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Vobig kommt aus der Versenkung

Mein schöner Optimismus ging langsam in die Brüche. Ich war ganz Ratlosigkeit, ganz Hilflosigkeit.

Ein bekanntes Gesicht fährt an mir vorbei.

Wo hab' ich es nur – hallo, das ist ja Vobig, Herr Vobig aus der Schreckenskammer, Vobig der Fluchtkönig –!

»Vobig!« brülle ich und lasse die Droschke wenden.

Er stutzt, erkennt mich nicht, drückt dem Kutscher eine Banknote in die Hand und stiebt im Galopp davon.

Hallo, alter Junge, denke ich, wir fahren nur mit den besten Pferden und werden dich gleich haben. Ein Zehnrubelschein setzt meinen Gaul in Bewegung. Vobigs Wagen tanzt wie eine verrückt gewordene kleine Lackschachtel weit vor mir.

Ich halte mich am Bock fest und heule dem Kutscher in die Ohren. »Schneller, schneller!« Das Geschirr kracht, der Wagen dröhnt auf dem Kopfsteinpflaster, der Kutscher peitscht – ein wilder Galopp. Langsam hole ich auf. Unsere Pferde sind wie im Rennen.

Jetzt saust mein Wagen rechts von Vobig, der absprungbereit auf dem linken Trittbrett steht. Ich nehme den Kneifer ab und brülle. »Vobig!« – zwei-, dreimal. Da erkennt er mich und fällt seinem Kutscher in die Zügel. Mein Wagen schiesst weit über den anderen vor – freilich, wenn Vobigs Fäuste zupacken.

Schweigend gehen wir ein paar Schritte und steigen in eine neue Droschke. Wie sauber er aussieht. Hohe Stiefel, braune Lederjacke, Sportmütze frech auf dem linken Ohr.

»Na, alter Junge, wo kommst du her?«

Er schmunzelt, tausend Teufel lachen aus seinen zusammengekniffenen Augen.

»Direkt aus Moskau von Ihren Bekannten. Die sechs Meter lange amerikanische Miss habe ich auch wieder angepumpt. Feine Tage« – er pfeift durch die Zähne bei der Erinnerung –, »Rollschuhbahn und Eremitage. Im Ural haben sie mich erwischt mit den schönen Zivilkleidern für Sie und ins Zuchthaus gesperrt. Na, so eine Gemeinheit. Aber was der Hans ist, der lässt sich nicht lange halten. Ausgebrochen bin ich, an der Dachrinne herunter und im Expresszug hierher.«

In einer Kellerkneipe mit lichtscheuen Gestalten mieten wir das einzige Séparé und brechen einigen Flaschen Dünnbier den Hals. Seit Vobig aus der Versenkung wieder aufgetaucht ist, bin ich ganz ruhig. Hinter seiner vierkantigen Stirn ist so viel schlaue Verschlagenheit. In seinem Knopfloch glüht eine rote Schleife. Was hast du da, Vobig?«

Und Hans erzählte. Wie er glatt nach Moskau gekommen ist, meinen Auftrag ausgerichtet hat. Fräulein Margot lässt grüssen und erwartet mich. Die Revolution kam – er zupft an seiner roten Schleife, –, da wurde er Revolutionär, nahm eine Flinte, wälzte sich mit den Tausenden durch die Strasse und schrie: »Nieder mit dem Zaren!«

»Im Ural haben sie mich ins Zuchthaus gesteckt und mir die schönen Kleider für Sie weggenommen.«

Er kramte eifrig in seinen Taschen und brachte einen kleinen, mit Bleistift beschriebenen Zettel zum Vorschein. »Da, da haben Sie etwas von Fräulein Margot, damit Sie auch glauben, dass ich in Moskau gewesen bin. Ich bin ein Gauner und tausche mein Leben nicht mit einem König, aber Sie belügen oder bestehlen? Niemals! Nur die Russen«.

Wirklich einige Worte von Fräulein Margot.

Vobig braucht man nicht zweimal zu bitten, wenn es zu helfen gilt. Als er von meiner und des Doktors brenzliger Lage hört, sinnt er einen Augenblick nach, verschwindet und kommt in einer halben Stunde wieder. Mit ihm ist ein untersetzter Pole mit verschlagenen Gesichtszügen. »Mein Prokurist«, stellt Vobig vor.

Der Prokurist kennt Omsk durch und durch, namentlich alle dunklen Gassen und Existenzen. Vobig doziert mit Würde, das gehört sich wohl so vor seinem Prokuristen:

Morgen mittag bringt der Prokurist einen Zivilgefangenenpass, und wir verordnen dem Doktor Sommeraufenthalt draussen vor Stadt im Vororte Kulomsino. Sauberes Zimmer, freundliche Wirtin, keine aufdringliche Polizei, Ruhe und frische Luft. Dort kann er abwarten, bis wir soweit sind.«

Nach einer durchwachten Nacht, in der jeder Schritt auf der Strasse von einem Milizpolizisten herrühren konnte, treffen wir uns am Kleinbahnhof.

