Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Lazarett, das ein anständiger tschechischer Arzt zusammen mit einer russischen Doktorin leitete, wurde ich gebadet. Dann nahm man mir die Uniform und das Gepäck – mein Zivil hatte ich vorher unter dem Strohsack versteckt. In rohleinener Lazarettwäsche, einem langen, braunen Lazarettmantel und mit einem Fieberthermometer unter dem Arm sah ich recht wie ein Kranker aus. Durch Drehen des Thermometers in der Achselhöhle erzielte ich erhöhte Temperatur, die in den nächsten vierzehn Tagen je nach Bedarf heraufgeschraubt oder herabgesetzt wurde. Eine braune Medizin, die drei Rubel kostete und mein erschüttertes Gehirn wieder in Ordnung bringen sollte, goss ich löffelweise in den Eimer oder aus dem Fenster. Die Tage verstrichen angenehm langweilig mit Schachspiel und russischer Lektüre. Stundenlang schlurften wir in zu grossen Pantoffeln durch die langen, hallenden Gänge. In unseren braunen Kutten sahen wir wie Mönche aus.
Keine Konvois mit aufgepflanzten Seitengewehren, kein Stacheldraht – es war paradiesisch!
Am ersten Abend, bei völliger Dunkelheit, stieg ich in mein Zivil, nachdem ich aus Wäsche und Tüchern eine lebensgroße Puppe in mein Bett gelegt hatte für die Nachtschwester. Dann glitt ich aus dem Fenster, zwanzig Schritt neben einem Posten, der mir den Rücken zukehrte, schlich um das Haus herum, ein Sprung durch einen Lichtkegel, und durch das vorher ausgekundschaftete Loch unter dem Zaun war ich im Walde.
Lange Minuten lag ich unter der Aussenseite der Planke. Mein Atem ging schwer. Die Hände zitterten vor Erregung. War ich doch frei – zum erstenmal seit fast einem Jahr mein eigener Herr.
Etwas Schweres wich von mir, unsichtbare Ketten. Ich fühlte, dass ich nochmals der alte werden konnte, wenn auch nie mehr so froh, so jung. Mein lange geknebelter Wille sprang wie ein Sturm in mir. Freiheitstrunken zog ich durch den rauschenden Wald den blinkenden Stadtlichtern zu.
In der Stadt wurde ich unsicher. Die Menschen waren unheimlich. In allen Augen las ich, dass sie wussten, wer ich bin. Ich sprang in einen Wagen und nannte die Adresse meiner Landsleute, zur Vorsicht zehn Hausnummern weiter. Dem Kutscher dampfte ekler Schnapsgeruch aus seinem halboffenen Munde. Kleine, wässerige Alkoholaugen stierten blöde. Er war total betrunken und fuhr im Zickzack von einer Gosse zur anderen. Die Leute blieben stehen und lachten.
Mir war nicht wohl zumute, besonders als ich merkte, dass der Kerl falsch fuhr. Leise und unbemerkt stieg ich aus und verschwand in einer Seitenstraße. Um meine Last und den Fuhrlohn leichter, schwankte der Wagen im Zickzack weiter.
Bald hatte ich das Haus der Damen gefunden, stand im Schatten eines Torbogens und schaute in erleuchtete Fenster, hinter denen sich Schatten bewegten. Aus der Stadt kamen Töne einer Musikkapelle. Mir war heiß in der kühlen Nacht. Ich wagte nicht zu handeln, stierte in die erleuchteten Fenster mit den Schatten dahinter und auf einen weißen Klingelknopf.
Es konnte Besuch da sein. Wie konnte ich um zehn Uhr nachts klingeln? All das fuhr mir durch den Kopf. Ich hatte doch nicht mehr die alte Courage und schlich tiefer in die Stadt, um im Friseurladen bei Nr. 36 mein Heil zu versuchen. Mit dem mir eigenen Orientierungssinn gelangte ich durch unbekannte Straßen auf den Kathedralenplatz, in dessen Nähe Nr. 36 wohnte.
