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Vierzig Galgenvogelgesichter in abgerissenen, schmutzigen Kleidern füllten die grosse Kammer des Irkutsker Militärgefängnisses. Untersuchungshäftlinge wie wir. Mörder mit breiten Händen und viereckigen Gesichtern, in denen böse Augen lauerten, Diebe mit feinen, schlanken Fingern, Deserteure, Landstreicher – und unsere abgerupfte Wenigkeit.
Die Zelle war gross. Durch zwei eisenvergitterte Fenster höhnte die Sonne über hohe Hofmauern mit scharfen Glasscherben auf den Rändern für freiheitsdurstige Verbrecher.
Vier Tage teilten wir Läuse und Wanzen mit diesen Herren, frassen Suppe und Kascha aus demselben Blechtopf. Fix mit den Händen in die Grütze und in eine Ecke, sonst wurde man nicht satt. Um elf Uhr klirrten schwere Riegel, in der geöffneten Tür erschien ein Wärter mit einem grossen Kasten und schrie: »Portia, Portia!« Dann warf er uns Fleischstücke zu, nach denen wir wie apportierende Hunde zu springen hatten.
Ich war der Jüngste und wurde zu allerlei kommandiert, liess mich ruhig kommandieren, denn Prügel von diesen Fäusten dürften schwerlich zu des Lebens Annehmlichkeit zählen. Die anderen Sträflinge verachteten uns, weil wir etwas Besseres waren und hier nicht hergehörten.
Ich schlief am äusseren Rande der Holzpritsche, neben der ein grosser, deckelloser Bottich stand – unser verschwiegener öffentlicher Ort. Besonders in den Nächten kroch eine Pest von Gestank aus diesem einzigen Einrichtungsstück der Zelle. Am Morgen brüllte der älteste Verbrecher: »Mlatschi (Jüngster), paraschka« – so heisst das Möbel – »ausleeren!«
Meistens mit Iwan, manchmal mit einem ganz stillen, scheuen Arrestanten schleppte ich den Bottich auf den Hof.
Plouhar hatte ein Schachbrett auf die Pritsche gezeichnet und aus frischem Brot Figuren geknetet. So spielten wir und warteten auf die Aburteilung vor Gericht. Unter uns waren alte geriebene Gauner, die in allen Sätteln der Verbrecherkunst gerecht waren. Wer hier drin gewesen war, konnte die hohe Schule des Verbrechens lernen und draussen seine Meisterprüfung ablegen, bis er wieder drin sass und Neulinge anlernte.
Hier war alles verboten: Messer, Bleistifte, Streichhölzer, Tabak – und doch hatten wir alles, gerade weil es verboten war. Obwohl man vor Betreten einer solchen Besserungsanstalt nackt untersucht wird – selbst in den Mund fasst der Untersuchende –, gibt es eine ganze Liste verbotener Sachen. Feine Haarfeilen, die die stärksten Fenstergitter in fünf Minuten durchsägen, werden, in Leder genäht, im Darm versteckt, hineingeschmuggelt.
Bei überraschender Visitation wandern die hübschen Sachen, die oft nur aus Lust am Verbotenen gehalten werden, von einer flinken Hand zur anderen und werden nur selten gefunden. Sonst liegen sie – besonders die Feilen – in Ritzen versteckt, die mit Staub zugeklebt werden, und warten auf ihre Zeit. Alles, was wir an Kleinigkeiten noch besassen, verschwand spurlos. Unglaublich, wie die Kerle stehlen konnten. Dabei verriet nie einer den anderen.
Da war der »Zuchthauspascha«, der älteste Verbrecher, der eine strenge Herrschaft führte. Am Tage lag er faul und dick vom jahrelangen Brotessen auf der Pritsche. Niemand durfte ihn stören, mit ihm reden. Abends sass er in einer Ecke und gab Taschendieben praktischen Unterricht.
Wenn der Pascha sehr aufgeräumter Stimmung war, gab er Schilderungen aus seiner Laufbahn. Ganz leise sprach er mit flackernden Augen. Seine Hände sprachen so lebhaft, wie ich es selten bei einem Menschen gesehen, stahlen, mordeten, durchsägten Ketten und Gitter.
