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In den Kaukasus

Reiss bleibt als Rechtsanwalt Gast der russischen Fürstin. Ich werde unangemeldet einquartiert und gehe als Fräulein Margots Vetter und russischer Kavallerieoffizier auf Urlaub in ihrem Hause aus und ein. Schöne Stunden verleben wir bei Bekannten, die meinem Vater auf seiner Flucht begegnet sind, die mich als kleinen, kurzbehosten Jungen in Dorpat gekannt haben. Der Kreml wird besehen, in den besten Restaurants speisen wir wieder mit Messer und Gabel wie wohlerzogene Europäer.

Unsere Bekannten raten dringend von einer Flucht über die westliche Front ab. Der Deutschenhass und die Spionensucherei ist derart, dass jeder, der nur den leisesten Verdacht erregt, Deutscher oder Österreicher zu sein, vom Pöbel zerrissen und zerstampft wird. Ausserdem ist bei dem Zurückfluten von ganzen Deserteurbrigaden ein Vordringen nach Westen mit der Bahn kaum möglich. Wir haben zu viel durchgemacht und fühlen uns dem Ziel zu nahe, um uns von Russenhänden zerreissen zu lassen.

Mennoniten tragen uns ein Geheimnis zu: Die Mohammedaner des Kaukasus bereiten einen Aufstand vor und wollen ihr Land von Grossrussland losreissen. Entflohene deutsche Offiziere werden als militärische Hilfskräfte mit offenen Armen aufgenommen.

Warum nicht – Bandenführer oder so etwas. Es ist ja schon so viel Sonderbares, fast Unglaubliches in den letzten zwei Jahren gewesen.

Die Kaukasier halten als Mohammedaner zu den Türken und werden uns helfen, Fräulein Margot besorgt einen Atlas, wir kramen unsere geographischen Schulerinnerungen aus und schneiden zwei Wege an – über das Schwarze Meer oder über die gefallene türkische Festung Erzerum durch die Front.

 

Meine Landsleute besorgen neue Sanitäterpapiere. Ich werde Schreiber in der Abteilung »Lazarettzüge« und fahre zur Kur in den Kaukasus.

Der Doktor soll einen Tag vor mir fahren – damit nicht einer durch Unvorsichtigkeit des anderen hereinfällt – und mich im nördlichen Kaukasus bei deutschen Kolonisten, an die wir Empfehlungen haben, erwarten.

In der fürstlichen Wohnung trinken wir einen Abschiedsschnaps, und Margot mit der Männercourage bringt den Doktor zur Bahn.

Am nächsten Tage borge ich Geld bei einer Schwedin und einem Vetter. Wegen Überfüllung bekomme ich erst für den zweiten Tag durch Bestechung eines Dienstmannes eine Fahrkarte.

Moskau fiebert in Erwartung der kommenden Nationalversammlung, die Russland einig und stark machen soll.

Fräulein Margot verschwindet als kleiner Punkt in der Bahnhofshalle, der Schnellzug rast und trägt mich, neuen Ereignissen entgegen. Durchschnittlich sechsmal am Tage werden die Pässe kontrolliert. Oft genügt den Soldaten das dicke rote Kreuz auf meinem Ausweis.

Vergnügt und völlig sicher unterhalte ich mich mit russischen Offizieren, die in den Türkenkrieg ziehen.

Was lag nicht alles hinter mir, was noch vor mir! Neues Schauen, neues Wissen, Hatz und Qual, vielleicht der Tod hockte hinter einem Schicksal, das seine Schleier nicht lüften wollte. Der rechtlose Flüchtling ist in einer unbekannten Hand, machtlos und doch machtvoll in eisernem Zugreifen, in einem Wollen, das Berge versetzen kann, und der Hindernisse spottend, die andere im behaglichen Zimmer unter der Leselampe erschauern machen – Kettenbrecher, deren Männerstolz in Freiheit verblutet, ehe sie sich beugen.

Eine halbe Welt von Ländern und Völkern mit ihren Einsamkeiten und Farben verblasste, nur das Erinnern, das mit seinen Zeichen ins Hirn gegraben war, pulste, wollte sich den neuen Bildern anfügen, die, sich verdrängend, durch die jagenden Eisenbahnfenster fluteten.

Südrussland, Rostow am Don zogen vorbei! Vom Schwarzen Meer kamen Winde mit Südgeruch. Über einer fruchtbaren Ebene, die die Füsse des Kaukasus in blauer Ferne umklammert, brütet kaukasische Julisonne in dichten Mückenschwärmen.

Seltsame Kleider waren sichtbar am kleinen, mittagmüden Bahnhof: Tscherkessen in langen Gewändern mit hohen Lammfellmützen, am silbernen Gürtel den gefürchteten Dolch, die breite Brust mit Patronen geschmückt, Tataren, Armenier, Kabardiner, Assetiner – ein Völkergemisch und Sprachengewirr, wie es nur der Kaukasus kennt.