Schweigend, ohne zu fragen – Verbrecher arbeiten sich ohne viel Worte in die Hände – verkauft ein Mann, den der Prokurist mitgebracht hat, sein Zivilgefangenenpapier für fünfzig Rubel an Reiss. Die Lokomotive tutet, und der Zug fährt mit dem Doktor in Begleitung des Prokuristen ab.

In den folgenden Tagen schwirren die Tschechen in Massen. Wo man hinspuckt, ist einer von ihnen. Scheinbar haben sie mein Signalement, und ich muss oft lange Beine machen. Vobig sucht eifrig nach Reisepässen. Ein Handstreich auf einen Polizeioffizier, der zwei Schweizerpässe und ausgefüllte Passformulare besitzt, missglückt Vobig, weil er den mit Morphium verbesserten Rotwein nicht trinkt. Ich bin sehr froh darüber, denn wer weiss, ob Hans nicht die Schlafdosis überschritten hat und der Mann nie wieder erwacht wäre.

Mein Quartier musste ich wegen der Tschechen aufgeben und schlief einige Nächte bei Deutschen auf Sofas herum.

Vobig arbeitet fieberhaft und entdeckt einen Polen, mit dem er mich abends in einem Konzertgarten zusammenbringen will. Lustige Lampions tanzen an Drähten, eine sommerlich vergnügte Menschheit wogt zwischen Büschen und Bäumen. Wir sitzen vor einem Konzertpavillon in einer der ersten Reihen. Eine Tschechenkapelle spielt. Es wäre herrlich, so in der kühlen Sommernacht zu sitzen, bei den Klängen heimatlicher Weisen, dem Stimmengewirr lachender Menschen. Wenn nur die Tschechen nicht wären, von denen der Garten wimmelt. Werde ich hier erkannt, so helfen mir die schnellsten Beine nicht.

Der Pole kommt und kommt nicht. Der Morgen kühlt schon, im dunklen Garten ist nur noch verliebtes Flüstern in den Büschen.

Um zwei Uhr entdecken wir den Gesuchten beim Lottospiel im Restaurant. Er hat geldfiebrige Augen und einen Haufen Banknoten vor sich. »Gleich, gleich«, sagt er und setzt weiter. Er ist im Gewinnen – und wird sicher nicht gleich kommen.

Wir verabreden uns für morgen und gehen. Zu irgendeinem Deutschen zu gehen ist zu spät, und ich habe keine Schlafstelle. Zu Vobig kann ich auch nicht, auf den Strassen bis in den Morgen bummeln, ist zu gefährlich, wegen der Nachtpatrouillen, weil ich keinen Ausweis habe.

Kurz entschlossen gehe ich ins Hotel Paris – nach einem Jahr erzählte mir mein Vater, dass er auf seiner Flucht nach Deutschland über Japan und Amerika in demselben Hotel gewohnt hat.

Der Nachtportier verlangt meinen Pass. »Ich bin Däne, aus der grossen Fabrik, habe mich verspätet und will meine Wirtsleute nicht wecken. Meine Papiere liegen zu Hause.«

»Ohne Pass, nitschewo!« Schliesslich genügte ein Zehn-Rubel-Pass. Ich hatte im voraus bezahlt und verschwand lautlos um sechs Uhr morgens, bevor sich etwas im Hotel regte.

Drei Nächte schlief ich vor dem Bett des Doktors.

Die Situation wurde immer ungemütlicher. Der Einjährige, der uns geholfen hatte, wurde von den Tschechen aufgestöbert und entging mit Mühe einer Verhaftung. Um nicht wieder auf Monate ins Gefängnis zu springen, musste er Omsk verlassen und wollte nach P. in den Ural zu Verwandten der Deutschen, die ihn so lange versteckt und gepflegt hatten.

Da er nicht russisch sprach, musste einer von uns versuchen, ihn bis P. durchzulotsen. Die Entscheidung fiel auf Reiss, während ich mit Hilfe der gewachsenen Verbindungen noch einige Tage in Omsk nach Papieren suchen und dann mit oder ohne Pass nachkommen wollte. Reiss und der Einjährige hatten auch nur für eine Eisenbahnfahrt ungültige Zivilgefangenenscheine – aber es musste versucht werden. Brachte der Doktor seinen Schützling nach P. durch, so sollte er auf einem Fluss zwei Tage nach Norden fahren, um sich mit einem ehemaligen deutschen Marineoffizier zu besprechen. Dieser Marineoffizier kannte die finnische und die schwedische Grenze genau und hätte sich uns vielleicht angeschlossen. Nach erfolgter Besprechung sollte Reiss nach P. zurückkehren und mich einige Tage lang erwarten. Mit schwerem Herzen sah ich die beiden scheiden. Würde ich sie wiedersehen?

