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Ein Offizier kommt, spricht mich französisch an. »Ich mache keine Aussagen«, sage ich ihm. Er sieht mich gross an und geht. Die Wunden schmerzen. Wenn ich leise stöhne, grinst der Kosak neben mir. Ich muss immer denken, immer dasselbe, stundenlang: Nur noch fünfzig Schritte, hinüberschwimmen zu den Unseren, im Lazarettzug nach Hause. So wäre es eine Episode gewesen, nun wird es ein Schicksal. Eine Vorstellungsreihe beginnt: Sibirien – die Kosaken sagen: »Sibiria!« und grinsen – weite, tote Schneeflächen, schmutzige, kleine Häuser, Ungeziefer. Ich höre immer eine Kette klirren. Ekelhaft. Ich muss heraus, um jeden Preis! Fliehen! Es wird gehen, es muss gehen. Etwas kenne ich von Russland, auch einige Brocken Russisch weiss ich noch aus den Kindertagen in Livland. Fliehen, sofort, solange ich noch im Frontbereich bin. Das Bein! Ich habe es ganz vergessen, total steif. Also warten, bis sie dich nach Sibirien geschleppt haben. Es ist zum Weinen.
So grüble ich die ganze Nacht. Ich kann nicht mehr liegen. Das Blut im Kopf muss das Gehirn überschwemmt haben. Ich setze mich auf einen Stuhl, starre in die qualmende Lampe bis zum Morgengrauen. Alle zwei Stunden wechseln die Kosaken. Es ist so still bis auf den Schritt der Posten.
Am Morgen bringt man mir Tee und etwas Brot. Ich wundere mich und lasse es stehen. Gegen Mittag macht der Posten mir verständlich, hinauszugehen. Ich hinke hinaus. Draussen ein Auto, in das man mich schiebt. Mein Pilot kommt. Ach ja, der ist auch noch da. »Tag, ekelhaft!«
Das Auto hält vor einem Bauernhaus. Man hilft mir aus dem Wagen. Im Hause um einen gedeckten Tisch sitzen russische Offiziere. Wir sind bei den Fliegern. Sie sind höflich, kollegial, geben uns zu essen. Einer erzählt von Sibirien, wie schön es dort sei, wir würden ganz frei sein, brauchten nun nicht mehr zu kämpfen. Feine Auffassung! Das und Offizier! Im Laufe der Unterhaltung stellt sich heraus, dass ein junger russischer Leutnant Ende August über Brest-Litowsk einen Luftkampf gehabt hat. Er behauptet, den Deutschen abgeschossen zu haben. Das war ich. Damals hätte ich es ihm besorgt, wenn mein Maschinengewehr nicht versagt hätte, nun sitze ich bei ihm gefangen.
Sie fragen allerhand, worauf sie von uns keine oder ausweichende Antworten bekommen, interessieren sich sehr für unsern Fokker. Das glaube ich. »Wie schiesst der nur durch den Propeller?« fragt der Deutschsprechende. »Ich weiss nicht«, sage ich ihm: »Geheimnis!« Er lächelt.
Nach Tisch – ein richtiges Schlemmeressen mit mehreren Gängen, zum Schluss Kuchen mit Schlagsahne – schreiben wir Briefe. Ein russischer Flieger will sie abwerfen. Nach dem hörten wir ihn starten. Ich sah nicht hin, wozu?
Statt des Autos wartet wieder ein Bauernwagen draussen. Wir fahren den ganzen Nachmittag, rumpeln über lange Knüppeldämme. Am Abend schneit es. In einer Schule werden wir eingesperrt. Vier Landstürmer bewachen uns. Ich kann wieder nicht schlafen – das Blut im Gehirn, die Schmerzen. Die Landstürmer schnarchen, es ist stockfinster draussen und schneit. Wir sind zwanzig Kilometer hinter der Front. Wenn der dumme Beinschuss nicht wäre, käme ich durch die Sümpfe durch, bei der Finsternis sicher.
Am nächsten Tage werden wir in ein Abteil zweiter Klasse verstaut. Ein höherer russischer Arzt sitzt uns gegenüber. Er schickt die Wache vor das Abteil. Dann sagt er in tadellosem Deutsch: »Ich bedaure, meine Herren, sind Sie verwundet?« Er ist ein Balte, ein Landsmann aus Reval, möchte gern helfen, kann nicht. Ganz leise spricht er, hört auf, als ein russischer Offizier das Abteil betritt. Ich denke an meine Landsleute, an unsere Gefangenen. Wie mag es ihnen gehen?