Ich prallte in das Dunkel der Straße zurück. Vor mir war ein Märchenland. Bunte Menschen drängten sich zwischen den Sträuchern des Stadtgartens, in denen farbige Lampions glühten wie riesige Käfer. Aus den Büschen kam Musik, Militärmusik. Die Menge schwankte im Takt, lachte und schwatzte.
Langsam kam ich aus meiner dunklen Ecke heraus, schüchtern und erschrocken, sah den glühenden Riesenkäfern in die roten Rachen, den Menschen in die nachttrunkenen Augen. Alles lachte, die Musik, die Menschen, die glühenden Riesenkäfer.
Ich war nicht mehr der eben entsprungene Gefangene, wurde leicht und frei und ging in den Keller unter dem Friseurladen, wo ich die Wohnung von Nr. 36 vermutete.
Eine Frau öffnete und sagte, dass der Gesuchte hier wohne, vor einigen Stunden aber verhaftet worden wäre, da er kein Zivilgefangener, sondern Kriegsgefangener sei.
Dabei sah sie mich misstrauisch von der Seite an. –
Als es Mitternacht schlug, war ich wieder beim Lazarett gelandet, kroch durch das nur angelehnte Fenster und ging schlafen mit dem Gefühl eines Kindes, das genascht hat und froh ist, nicht erwischt worden zu sein.
Zunächst wartete ich auf Antwort von den Damen, die der Grüne mir mit Wäsche bringen sollte, schlurfte in den zu großen Pantoffeln und der braunen Mönchskutte über den Hof, durch einen Neubau. Die Nachmittage finden uns hinter dem Zaun, im Walde, in dem wir von drei bis fünf spazieren gehen dürfen.
Hier lernte ich einen österreichischen Wachtmeister kennen, der vor einigen Tagen zerlumpt und krank ins Lazarett gebracht wurde. Kosaken hatten ihn neunhundert Kilometer von der sibirischen Grenze tief in der Mongolei wieder eingefangen.
Er hat einen tschechischen Namen. Plouhar nenne ich ihn (er hieß anders). Es gibt auch kaisertreue Tschechen. Dieser hat große anständige Augen. Vielleicht kann er mir nützen. Ich setze mich neben ihn und höre ihn langsam aus. Er erzählt ungern: Wie er mit Hilfe einer russischen Oberstleutnantsfrau geflohen, in den Ausläufern des Altai seinen Begleiter verloren hat, wie er drei Monate allein durch die Urwälder gegangen, über das Altaigebirge, wie er gehungert, in den Nächten gefroren, in der Wüste Gobi im Sonnenbrand gedurstet hat, kurz vor chinesischem Gebiet von einer Kosakenpatrouille, innerlich und äußerlich zerlumpt und krank, eingefangen wurde. Er möchte wieder fliehen, hat aber kein Geld.
Die ganze Nacht grüble ich und entschließe mich, mich diesem Mann anzuvertrauen. Am Vormittag treffen wir uns im Neubau, wo wir ungestört sprechen können. Das Geschäft kommt bald zustande. Ich gebe das Geld, beschaffe die Ausrüstung, ein Versteck in der Stadt; der Wachtmeister gibt seine Erfahrungen und Wegkenntnisse. Während des wochenlangen Rücktransports hat er sich bei den Kosaken genau unterrichtet, wo sie im Winter in ihren festen Quartieren liegen, welche Strassen sie abreiten, wie die Hetmans und Offiziere heißen. In jedem Dorf hat er sich den Namen des Dorfältesten und eines Kaufmanns gemerkt. Am Rande der Wüste Gobi lag er während des Rücktransports zwei Tage lang im Quartier bei einem Tartaren, der deutschfreundlich ist, dessen Sohn in Berlin studiert hat. Der Tartar riet ihm, im Winter mit einem Begleiter zu ihm zu kommen. Er wurde ihn dann mit zwei Reitpferden, deutschen Gewehren, die er auf einer Auktion in Irkutsk gekauft hatte, und einem Mongolen als Führer, mit Wasserschläuchen ausgerüstet, quer durch die Wüste Gobi schicken, auf einem nahen, den Russen unbekannten Wege zu den Chinesen.