Die Tschechen, denen nun zwei Opfer entwischt waren, rührten sich weiter. Vor den Häusern meiner Bekannten, die ich in der ersten Zeit häufiger besucht hatte, standen Spione, die versuchten, die Kinder über mich und den verschwundenen Einjährigen auszufragen. Mein Geld schmolz zusammen und mit ihm meine Hoffnung.

An einem stillen, sonnigen Frühmorgen bemerkte ich Offizierspatrouillen, die die Strasse absperrten, jeden Passanten anhielten, sogar die Droschkenkutscher von ihren Böcken holten. Da kam ein Fräulein angestürzt, dem ich schon viel verdankte.

»Rasch, verstecken Sie sich, es sind achthundert Soldaten desertiert, in allen Häusern suchen Patrouillen. Bei uns haben sie sogar die Schränke und Kommodenschubladen geöffnet.«

In einem leeren Schuppen waren in halber Höhe mehrere Bretter, ein Hühnersitz oder so etwas. Vier Stunden lag ich hier und beobachtete, wie die Patrouillen ins Haus gingen. Ein Soldat schnüffelte im Schuppen herum. Ich hielt den Atem an und erwartete, dass ich jeden Augenblick entdeckt würde. Der Kerl musste mich doch durch die fingerbreiten Ritzen sehen.

Um zwölf Uhr zogen die Patrouillen mit Scharen Verhafteter ab.

Meine Wirte flehten mich an, abzureisen. Gut, ich hatte das Versteckspielen satt. Am Abend musste der Prokurist mir ein Papier bringen, für das ich ihm fast mein letztes Geld gegeben hatte. Er kam nicht, natürlich kam er nicht. Der Ahnungslose war den Patrouillen – wie wir später feststellten – mit den Papieren in die Arme gelaufen. Ein Polizeirevier, ein Gefängnis, eine Kaserne, irgendein russisches Staatsgebäude hatte ihn verschluckt. Vobig besass die Frechheit, ihn in vielen Kasernen und Polizeirevieren zu suchen. Dabei wurde er selbst erwischt, entkam aber in der ersten Nacht.

Wenn die Not am grössten, ist irgendeine Hilfe am nächsten. Ich konnte vierhundert Rubel borgen, und die Passfrage wurde gelöst.

Vobig machte sein schlaustes Spitzbubengesicht und legte ein rotes, schmieriges Taschentuch auf den Tisch.

Während ich das sonderbare Taschentuch aufknüpfte, hatte er einen diebischen Spass an meiner Überraschung.

Was war wohl in dem Taschentuch?

Kleine Stahlstäbchen mit Buchstabenköpfen – eine regelrechte Taschendruckerei. Kein Komma fehlte, kein Punkt. Zwischen all den Stäbchen lag dick und rund ein fertiger Stempel vom polnischen Komitee in Moskau. Woher hatte er all das? Gestohlen, natürlich gestohlen – Vobig gibt nicht unnütz Geld aus.

Das war das Glück.

Den ganzen Vormittag schnitzten wir Druckleisten. Vobig kaufte Spannschrauben, und ich besorgte Druckpapier und Tusche. Beim Drucken kam mir Plouhars Schule zu Hilfe. Nach einigen missratenen Exemplaren gelangen zwei Papiere. Dann wurden sie schmutzig gemacht, etwas zerknittert, und die Reise konnte losgehen.

Ich hatte schon eine Fahrkarte zweiter Klasse nach P., gab Vobig Geld und bestellte ihn für morgen um neun Uhr auf den Bahnhof. Wir wollten, ohne uns gegenseitig zu beachten, fahren. Getrennt marschieren, vereint schlagen.

Hans hatte noch eine Sorge: Könnte man nicht das Tschechenpack, das in der Lagerkanzlei arbeitet, vorher noch um die Ecke bringen? »Verschaffen Sie Zyankali, ich schleiche in der Nacht ins Lager und werfe den Schuften unseren Abschiedsgruss am Morgen in ihren gemeinsamen Tschajnik.«

So einen Hass hatte Vobig auf die Verräter, und mir tat es auch leid, dass wir die Gefangenen nicht von dieser Pest befreien konnten.

Ein Österreicher, der mit uns im Bunde war, holte Vobig ab, um irgendwo noch einen Abschiedstrunk zu tun. Nach einer halben Stunde stürzte er bleich und zitternd in mein Zimmer, vor Erregung kaum fähig, zu sprechen.

»Was ist los, wo ist Hans?«

»Vobig ist eben von zwei Tschechen erkannt worden. Anstatt auszureissen, hat er die Kerle blutig geprügelt, immer mit dem roten Taschentuch und den Stempeln über den Kopf. Sie waren schön zugerichtet, als Miliz Vobig festnahm.«

Armer Hans – und – heiliges Kanonenrohr, das frisch gedruckte Papier und die Taschendruckerei!

Eine fürchterliche Frage quoll mir im Kopf.

Wenn die Polizei schlau ist, vermutet sie, dass noch mehr solcher Papiere existieren, und sperrt den Bahnhof ab. Dann werde ich unfehlbar morgen hoppgenommen.


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