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Die Flucht des Wachtmeisters

Der Wald wartet mit angehaltenem Atem. Die Nacht ist erwartungsschwanger. Mit großen, schwarzen Flügeln, durch die Sterne blinken, schlägt sie die Baumkronen, dass sie leise rauschen. Minuten, in denen ein Schicksal schreitet, hocke ich unter einem Baum, zu einem braunen, regungslosen Klumpen zusammengeballt, und starre auf den Zaun, über den der Wachtmeister kommen muss.

Der Wachtmeister wohnt in der oberen Etage, darf abends das Zimmer nicht verlassen und wird von Tschechen bewacht. Am Nachmittag habe ich ihm Wäsche hinaufgeschickt, fünfzig Rubel und einen Zettel: »Heute Abend zehn Minuten vor zehn Uhr. Freitag komme ich nach. Falls nicht gelingt, noch fünf Tage warten«. Ob er dem Tschechen unbemerkt entwischen wird?

Hinter mir in den Zweigen knackt es. Eine Stadtuhr schlägt dreiviertel – die Töne irren durch den Wald, der geisterhaft ist, im Schlafe sich schüttelt.

Etwas poltert gegen den Zaun, keucht, kratzt an den Brettern. Ein Pfiff, den ich leise beantworte, der Kopf des Wachtmeisters kommt über den Zaun. Ein Pantoffel klatscht auf die Erde. Wie der Zaun kracht! Der Mann ist aufgeregt und überhastet. Anstatt sich Zeit zu lassen, richtet er sich auf der Planke auf, springt, nein stürzt mir in die Arme.

Ich dränge ihn hinter einen dicken Baum, ziehe meinen Anzug aus. Wie seine Hände zittern. Ich muss ihn anziehen und ihm seine Stiefel zuhaken. Dann schleichen wir in den Wald, hundert Schritte. »Küi-witt«, lasse ich das Käuzchen rufen. Ein bleiches Gesicht mit angstvollen Augen bewegt sich im Busch. Der Pole hat seinen Schwur gehalten.

Die Nacht verschluckt die beiden. Ich bin allein im Walde mit den zehn Glockenschlägen, die hell aus der Stadt klingen.

An einem Baum hinauf über den Zaun. Den Lazarettmantel des Wachtmeisters und den verlorenen Pantoffel werfe ich in den Keller des Neubaus. Es ist nicht gut, wenn man weiß, wo er entwischt ist.

Am Morgen trappen hastige Schritte über die Gänge. Ich werde von einem tschechischen Einjährigen geweckt, soll sofort zur Ärztin kommen. Sie macht giftige Augen und sagt mir auf den Kopf zu, dass ich dem Wachtmeister zur Flucht verholfen habe. Ich muss innerlich lachen, leugne und mache ein beleidigtes Gesicht.

Im Zimmer hat inzwischen der tschechische Unteroffizier von einem tschechischen Soldaten nach dem verschwundenen Zivil suchen lassen. Ich lasse den Soldaten kommen und dem Unteroffizier sagen, dass ich ihm die Knochen brechen werde. Natürlich ist der Kerl nirgends zu finden. Verräter sind immer feige.

Zu Mittag gehe ich zu der Ärztin, die, wie es scheint, nicht mehr an meine Mittäterschaft glaubt. Wegen der Anschuldigung und der frechen Durchsuchung meiner Sachen durch den Soldaten verlange ich, sofort ins Lager entlassen zu werden. Der Ärztin ist das sehr peinlich, ich wäre doch krank, hätte noch Fieber.

Nein, lieber im Lager verrecken als hier unter Verrätergesindel gesund werden.

Gegen Abend sitze ich wieder im Drahtkäfig, nehme »Kümmel« zur Seite und weihe ihn ein.


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