Nach zwei Stunden fährt der Zug in den Bahnhof Luniniek ein. Ich kenne die ganze Strecke – bin sechs Wochen fast jeden Tag hier geflogen – den Bahnhof besonders. Wohl ein dutzendmal habe ich die Stadt beworfen, einmal vor wenigen Tagen einen Zug zum Entgleisen gebracht. Drei verbrannte Güterwagen liegen noch auf den Schienen. Die müssen vom neulichen Fluge noch so daliegen. Ich zeige sie meinem Piloten. Er nickt und sagt: »Ja, damals«. Der Bahnhof ist gedrängt voll – Soldaten, Zivilisten. Ich darf mich auf eine Bank setzen, mitten in die gaffende Menge. Immer näher umdrängen sie uns. Blöde Augen stieren, lassen nicht los von uns, als wären wir Wundertiere. Ich sehe vor mich hin.
So starren sie und rühren sich nicht. Ein mongolischer Kosak neben mir sieht mich mit Schlitzaugen an – böse, giftig. Jemand sagt: »Letschik«, ein Jude sagt: »Flieger«.
Plötzlich kommt Bewegung in die Masse, ein aufgeregtes Summen geht durch den Saal. Regungslos eingekeilt sind »wir zwischen schreienden und gestikulierenden Russen. Ein paar Weiber schreien besonders, drohen mit den Fäusten. Der Mongole stiert mich böse an, spielt mit seinem langen Dolch. Ich sage zu meinem Piloten: »Sie haben uns als Flieger erkannt, gleich werden wir zertrampelt«. Die Weiber kreischen. Ich verstehe nur zwei Worte: »Flieger« und »Bomben«. Nun kommt gleich die Rache an den Wehrlosen!
Durch die Menschenmauer bemühen sich sechs Gendarmen zu uns zu gelangen. Sie müssen sich durchschlagen, bringen uns in ein Zimmer. Vor der Tür bleiben zwei Gendarmen stehen, die anderen bei uns. Die Menge drängt nach. Es war höchste Zeit!
Am Abend schneit es, wie es nur in Russland schneien kann. Ein weisser Vorhang verhüllt die Gegend. Den ganzen Abend rumpeln wir auf einem Wagen durch Wälder, stundenlang. Ab und zu tauchen durch den weissen Vorhang die begleitenden Kosaken auf, verschwimmen wieder im Flockenmeer. Wir frieren stark. Ich spüre deutlich, wie die ersterbende Wärme im ausgehungerten Magen gegen die Kälte kämpft. Plötzlich Lichter durch den weissen Vorhang. Man schiebt uns in ein überheiztes Zimmer, das wie ein Backofen wirkt nach der langen Rumpelfahrt im Schneetreiben. Das Zimmer ist voll glühenden Dunstes. Ein langer Russe steht mit seinem Spiess vor einem eisernen Kasten. Er regt sich nicht, auch die anderen nicht, die über Papiere gebeugt, schreiben.
Aus dem Ofen schiebt man uns auf die Strasse in das nasse Schneewirbeln. In mir ist ein Gefühl von Heimatlosigkeit. Ich möchte mich in den Schnee setzen, einschneien, einschlafen, nie wiederaufwachen. Es ist ja doch alles vorbei – warum nicht diesen müden, zerquetschten Körper auflösen? Der Frost wird das besorgen und der Schnee.
Mein Pilot fasst mich unter dem Arm. Mit einigen Landstürmern humple ich auf ein glühendes Auge im Schneevorhang zu. In der Tür steht eine grosse, dicke Frau – das Gesicht breit und fett, die Hände fettig, die Haare, alles an ihr ist Fett und Schmutz. Das Zimmer ist wie die Frau: Fett und Schmutz. Die Nase zieht sich ordentlich zusammen in dem üblen Fettgeruch, der das ganze Haus erfüllt. Irgend etwas beisst in die Augen: Zwiebeln. Wir sind bei Juden. Ich lege mich auf eine Chaiselongue. Zwei Landstürmer schleppen eine grosse, schmutzige Blechschüssel. In einem gelben Etwas mit Fettaugen schwimmen Hühnerköpfe mit weitoffenen Schnäbeln – Suppe. Das sollen wir essen? Der Magen steht bis zum Halse, aber es schmeckt doch und verbreitet eine angenehme Wärme. Die Jüdin bringt einen grossen, blinkenden Samowar. Der Dampf pufft aus dem Rohr, das Wasser brodelt. Es ist beinahe gemütlich. Ich will nach Hause denken. Es geht nicht. Die Vergangenheit ist ja mit einem grossen Sprung weggerückt, irgendwo dahinten, darunter der grosse, dicke Strich.