Ein hässlicher alter Armenier mit heimtückischem, verschlagenem Gesicht fuhr mich dem blauen Berggeheimnis zu.

Die Sonne schoss goldene Pfeile aus unglaublich blauem Himmel. Aus rauschenden Maisfeldern stiegen Hitzesäulen, staubverhüllt jagten schlanke Reiter. Im Süden, noch von den Bergzacken festgehalten, starrte eine schwarze Gewitterfaust, die ungeduldig mit Wolkenfingern zuckte. Langausgestreckt auf den holpernden Wagen, genoss ich dieses Bild und sog es in mich ein, wie ich die Steppenbilder der Mongolei, Einsamkeiten schneeverhüllter sibirischer Urwälder in mir trage.

Der Kutscher, der in diesem Teppich des Kaukasus aufgewachsen war und sich nie in die unheimlichen Berge getraut hatte, kramte Märchen aus seinem alten Kopf, von Menschen, die sich mit Felsblöcken bekämpften. Eine sonderbare Mischung von Wahrheit und Dichtung flüsterte er in die heisse Luft – vom Krieger aller Krieger: dem Tschetschenen Schamil, der fünfundzwanzig Jahre den Russen getrotzt, bis sie ihn mit Kanonen aus seinen Felsennestern räucherten.

Tausendundeine Nacht reichen nicht für die Märchen, die der Kaukasus birgt.

Die Felder sehen gepflegter aus, neben den minder holprigen Wegen stehen Weinberge. Wir nähern uns der deutschen Kolonie, die mit roten Dächern und weissen Wänden durch sommerverschlafene Baumkronen leuchtet. Schnurgerade die Dorfstrasse, abgezirkelte kleine Ziergärten vor den Häusern, deren blanke Scheiben deutsches Wesen künden. Sonntagsruhe lastet fast beängstigend über der ausgestorbenen Dorfstrasse. Ein kleiner, blauäugiger Blondkopf führt mich zu dem empfohlenen Kolonisten.

Aus breit geöffneten Stalltüren kommt zorniges Muhen fliegengeplagter Kühe. Der grosse Hof, die weitläufigen Steingebäude mit grünen Fensterläden sind so sauber, so deutsch. Das Herz wird weit, und man vergisst Russland mit all dem Schmutz, den geduckten kleinen Holzbuden.

Mit etwas Angst, die sich aber bald legt, werde ich aufgenommen. Die Leute haben eine biedere Herzlichkeit und sind bis in die Knochen deutsch in ihrer Gesinnung, obgleich Deutschland ihnen nur in schwacher Erinnerung ist aus Besuchen in Kindertagen. Bauernwohlstand, wie ihn zähe Arbeit schafft, blüht hier. Die Russen fürchtend, halten sie gute Nachbarschaft mit den wilden Bergstämmen, bei denen sie geachtet und beliebt sind.

Bei Streuselkuchen und Kaffee bringt mein Wirt eine im Ofen versteckte Gipsfigur von Bismarck zum Vorschein. Sinnend betrachtet er den Kopf und klagt, dass er bald wieder in den Türkenkrieg muss.

Der Doktor befindet sich seit zwei Tagen in der Nähe eines Vorwerkes an der Grenze des Inguschenreichs. Dort haust, von deutscher Bauernkultur beleckt, ein früher berüchtigter Bergbandit, der als Spross einer angesehenen Familie räuberische Einfälle in das Stück deutschen Landes verhütet. Die Bauern geben ihm seit zehn Jahren Haus, Stallungen, Land und Vieh, wofür er zusammen mit dreitausend Mark jährlichem Bargeld Raubzüge der Inguschen fernhält. Dieser Wächter macht sich gut bezahlt. Früher, als die Kolonisten sich dieser Art von Tribut nicht unterwarfen, hatten sie öfter in Flur und Dorf nächtliche Besuche der Horden.

In frischer, kühler Morgenfrühe trinken wir im Vorwerk Kaffee. Gegen Mittag rolle ich im Herrschaftswagen durch raunende Maisfelder. Eine Dreschmaschine brummt vor dem Hause des Wächters. Der Doktor geht nachdenklich im Schatten einer riesigen Kastanie auf und ab. Als der Wagen durch das Tor rollt, kommt er freudig auf mich zu. Er hat Sorgen in den Augen und weist über Maisfelder auf einen nahen Höhenrücken, hinter dem das unbekannte Land beginnt.

Wir stehen an der Grenze des Inguschenreiches, die seit Monaten kein Russenfuss mehr zu überschreiten wagt.


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