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Der Detektiv

Der Jahrestag meiner Gefangennahme stieg aus dem Osten. Um fünf Uhr stapften wir durch den Schnee der verschlafenen Strassen. Lokomotiven tuteten in der Ferne wie Nebelhörner auf Schiffen.

Die Fenster der Landsmänninnen waren verhängt. Ich zeigte Plouhar das Haus. Er war vier Wochen nicht an der Luft gewesen und hatte steife Beine.

Vor dem Bahnhof stachen russische Rekruten in Strohpuppen, die deutsche Uniformen anhatten. Plouhars Schritte wurden langsam, schwerfällig. Er ging wie ein echter, dicker, russischer Kaufmann. In Russland darf man nie schnell gehen, sonst fällt man sofort als Nichtrusse auf.

Plouhar verschwand schwerfällig im Bahnhof. Einige Minuten wartete ich, dann nahm ich die Klinke der Glastür in die Hand und öffnete. Gegenüber der Tür standen zwei strenge, misstrauische Augen, die mich durchbohrten. Es war sonst niemand im Vorraum als diese Polizistenaugen, die einem russischen »Geheimen« gehörten. Ich kann mich lange mustern lassen, aber diese Polizistenaugen waren mir unheimlich, Plouhar war unbeanstandet an diesen Augen vorbeigekommen, er war ja auch schon vier Wochen verschwunden, der rote Bart fehlte.

Ich fiel den Burschen sofort auf. Gott sei Dank hatte ich meine Studentenmütze. Ehe der Geheime lange überlegen konnte, ging ich auf ihn zu, steckte eine Zigarette in den Mund: »Gestatten Sie anzurauchen?« – »Bitte«. – »Danke«. (Einer Gefahr muss man ins Auge sehen. Ich habe mich später um Auskunft am liebsten an Schutzleute gewandt.) Dann setzte ich mich in den Wartesaal, putzte meine Brille, zog den »Russkoje Slowo« aus der Tasche und las.

Der Geheime war mir nachgegangen und liess mich nicht aus den Augen – unheimlich. Wenn er mich anredete, sass ich in fünf Minuten fest mit meinen russischen Kenntnissen.

Wie unabsichtlich hielt ich die Zeitung vors Gesicht und las einige Minuten. Beim ersten Glockenzeichen stieg ich in den Wagen, vor dem Plouhar stand. Wir kannten uns natürlich nicht. Im Korridor drückte mir der Pole eine Fahrkarte in die Hand und verschwand. Gleich im ersten Abteil lag mein Gepäck. Ich setzte mich und las weiter. Kaum hatte ich die Zeitung entfaltet, da stand auch schon der Geheime in der Tür. Seine grauen Augen stachen. Meine Nerven waren zum Springen. Wenn er doch reden wollte! Dann war diese Situation wenigstens rasch zu Ende. Mit dem zweiten Glockenzeichen stürmten fünf echt russische Studenten in das Abteil, lachten und sagten: »Guten Tag, Kamerad!« Was blieb mir übrig! Ich sagte den Kameraden von der anderen Fakultät guten Tag.

Da huschte ein Erkenntnisblitz über das Gesicht des Geheimen. So ist's recht, halte mich nur für den Reisegefährten dieser fünf echten Studenten!

Der Geheime ging. Die Lokomotive tutete. Der Zug rollte. Ich bedankte mich innerlich bei den »Kollegen« für die Rettung und entzog mich ihrer Gesellschaft, die unangenehm hätte werden können, in ein anderes Abteil. In einem gewissen Ort verschwand die Studentenmütze, die jetzt ein Anknüpfungsgegenstand für gefährliche Gespräche gewesen wäre. Eine Reisemütze, die ich aus der Tasche zog, war viel neutraler.

So rollten wir dahin, freie Männer mit gut gefälschten Pässen in der Tasche. Vier Stunden Wald, immer Wald. Noch sagten mir die verschneiten Bäume nichts. Ich dachte an die Augen des Geheimen, die immer noch hinter mir standen.

Plouhar fing ein Gespräch mit unserem Gegenüber an, der ein Jude zu sein schien. Fein, wie er seine Angeln auslegte. Bald hatte Plouhar den politischen Standpunkt des vermutlichen Juden, der ein Tatar war, herausgefunden. Während ich hinter der Zeitung verschanzt sass, schimpften beide auf den russischen Staat, auf alles, was russisch, ist.

Wir kannten die Adresse eines deutschen Juden in Irkutsk; Plouhar angelte heraus, dass der Tatar in Irkutsk gut bekannt war. Er fragte, ob Plouhar, der sich als Jude ausgegeben hatte und stark näselte, den Juden Eichler in Irkutsk kenne. Das war unser Jude, von dem wir nur die Adresse wussten. Plouhar log herum, erriet alles über Eichler und erzählte von ihm wie von einem lieben Bekannten. Plouhar ging langsam und vorsichtig auf die mongolische und mandschurische Grenze über, nur aus Geschäftsinteresse natürlich. Bald erfuhren wir wichtige Dinge.

Der Tatar hatte uns in sein Herz geschlossen. Juden und Tataren stehen zusammen gegen die Russen. Er besorgte »kipjatok« (Teewasser), »bulki« (Weissbrote), gab uns seinen Zucker. Ich dachte: Wenn er wüsste, wie weit wir waschechte Juden sind! Vielleicht ahnte er es, denn am Abend klopfte er mir aufs Knie und sagte: »Junger Mann, haben Sie keine Angst, ich sage nichts.«

In der Nacht, kaum eingeschlafen, wachte ich von einem heftigen Stoss auf. Plouhar kniete auf meiner Brust und flüsterte: »Sie dürfen nicht schlafen, Sie sprechen deutsch im Schlaf«. Dann nahm er eins von den Schlafpulvern, die wir mithatten für Wachleute, falls wir erwischt werden sollten, und schnarchte.

Ich schlief zwei Tage und Nächte nicht, weil ausser dem Tataren Russen im Abteil waren. Um den Schlaf zu vertreiben, rauchte ich viel. Kurz vor Irkutsk wurde es mir im Korridor schwarz vor den Augen. Ich schwankte noch auf einen Sitz und sank ohnmächtig zusammen. Nach einiger Zeit wachte ich auf.

Wir fuhren in Irkutsk ein.


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