Mein Pilot kratzt mit einem Streichholz an seinen Fingernägeln. Die Russen haben die Suppe ausgelöffelt, ausgeschmatzt. Auf dem Boden der Blechschüssel liegen die Hühnerköpfe mit weitaufgerissenen Schnäbeln. Warum erinnern sie mich an tote Soldaten, die ihre gekrampften Finger in den Nachthimmel spreizen? Ein Russe rülpst, tief und befriedigt. Der andere steht vor einem Heiligenbilde, bekreuzigt sich unter tiefen Verbeugungen. Zwischendurch spuckt er.
Der Samowar an der Tür summt sich ein Lied. Er ist so blank und hat so viel Wärme. Die Tür geht auf. Zwei russische Offiziere sind im Zimmer. Der eine ist Arzt. Hinter ihm steht eine russische Krankenschwester, bildhübsch, mit einer schneegepuderten schwarzen Pelzkappe. Ich richte mich auf, mache eine leichte Verbeugung. Die drei starren, neugierig – genau wie die Bauern und Soldaten heute auf dem Bahnhof, als sie uns zertrampeln wollten. Die Posten stehen wie Bildsäulen. »Flieger?« fragt der Offizier. Aha, das ist es: die berüchtigten deutschen Flieger. Deibelskerle, denke ich und bin ordentlich stolz. So starren sie ein paar Minuten. Dann klappt die Tür. Auf dem Tische liegt eine Handvoll russischer Zigaretten, die hat der Arzt hingelegt. Eintrittsgeld, denke ich, stecke mir eine an – wie lange habe ich nun nicht geraucht? – und schiebe die anderen den Russen zu. Das war übrigens der einzige russische Arzt, den ich als Verwundeter zu Gesicht bekam; später noch einmal, aber da brauchte ich keinen.
Vier Tage rumpeln wir durch die Rokitno-Sümpfe. Es schneit nicht mehr, regnet aber oft in Strömen. Über den schwarzen Mooren brodeln nasse Nebel. Alles ist in Nässe gehüllt. Das Stroh im Wagen, die Kleider. Der Regen spült den letzten Rest von Lebensfreudigkeit in uns weg. Eine grosse Regensymphonie, die nassen Moore, in denen es dumpf gluckst, die nassen, mageren Pferde, wir selbst. Meine Verbände sind durchweicht und aufgelöst. Jetzt Wundfieber bekommen! Ein paar Stunden in Fieberphantasien auf dem rumpelnden, nassen Wagen glühen – noch ein krampfhafter Versuch, die fliehende Erinnerung zu haschen, sich lang strecken, tot durch die Sümpfe rumpeln, bis mein Kamerad es merkt. Dann halten sie im nächsten Dorf, holen einen Spaten, machen ein Loch ins nasse Moor, legen mich hinein, das Wasser strömt nach – mein Pilot zieht weiter ins Unbekannte und denkt: Nun kann ich mit niemandem sprechen. Ich bekam kein Wundfieber.
In diesen Tagen haben wir kaum gesprochen. Wir fürchteten wohl den hohlen Klang unserer Stimmen in den stillen Sümpfen.
Unsere Wachmannschaft ist freundlich, deutsche Bauern aus Wolhynien. Im Anfang des Krieges hatte man ihnen alles genommen, das Vieh weggeschleppt. Kosaken trieben sie nach Sibirien, ihr blühendes Land war dem Verfall preisgegeben. So sorgte die zaristische Regierung für ihre Landeskinder, besonders liebevoll für die Wolhynier, weil es Deutsche sind. Jetzt machen sie Etappendienst als russische Soldaten. An der Front sind sie zu unsicher, jedenfalls an der deutschen, deshalb schickt man sie meist an die Kaukasusfront gegen die Türken. In diesen wolhynischen Bauern war viel Deutsches: Hilfsbereitschaft, Güte, Sauberkeit. Mit rührenden Kleinigkeiten versuchten sie unsere Lage zu erleichtern. Sie hassten die Russen und fürchteten sie. Oft klagten sie. Dann schämte ich mich, weil es mir so viel besser ging, als es ihnen ergangen. Später habe ich auf Bahnhöfen in Sibirien verschickte Wolhynier gesehen. Die Not war schrecklich.