»Oho, meine Täubchen, wie wir damals auf der Fahrt nach Krasnojarsk im Sträflingswagen ein Fenstergitter durchgesägt hatten. Die Posten spielten Karten, der Zug fuhr langsam bergauf, als wir sechs aus den Fenstern sprangen. In fünf Minuten waren die Fussfesseln durchgesägt, und dann in die Wälder. Den ersten Bauer schlug ich tot, nahm ihm Kleider und Pass. In einem anderen Zuchthaus war so ein Lump, ein feines Stadtherrchen, der Anzeige machte, als man ihm in der Zelle nachts Pelz und Anzug gestohlen. Natürlich kriegten sie niemand – hoho, wir alten Füchse hatten die Sachen an einer Schnur aus dem Fenster in die untere Etage gelassen, wo jemand wartete. In der nächsten Nacht kam die Reihe an das feine Stadtherrchen. Wir hängten ihn an seinen Hosenträgern am Gitterfenster auf. Der Kommandant meinte am nächsten Morgen, er habe sich erhängt. Natürlich hatte er sich erhängt.« –
Am dritten Tag schrieb ich einen Brief an den Gefängniskommandanten, einen russischen Oberst, links Französisch, rechts Russisch, so grob, dass Plouhar angst wurde. Nach zwei weiteren Briefen verschärften Inhalts rasselten die schweren Riegel – ein Posten brüllte: »Smirno!« (Achtung!) Die Sträflinge fuhren auf, standen stramm an der Wand.
»Warum beachten Sie nicht den Befehl des Postens?« fragte mich der Oberst.
»Weil ich einen derartigen Befehl nicht anerkenne und es in allen europäischen Heeren Sitte ist, dass der in ein Zimmer Tretende zuerst grüsst.«
Die Sträflinge grinsten bei strammer Haltung. Der Oberst trat unsicher von einem Fuss auf den anderen.
»Haben Sie denn gar keine Angst?« »Nein!!«
Da kam etwas wie Freundlichkeit in seine Augen. »Sie wünschen als Offizier behandelt zu werden, können Sie beweisen, dass Sie Offizier sind?«
»Nein, aber mein Ehrenwort wird Ihnen genügen, Herr Oberst!«
»Gut, bitte, lesen Sie.« Er gab mir eine Zeitung, in der eine Stelle rot angestrichen war: Repressalien gegen deutsche Offiziere, die bis auf weiteres wie Mannschaften zu behandeln sind. »Nun?«
»Das glaube ich nicht, Herr Oberst, Zeitungen lügen, und ich bestehe darauf, mit Herrn Plouhar als Offizier behandelt zu werden. Wenn nicht, werde ich Wege finden, selbst in diesem Gefängnis, um mich an mir bekannte hochgestellte Persönlichkeiten des Petersburger Hofes zu wenden.«
Die Verbrecher hörten gespannt zu und stiessen sich mit den Ellenbogen.
Da wandte sich der Oberst an den Offizier vom Tagesdienst: »Bringen Sie die Herren hinauf in das Zimmer des österreichischen Oberleutnants.«
»Gestatten, Herr Oberst, noch eine Kleinigkeit! Als wir vor vier Tagen hier eingeliefert wurden, hat dieser Offizier« – ich wies auf den in strammer Haltung harrenden Fähnrich – »mir bei der Leibesdurchsuchung ein Portemonnaie, Zigaretten, meine Pfeife und eine elektrische Taschenlampe gestohlen. Als ich um eine Quittung bat, hat er mich mit den gemeinsten Schimpfworten, die es in der deutschen Sprache nicht gibt, überhäuft.«
Der Fähnrich wurde bleich, seine erhobene Hand zitterte an der Mütze. Dem Oberst stieg blaue Wutröte ins Gesicht.
»Du Hundesohn, du Schwein, du stiehlst, Elender, im Dienste – – deine Mutter!« Die ganze angebildete Unbildung des Obersten verflog in den Flüchen. »Marsch, Sohn einer Hündin, bringe die Herren hinauf, dann sprechen wir uns noch.«
Wir drückten Iwan stumm die Hand und gingen die Treppe hinauf. Der bleiche Fähnrich machte auf jeder Stufe eine tiefe Verbeugung: »Gleich werde ich zwei Betten besorgen und den Offiziersdiener schicken.«
Ein grosses, helles, weiss getünchtes Zimmer. Zwei Gitterfenster auf einen Platz mit eiligen Menschen. Ein grosser Ofen mit knisternden Scheiten. Hier konnte man das Urteil des Gerichtes abwarten.
Ein verwahrlostes Bett, unordentlich aufgehängte österreichische Friedensmonturen an der Wand, schmutziges Geschirr, ein verstaubter Schreibtisch liessen auf den gedrückten Seelenzustand des Bewohners schliessen.