Der Wachtmeister schreibt eine Karte an den Tataren mit abgemachtem Inhalt, teilt ihm sein Eintreffen für Mitte November mit. Am Nachmittag nimmt der Grüne, der den Damen nicht begegnet ist, die Karte mit in die Stadt.
Mehrere Male treffen wir uns noch im Neubau, um Einzelheiten der Ausrüstung, Karten, Pässe und so weiter zu besprechen.
Im Walde liegen die Kranken wie braune Pilze unter den Sträuchern. Ich lege mich weit weg von den beiden Posten hinter einen dichten Busch und gehe in Gedanken die Einzelheiten des Planes durch. Während ich ins Herbstlaub sinne, taucht weit hinten im Walde zwischen weißen Birken ein roter und ein grüner Klecks auf, zwei Sonnenschirme.
Jesses, denke ich, die Landsmänninnen! Ganz laut pfeife ich die »Wacht am Rhein«, die Sonnenschirme stutzen, horchen, kommen näher. Jetzt erkennen sie mich. Die Sonnenschirme grüssen, setzen sich ganz nahe ins Gras. Ich ziehe meine nackten Beine in den zu großen Pantoffeln in die braune Kutte. Wohl eine Viertelstunde unterhalten wir uns leise. Die Damen sind beim Pilze suchen zufällig in diese Gegend geraten. Wir alle haben frohe Wiedersehensaugen. Die Kinder springen lärmend durch den Wald.
Ich erzähle von meiner neulichen, vergeblichen Nachtwanderung, erfahre, dass die Damen allein zu Hause waren, dass Geld und Briefe für mich angekommen sind. Morgen Abend um neun Uhr wollen sie mich am Rande der Stadt erwarten. Dann wollen wir zu ihnen gehen und alles besprechen.
Am nächsten Abend bin ich schon mit dem Kopf unter der Planke durch. Da fasst mich jemand an den Beinen und sagt auf Russisch: »Wohin?« Ich krieche zurück. In der Dunkelheit steht ein tschechischer Sanitätssoldat vor mir. Er hat österreichische Uniform und spricht russisch mit tschechischem Akzent, Das ist schlimm, sehr schlimm. Ein Russe wäre mir lieber. Ich ziehe die Mütze tief ins Gesicht und sage, dass ich mal in die Stadt möchte. »Barischnia?« (Fräulein?) fragt er und grinst. »Jawohl«, sage ich und gebe ihm einen Rubel, wonach die Nacht ihn aufsaugt
Ob er mich erkannt hat? Schwerlich. Ein Zurück hat gar keinen Zweck. Ich lasse es auf mein Glück ankommen, schiebe mich unter dem Zaun durch und beobachte, ob mir jemand folgt. Nichts regt sich.
In der Stadt treffe ich die beiden Damen, die mich rasch von links und rechts einhaken. So gehen wir und sprechen laut russisch, ich natürlich wenig, da ich noch wenig kann.
Die Wohnung ist ganz dunkel, die Vorhänge heruntergelassen, die Läden dicht. Mattes Licht huscht aus einer verhängten Lampe über das Silber eines reich gedeckten Tisches.
Ich bin ganz still, setze mich schüchtern auf den äußersten Rand eines Sofas. Im dunklen Nachbarzimmer singt leise ein Klavier – deutsche Volkslieder. Ich bin im Märchenlande, in einem wirklichen Märchenlande.
Während das Klavier singt, muss ich essen, lauter gute Sachen, die ich längst vergessen habe. Aus einer alten silbernen Kanne duftet Kaffee. Dann geht es ans Erzählen, ich rutsche tiefer ins Sofa, erlebe in meinen Worten nochmal das letzte Jahr.
»Und Deutschland, unsere Feldgrauen, wie steht es in der Heimat?« Ich muss erzählen von zu Hause, vom Vormarsch nach Paris, in Polen, immer wieder.