Eines Abends, wir waren in einer ungeheizten Dorfschule eingesperrt, bringt ein Wachmann ein Spiel Karten. Von diesem Tage an legten wir Patiencen, Dutzende: Ob der Krieg bald zu Ende ist, ob die Flucht glücken wird? Immerzu dasselbe, kindisch, störrisch, blöde. Die Patiencen wurden unsere Welt. Mein Pilot legt auf Frieden, ich auf Flucht. Meine Patiencen gehen oft auf, worüber mein Pilot sich ärgert. So rumpeln wir vier Tage, immer Sümpfe, immer Regen, abends Patiencen, und dann Schlafenlegen auf dem kalten Fussboden irgendeiner als Arrest hergerichteten Bauernstube. Am vierten Abend finde ich in einer Fensterbank ganz versteckt Namen und Daten eingekritzelt. Es sind deutsche Namen, ein Hauptmann, ein Leutnant – beide Flieger, die einige Tage vor uns abgeschossen wurden – und Mannschaften. Eine grobe Soldatenhand hat ein Lied geschrieben: »Nach der Heimat möcht' ich wieder.« Lange starre ich auf die eckigen Buchstaben. Irgend etwas kommt nass in meine Augen, was nicht in Soldatenaugen gehört – und dann steht plötzlich die Heimat vor mir. Jetzt habe ich die Bilder, halte die Gesichter fest, zum erstenmal. Mein Kamerad summt leise: »Nach der Heimat möcht' ich wieder.«
Am nächsten Abend verabschieden sich die Wolhynier, nachdem mir einer ein Notizbuch und Bleistift gebracht, um das ich gebeten hatte. Wir sind in einem grösseren Ort, stehen wohl zwei Stunden im Regen vor der Kommandantur. Ein Offizier kommt und übergibt uns mehreren Soldaten in schwarzer Uniform, mit Revolvern an blauen Schnüren. Das sind Sträflingswärter, eine besondere Polizeitruppe in Russland, die aus Soldaten gebildet wird. Sie haben einen ganz anderen Ton als die beiden Landstürmer, die uns eben verlassen. Die Art dieser Wächter würde noch gehen, wir verstehen ja kaum, was sie sagen. Aber den Arrest nimmt man nicht so hin, obgleich wir schon unsere Erfahrungen haben und uns kaum noch wundern.
Das Arrestlokal besteht aus zwei mit russischen Sträflingen vollgepfropften Zimmern. Eine heisse Stickluft ist in ihm, es riecht nach Stiefeln und schmutzigen Menschen. In jedem Zimmer ist eine grosse Holzpritsche, auf der Russen hocken mit nacktem Oberkörper, das Hemd in den Händen und Läuse suchend – »knackend«, wie mein Pilot sagt. Auf mehreren Schnüren vom Ofen zur Tür hängen nasse, stinkende Strümpfe und Lappen. Dahinein werden wir geschoben. Die Russen beachten uns nicht, keiner wird irgendwie ausfallend, sie sind ja auch gefangen wie wir, nur mit einem kleinen Unterschied, dass wir im ehrlichen Kampf auf dem Schlachtfelde gefangen worden sind und diese gestohlen, geplündert, gemordet haben. Es ist ja eigentlich gleichgültig, mit wem man zusammen ist in Gefangenschaft, aber eine angenehme Umgebung sind diese duftenden, läuseknackenden Sträflinge nicht. Mein Pilot entwickelt Bildungseifer. Mit einem tierchensuchenden Kerl eröffnet er eine Unterhaltung, die aus russischen Brocken und allerhand Zeichen besteht. Er verdreht die paar Worte, die er kann, derart, spricht sie so komisch aus, dass die Russen sich schütteln vor Lachen. Er macht ein enttäuschtes Gesicht und holt aus unserem Handgepäck die Karten. Unser Handgepäck besteht aus einem schmalen, länglichen Leinwandsack, der einmal weiss war, jetzt aber wie ein Dielenlappen aussieht. Mein Pilot trägt ihn an einer Schnur und lässt ihn meist vor seinem Bauch baumeln. Ich ärgere mich immer schrecklich, wenn er ihn so trägt, weil er wie ein Bettelsack aussieht. Wir verwahren in ihm unsere Nahrungsmittel: Teeblätter, gespartes Brot, etwas Zucker, das Spiel Karten, mein Wörterbuch, Notizbuch und den Bleistift. Später, beim Stabe, als uns europäische Gelüste anwandelten, kamen zwei Zahnbürsten dazu, eine Tube Zahnpasta, ein Handtuch und Seife. Mit dieser Sammlung in unserem »Mädlerkoffer« kommen wir uns sehr vornehm vor, und um nichts an äusserem Anstrich einzubüssen, trägt mein Pilot von da an den Sack unter dem Mantel – doch auch auf dem Bauch.