Rührend abgestaubt waren zwei Bilder auf dem Schreibtisch, vom alten Kaiser Franz Joseph und einer Dame.
Wer war es, der hier in Staub und Schmutz hauste und doch Liebe genug hatte, seine zwei Bilder sauber zu halten?
Der versprochene russische Offiziersdiener kam und brachte zwei Bettstellen und Matratzen, hockte vor dem Ofen und blies traurig in die Glut. Ich fragte ihn nach dem österreichischen Oberleutnant.
»Mein armer, guter Herr«, klagte er. »Zwei Tage ist er jetzt vor Gericht und noch nicht wiedergekommen. Warum kommt er gar nicht mehr? Unten sagen sie, dass man ihn wohl schon totgeschossen hat, weil er doch Spion ist. Er ist gut und hat doch spioniert. Sie werden ihn totschiessen. Er sagt es selbst.«
Dunkelheit schlich ins Zimmer, immer tiefer. Nur der Ofen machte Licht und eine Kerze, die ich auf dem Schreibtisch entzündet hatte. Der Staub roch wie in einer Totengruft. Ich dachte an den Österreicher, der vielleicht an einer Mauer stand, bleich, und seine letzten Gedanken nach Hause schickte – die Kugeln erwartend. Schicksal, unbegreifliches, grausames! Vielleicht trug ich bald Ketten und arbeitete mit geschorenem Kopf in einem Bergwerk? Ins Licht starrend, fragte ich: »Armer Kamerad, wo bist du, bist du überhaupt noch??«
Die Klappe im Guckloch der Tür klapperte. Der Diener schaute herein und rief: »Mein armer, guter Herr ist wohl schon tot.«
Die Klappe raschelte zu. Die aufgescheuchte Stille setzte sich wieder schwer und lastend. Ich dachte: er ist hin, und blätterte in zwei dicken Heften, die ich den Verwandten des Unbekannten bringen wollte. Stundenlang war nichts zu hören als das Flackern der Kerze und das Knistern der vielen Blätter. Tote Tage voller Qual, Bitterkeit. Hoffnung schliefen zwischen enggeschriebenen Zeilen. Was ein Mensch leiden kann, stand in diesen Tagebuchblättern, wie er ringt, schwächer wird, nachlässt im Kampf, den Kopf senkt und denkt: Schlag zu, Schicksal!
Es war eine grosse, starke Seele in diesem Mann und eine weiche Kinderseele. Nun waren sie beide tot. In den letzten Blättern war keine Seele mehr, mattes Abgekämpftsein, das nur einen Wunsch hat: Schlag zu, Schicksal!
In den dicken Heften kroch eine namenlose Einsamkeit, wie sie in Urwäldern, in Wüsten nicht zu finden ist – nur in Gefängnissen. Ich weckte Plouhar, weil ich mich vor dem Buch fürchtete, einem Schicksal, das auch das meine werden konnte.
Mitternachtläuten klopfte dumpf an die Fenster. Die Geisterstunde schlich endlos, die Kerze brannte tiefer. Zwei Schläge hallten durch die Winternacht – zwei Uhr. Der Ofen war gestorben. Mich fröstelte. Da knarrte das Schloss, und ich schaute nach der offenen Tür. Im grellen Lichtschein des Korridors stand ein Offizier – hochgewachsen, überschlank, sehr bleich.
Es war der Unbekannte.
Er lebte also noch, lag nicht durchschossener Stirn irgendwo im Schnee. Ich ging auf ihn zu, reichte ihm die Hand.
Etwas wie Freude kam in sein stilles, krankes Gesicht, nur einen Augenblick – dann sagte er langsam: »In drei Wochen werde ich erschossen, wenn das Urteil von Petersburg bestätigt ist.« Wie aus einem tiefen Brunnen kamen die Worte.
Müde sank er in den Stuhl, nahm die Photographie der Dame in die Hand, fuhr mit dem Ärmel darüber und schaute sie lange an. »Die da habe ich gerettet, sie ist frei, und ich werde an die Wand gestellt. Übrigens hat die Gute mir in der letzten Verhandlung Morphium zugesteckt.«
Wie geistesabwesend legte er eine Brieftasche auf den Tisch, aus der mehrere runde gelbe Kügelchen fielen.
Ich nahm die Tasche an mich. Er hatte es nicht mal gesehen. Die eingefallenen Schläfen in den Händen, sann er vor sich hin. Dann sagte er: »Hässlicher Tod«, und lachte grell, dass mir das Mark gefror.