Als es drei Uhr schlägt, springe ich erschreckt auf. Die Taschen werden mir mit Zigaretten und Schokolade vollgestopft, dann bringen mich die Damen an den Stadtrand.
Schnell schlüpfe ich durch den Wald, in dem schon der Morgen graut.
Am nächsten Morgen finde ich das Loch unter der Planke vernagelt. Wahrscheinlich Arbeit des Tschechen, der mich gestern abfasste. Ich denke nicht lange und gehe über die Planke.
Heute liegt die Wohnung nicht mehr in ängstlichem Dunkel, die Lampen sind unverhüllt. Wieder werde ich mit Leckerbissen gefüttert. Wir besprechen alle Einzelheiten der Flucht. Meine Freundinnen wollen Gouvernementskarten vom südlichen Sibirien besorgen bis an die mongolische Grenze, drei Kompasse, warme Wäsche und so weiter.
Ich schreibe einige Briefe nach Moskau, nach Dorpat und an Nr. 36, der nicht verhaftet ist und neulich mit dem Grünen gesprochen hat. Ich bitte ihn, Sonntagabend um zehn Uhr am Stadtpark gegenüber der evangelischen Kirche zu sein, und unterzeichne mit Nr. 36.
Sonntag gehe ich bei den Damen vorbei und erfahre, dass der Brief abgegeben ist. Nach der Beschreibung an einen Falschen.
Zwischen zehn und elf Uhr beobachte ich den abgemachten Platz von einer dunklen Strasse aus. Der Kathedralenplatz liegt im hellen Mondschein. Niemand zu sehen, der dem Friseur ähnlich ist. Sollte der Brief in falsche Hände geraten sein? Teufel, da heißt es aufpassen!
Rasch gehe ich an der Kirche vorbei. Am Kirchenzaun im Baumschatten lehnen drei dunkle Gestalten, Mützen tief im Gesicht, in den Händen dicke Knüppel. Vielleicht Polizeispitzel? Mir ist schwül.
Die Kerle kommen langsam hinter mir her. Ich will Gewissheit haben und bleibe unter einer Lampe stehen. Auf alle Fälle habe ich eine ganze Tasche voll feingestossenem Pfeffer. Mit dem Pfeffer streue ich den Kerls die Augen zu, dass sie ihnen übergehen, wenn sie etwas von mir wollen.
Unter der Laterne sehen die drei mich scharf an. Ich erkenne den Polen und sage ihm auf Russisch: »36«. Er nickt und geht weiter, biegt mit den andern um die Strassenecke und kommt allein zurück.
»Haben Sie mir einen Schrecken eingejagt. Der Brief ist in die Hände meines Kollegen geraten, der auch Pole ist. Ich dachte, dass die Polizei mir eine Falle gestellt hat. Deshalb kamen wir zu dreien mit den Stöcken.« Ich muss lachen und zeige ihm den gestossenen Pfeffer, den er jetzt um ein Haar in den Augen hätte, wenn er nicht der Rechte gewesen wäre.
Zunächst bringt mich Nr. 36 in ein polnisches Quartier, das mir aber als Versteck ungeeignet scheint. Ich bestelle ein anderes, dessen Strasse und Nummer er mir sagt und erzähle ihm, dass ich mit einem Österreicher über Finnland fliehen will. Dann bringt er mich noch an den Wald, in den er sich nicht hineintraut. Er zittert wie Espenlaub und behauptet, dass in diesem Walde vor einigen Nächten zwei russische Offiziere ermordet worden sind. Ganz kalt ist er vor Angst. Erst als ich ihn unter dem Arm fasse, geht er zögernd mit. Hundert Schritte vom Lazarettzaun zeige ich ihm ein dichtes Gebüsch, in dem er übermorgen zwischen zehn und elf den Wachtmeister erwarten soll.
Ob der Feigling sich allein in den Wald trauen wird? Ich lasse ihn schwören und mache einen Käuzchenruf als Zeichen aus.