Er legt Patiencen, die schmutzigen, halbnackten Kerle drängen sich um uns und glotzen. Er mogelt, damit das Spiel aufgeht, dann fängt er von vorn an. Ein Jude fragt, ob wir wahrsagen können. »Ja«, sage ich und mache mit Hilfe des Juden und etwas Russisch, das ich noch aus den Kinderjahren weiss und schon dazugelernt habe, den Kerls verständlich, dass ich ihnen die Karten legen will. Erst lächeln sie ungläubig, dann kommen sie mit Schicksalsfragen, schüchtern, dann immer lauter und stürmischer. Der Russe ist abergläubisch, das gibt einen köstlichen Spass. Ich nehme einen nach dem anderen dran, die, die später kommen, schauen ungeduldig zu. Wie ganz kleine Kinder sind sie, mit neugierigen Augen. Die verschiedensten Fragen werden gestellt, für die ich die Antwort mit wichtiger Miene aus den Karten zu lesen suche. Hat der Kerl ein sympathisches Gesicht, lasse ich den Wunsch in Erfüllung gehen. Ob er noch an die Front muss, wieviel Jahre er Gefängnis bekommt, wann der Krieg zu Ende ist, wer siegen wird, viele Fragen, wie sie nur einem kindlichen Bauernschädel entspringen können. Einer, der es gar nicht abwarten kann, fragt, ob seine Frau ein Kind bekommt. »Ja, zwei, Zwillinge«, sage ich ihm. Ein ungläubiges Lächeln huscht über sein Gesicht, mit verlegenem Grinsen verbeugt er sich tief. So orakle ich stundenlang.
Auf den Pritschen, auf der Diele, auf dem Tisch schlafen die Kerls in kurzer Zeit, wie nur Russen schlafen können. Im Schlaf kratzen sie sich, ohne zu erwachen. Mich juckt es entsetzlich, ich mache die ganze Nacht kein Auge zu. Die Flöhe fühle ich deutlich an den langen Sprüngen. Aber da ist noch etwas, das kriecht langsam, schiebt sich mit kleinen Beinchen millimeterweise vorwärts, jetzt am Knie, jetzt über dem Knie, langsam, langsam. Das müssen Läuse sein. Ich habe noch nie welche gehabt. Zwischen Russen eingeklemmt liege ich, starre in den stinkenden Dunst, den man schneiden könnte. Wenn ich nicht schlafen kann, halte ich jetzt immer Geographiestunde, stelle mir eine grosse Karte von Russland vor und fliehe. Finnland, Schwarzes Meer, Persien, China. Dann kommen andere Bilder. Seit ich das Lied gelesen, ist der Strich unter der Vergangenheit weg, ich krame in ihr wie in einem ordentlichen Schrank mit vielen Kästen. Das ist sehr schön und sehr traurig. Meinem Kameraden erzähle ich nie von meinem Schrank. Er hat wohl seinen eigenen. Die Erinnerungen des Krieges, Träumereien der Jugendzeit, alle sind sie da und wandern vorbei, scharf umrissen. Dann mein Glückstraum, der ganz unten im Schrank steckt. Dämmerstunde in einem grossen Salon, von den Wänden blicken die Bilder auf gediegene, etwas altmodische Möbel herab. Die Fenster sind auf die Strasse geöffnet, von der der Abendwind schwülen Sommerabend hereinträgt. Leise spielt der Wind mit den Notenblättern auf dem Klavier. Ein junges Mädchen spielt mit geneigtem Köpfchen. Sie ist schlank und hat blosse weisse Arme. Ab und zu wirft sie mir einen Blick zu, voll Weichheit, etwas Schwermut, etwas Lächeln. Ihre Augen sind braun mit einem leisen Schatten. –
Am nächsten Tage rattern wir schneller als sonst durch einen grossen, triefenden Wald. Hinter dem Walde tauchen im Regen, der in langen, schmutzigen Strichen vom Himmel fällt, Häuser und Strassen auf. In einer Kommandantur bekommen wir von einem Offizier zusammen fünfundneunzig Kopeken, worüber wir quittieren müssen. Über zwanzig Rubel, die uns zustehen seit der Gefangennahme, hat der Halunke unterschlagen. Nur nicht aufregen, nicht sich wundern in Russland. Im Quartier finden wir einen österreichischen Oberleutnant, ein Feldbett mit Matratze und Stroh auf der Diele. Relativ anständig, wenn ich auch im Stroh auf der Erde liege, denn der Oberleutnant, ein Rumäne, glaubt das Bett beanspruchen zu können, weil er einen Stern mehr hat. Meine Verwundungen übersieht er. Am nächsten Mittag werden wir zur Vernehmung vor den Armeestab gebracht und getrennt eingelassen.