Der Diener kam und heizte den Ofen. Mit treuen Hundeaugen sah er auf seinen Herrn, rührenden Kummer im Gesicht. Ich fand eine Büchse und machte heissen Kaffee für den Verurteilten. Hier half kein Trost. Ich fragte ihn, aber er hörte nicht und trank gierig den heissen Kaffee.
Plötzlich horchte er auf: »Sie müssen hier heraus, Mittel und Wege werden sich finden in den drei langen Wochen.«
Zögernd erzählte er, dann immer hastiger.
»Unter uns sitzt ein Revolutionär, der zum Strick verurteilt ist. In acht Tagen will man ihn hängen, weil er 1905 in Russland auf den Barrikaden gekämpft und Hauptagent der neuen Revolution für das Gouvernement Irkutsk ist. Wenn Revolutionäre nachts auf Posten stehen, geht er in die Stadt und bereitet seine Flucht vor. Mich will er mitnehmen und einen russischen Fähnrich aus der Nachbarzelle, der vier Jahre Zwangsarbeit in Ketten bekommen hat. Am hellichten Tage wird ein als Offizier verkleideter Revolutionär kommen und uns mit gefälschten Zetteln vom Stadtkommandanten hier herausholen. In einem Kellerversteck, das die Polizei noch nicht gefunden, warten wir einige Wochen und fahren dann mit Postschlitten dreihundert Werst nach Norden. Dort erwarten uns Renntierschlitten nach Lappland. Durch Lappland fahren wir in Hundeschlitten über die gefrorene Beringstrasse nach Nordamerika. Bis New York dauert die Reise fünf Monate. Streichhölzer, Tee, Zucker und Pass nehmen wir mit, sonst leben wir von Bärenjagd und Robbenfang. Der Revolutionär, der früher Pelzhändler war und bis in die Eismeere gejagt hat, hat alles vorbereitet, verlangt nur, dass man gut schiessen kann und – –«
Leiser und leiser wurde seine müde Stimme. Er schlief. Ein frohes Lächeln stand in seinem bleichen Gesicht.
Der Morgen fand mich noch in tiefem Sinnen.
Ein bestochener Posten liess den verurteilten Fähnrich in unser Zimmer ein. Er hatte seinen Regimentskommandeur, der seine Frau belästigt hatte, geohrfeigt. Zwei gerechte Ohrfeigen, und vier Jahre Zwangsarbeit in Ketten.
Der Fähnrich war von jenen Menschen, die im Gefängnis still geworden waren. Während er nachdenklich von den Aussichten der Eisreise sprach, brachte der Diener einen Brief des Revolutionärs, in dem er nach dem gestrigen Urteil fragte.
Noch eine Stunde konnten wir uns besprechen, solange der bestochene Posten stand. Ich wurde wieder lebendig, wachte auf aus dem Stumpfsinn der letzten Gefängniswochen, die Gedanken dachten wieder. Plouhar strich langsam durch seinen roten Bart, grübelte angestrengt und entwickelte einen Plan.
»Wenn der Revolutionär uns alle mit gefälschten Zetteln herausholen kann, kenne ich einen näheren Weg. Wir beschaffen uns Pferde, Kosakenuniformen, Gewehre, Proviant und reiten in die Mongolei. Der Fähnrich führt die Kosakenpatrouille und bekommt gefälschtes Papier mit dem Befehl, uns auf dem Wege nach Uljasutai in der Mongolei zu suchen. Wir reiten Patrouille hinter uns selbst her, wer uns anhält – aber es wird niemand eine Kosakenpatrouille anhalten – bekommt eine Kugel. Den Weg bis in die mongolische Steppe kennen Herr Volck und ich genau.«
Schnell wurde der Plan in Geheimschrift umgesetzt und nach unten zum Revolutionär geschickt. Am Abend kam seine Antwort, dass er einverstanden sei und noch in dieser Nacht hinausginge, um Vorbereitungen zu treffen.
Wieder sass der Fähnrich bei uns. Er hatte Kuchen mitgebracht. Wir tranken Kaffee. Es war ein Fest, das Fest der Hoffnung und nahen Freiheit.
Sonderbare Leute lernten wir kennen während der Spaziergänge auf dem Hof. Ein Hauptmann, der im Russisch-Japanischen Kriege mehrere Male desertiert war, fütterte bereits zehn Jahre seine Tauben, die ihm auf den Schultern sassen und aus der Hand frassen. Ein Oberbeamter schob schon zwei Jahre seinen Fettleib über den Gefängnishof. Im Anfang des Krieges hatte er ein Magazin zu Geld gemacht. Ein Stabsarzt hatte Soldaten für gutes Geld vom Dienst befreit. Man gab ihm sechs Jahre, um hier nachzudenken, ob er nicht mehr hätte verdienen können bei dem Geschäft.
