie müssen Herr Volck sein, nicht wahr? Heute kam ein ganzer Stoss Ihrer veralteten Depeschen aus P. Der Doktor, von dem ich gerade komme, hielt Sie für verloren!«
O Seligkeit – Reiss hier, nicht hinter Schloss und Riegel! Ganz betäubt bin ich vor Freude.
Um die dunkle Kirche spazierend, besprechen wir noch einiges. Sie hat meinen Vater auf der Flucht hier gesehen. Reiss hat glänzende Papiere, für mich auch.
Halt, halt, nicht zu viel auf einmal. Das geht ja nicht so auf einmal in meinen entwöhnten Schädel.
»Gute Nacht, wo werden Sie schlafen?«
»Im Bahnhof.«
»O Gott, bloss nicht, fast jede Stunde ist Passrevision, nach zwei Uhr werden die Bahnhöfe geschlossen.«
»Aber wohin, die Strassen sind auch gefährlich mit den vielen Patrouillen, und bis zum Morgen in einer Droschke fahren und schlafen kostet ein Vermögen.«
Gehen Sie in ein Nachtlokal, Reiss war auch da – Strasse Nr. 62, und gute Nacht.«
Müde, masslos müde und froh ging ich dem Stadtzentrum zu. Vor der »Roten Pforte« fragt mich ein Betrunkener nach dem Weg.
Ich will ihn schnell lossein und sage: »Erst rechts, dann links, wieder rechts und geradeaus.« Der Betrunkene sieht mich an und lallt – Herrgott, deutsch! – »Danke sehr, danke sehr.«
Ich steige in die nächste Droschke. Verrückt so etwas – um zwei Uhr nachts dankt einem mitten in Moskau ein Mensch, mit dem man russisch spricht, deutsch – –
Nr. 62 ist ein Kabarett. Schlechte Musik, schlechter Wein, teures Essen, widerliche Frauenzimmer.
Um fünf Uhr – nach einer Zeche von sechzig Rubeln – stehe ich in der nebelnassen Strasse und klappe den Mantelkragen hoch, damit man meinen schmutzigen Kragen nicht sieht.