Schon lange haben wir abgemacht, was wir aussagen. Ich werde von einem Kosakenoffizier empfangen, der sich als Balte entpuppt, sehr liebenswürdig ist, keine militärischen Fragen stellt und die Vernehmung zu einem Privatbesuch gestaltet. Am nächsten Tage müssen wir wieder hin. Ich humple den weiten Weg durch die kotigen Strassen. Meine Stiefel sind total zerrissen, die Sohle vom linken Schuh hat sich beim Absturz gelöst, so dass die Zehen herausschauen. Der Kosakenoffizier aus dem Baltenlande gibt mir zehn Rubel aus der Stabskasse für neue Stiefel, worüber ich quittiere. Dann geht das Verhör los durch mehrere Offiziere. Diesmal echte Russen. Ein quirliger Franzose springt um mich herum und meckert seine Fragen. Alles will er wissen, alles. Ich schweige mich aus und werde bald entlassen. Draussen treffe ich meinen Kameraden, der aufgeregt ist. Auf dem Rückwege erzählt er, dass er im Wartezimmer mit einem polnischen Zivilchauffeur zusammengetroffen sei, der fliehen wollte, um nach Warschau zu gelangen. Im Auto des Armeeführers will er uns bis dicht zur Front fahren, wir sollen ihm dann durch die Stellungen helfen. Ich bin ganz erschlagen von dem Glück. Auf einmal ist auch wieder der alte Lebensmut da, aber da kommt auch schon die kalte Dusche – das verfluchte zerschossene Bein. Egal, denke ich, irgendwie humple ich schon durch die Front.
Den ganzen Abend grüble ich über den Frontabschnitt, den ich aus der Luft so gut kenne. Die Posten legen sich schlafen, auch der an der Tür setzt sich und schläft bald. Ich belausche den Atem der Schläfer und überlege, wie ich an meinen Kameraden rankommen kann, ohne jemand zu wecken. Er liegt in der Ecke hinter dem Tisch, vor dem mehrere Russen schlafen. Da nicht ranzukommen ist, rufe ich leise. Er hört nicht. Herrgott, soll ich ihn liegen lassen? Morgen werden wir vielleicht abtransportiert, und heute nacht noch müssen wir versuchen, zum Chauffeur zu gelangen. Gegen zwei Uhr schaue ich noch einmal in das blasse, eingefallene Gesicht meines Piloten, über das der Mond flutet. Dann klinke ich leise die Tür auf, schiebe mich am Posten vorbei in den Korridor. Einen Augenblick überlege ich, soll ich zuklinken? Nein, gibt unnützen Lärm.
Draussen ist voller Mondschein. Während ich eine geeignete Stelle zum Überklettern der Planke suche – klopft mir jemand auf die Schulter. Ich fahre herum. Der Türposten! Hätte ich doch die Tür zugeklinkt, wahrscheinlich hat sie im Winde geschlagen. Ich gehe ruhig zurück, als ob nichts gewesen ist.
Am nächsten Tage werden wir nochmal vernommen und auf einem Bauernwagen zur Bahn gefahren. Auf der Bahnhofskommandantur flegelt uns ein betrunkener Offizier an. Während ich mit zwei müden, hungrigen deutschen Soldaten spreche, rollt langsam der Zug ein.