Wohl ein Dutzend Offiziere waren in Untersuchungshaft und mischten sich unter Soldaten mit schwebenden Verfahren. Die Soldaten spuckten ihnen vor die Beine und sagten: »Hundesöhne!« Vielleicht standen sie in einigen Tagen wieder in derselben Kompanie, befahlen und gehorchten. Dann gab der Offizier den »Hundesohn« dem Soldaten mit der Peitsche zurück. Einmal sah ich Iwan die »paraschka« schleppen.
Tage verstrichen, in denen wir mit grellen Farben an dem Freiheitsbilde pinselten. Zettel wanderten von oben nach unten und zurück. Das Unternehmen reifte der Entscheidung entgegen. Morgen nacht sollte es losgehen.
Da kam das Schicksal, lachte höhnisch und pustete unser Kartenhaus um.
Plouhar und ich sollten sofort nach Omsk fahren, wohin wir nach unseren Angaben bei der ersten Gefangennahme bestimmt waren.
Posten warteten ungeduldig und brüllten uns an.
Was tun?
Ich markierte Ohnmacht, wand mich in Krämpfen, verlangte nach dem Arzt. Wir gingen zum »woinski natschalnik«. Vielleicht sah der ein, dass ich nicht reisefähig war, Plouhar allein würde man nicht schicken.
Der Ortskommandant war nicht zu Hause. Durch das Telephon schrie er, dass ich fahren müsse und unterwegs verrecken könne.
Die Hunde drohten mit Kolben, und wir marschierten zurück ins Gefängnis, um unser Gepäck zu holen. Der Österreicher war bleich und erschreckt Ich drückte ihm noch rasch hundert Rubel in die Hand und steckte die Adresse seiner Verwandten in die Tasche.
Eine halbe Stunde später fuhr der Zug nach Omsk. Ra-ta-ta, ra-ta-ta, höhnten die Räder.
Der zum Tode verurteilte k. und k. Oberleutnant war der bekannte Reporter Roland Strunk, der Verfasser des Aufsehen erregenden Buches »Achtung, Asien marschiert«. Als ich damals aus der Zelle herausgeschleppt wurde, gelang es mir, Strunk eine Hundertrubelnote in die Hand zu drücken und dann auf Geheimwegen aus dem Lager Omsk den dänischen Konsul in Omsk auf die Gefahr, in der Strunk als Verurteilter schwebte, aufmerksam zu machen mit dem Vorschlag, Strunk gegen einen in Österreich gefangenen russischen Offizier gleicher Verurteilung auszutauschen. Ferner sandte ich einen Brief an die Mutter des Rittmeisters Strunk. Diese meine Massnahmen führten dazu, dass Strunk auf Intervention Österreichs und des Roten Kreuzes nicht erschossen, sondern zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt wurde, was wiederum zur Folge hatte, dass er in der russischen Revolution aus Sibirien fliehen konnte und ihm so das Leben gerettet wurde.
Als Strunk in den Revolutionstagen 1918 in der Wiener Hofburg als Mitglied einer freiwilligen Offizierskompanie den Kronschatz der Habsburger bewachte, fand er im Saal, in dem er auf Wache zog, unter einer Lesemappe ein Buch. Als er in diesem Buch blätterte, fand er darin sich selbst und sein Schicksal beschrieben und stellte nun erst fest, dass ich sein damaliger Zellenkamerad im Zuchthaus zu Irkutsk war.
Seitdem suchte Strunk viele Jahre nach mir. Jedoch jedesmal, wenn er mich aufgestöbert hatte, war ich irgendwo im Kampf für Deutschland unerreichbar, wie 1922 und 1923 in Amerika, wo ich in New York Filmvorträge gegen den Schandvertrag von Versailles und die Schuldlüge hielt.
Erst achtzehn Jahre nach dem Zusammensein in der Zelle des Zuchthauses zu Irkutsk führt ein Zufall uns beide wieder zusammen. Ich betrete in der Lützowstrasse in Berlin eine kleine Konditorei, um von hier zu telephonieren. Der Telephonapparat steht offen im Lokal. Ich nenne meinen Namen am Apparat. Plötzlich steht ein Herr auf und kommt auf mich zu. Es ist Roland Strunk.