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Ich lerne Russisch, wirklich, es geht, langsam, ganz langsam. Der Wortschatz wächst, der Satzbau wird verständlich. Ich konjugiere, dekliniere – alles aus der schlechtesten Grammatik, die wohl je verfasst worden ist. Tagelang, wochenlang büffle ich mit zugehaltenen Ohren, um nicht von den fünf anderen Zimmerherren gestört zu werden. Stundenlang schneide ich Aufsätze und Berichte aus russischen Zeitungen aus, klebe sie in ein Heft, ziehe die Vokabeln heraus und ärgere mich am nächsten Tage, wenn ich die Hälfte, oft alle vergessen habe. Mein Gedächtnis hat beim Absturz gelitten. Es ist ein mühsames Ringen mit Worten, Vokabeln, die ein Deutscher selten richtig aussprechen lernt. Mir hilft die Erinnerung der Kindertage, in denen ich Russisch gehört habe. Der Klang ist noch da. Irgendwo sitzt er im Gehirn und lässt sich langsam hervorlocken. Ich verfalle auf eine neue Methode, stehe stundenlang auf dem Hof bei einem Posten und führe tiefsinnige Gespräche. Oft sitze ich ein paar Schritte von ihm, weil er nicht mit uns sprechen darf – und schwatze. Dann treibe ich russische Geographie mit schlechten Karten. Ich bin bald in ganz Russland zu Hause. Mit der Bahn kann ich auf allen Linien im Schlaf fahren und umsteigen.
Ostern nähert sich, der Schnee schmilzt, steht noch einige Tage im nassen, knöcheltiefen Schlamm herum und plätschert in tiefen Bächen dem Fluss zu. Über Nacht wird er grün und warm, man kann das Grün wachsen sehen. Der Frühling in Sibirien dauert nur die Tauperiode. Eigentlich gibt es keinen Frühling, der Sommer springt aus einer lauen Nacht, und gleich fängt alles zu kochen an. Der Lagerkommandant – ein liebenswürdiger, freundlicher Mensch – bringt eines Tages die Nachricht, dass von jetzt ab fünf Herren in die evangelische Kirche gehen dürfen. Ich setze viel Hoffnung auf die Kirche, kann dort Balten treffen, kurz, vielleicht lässt sich etwas einfädeln.
In der kleinen Kirche ist es wie in Deutschland. Wir sind andächtig, wirklich andächtig, denn es wird deutsch gesungen, deutsch gepredigt, die russischen Wachleute stehen hinten und stören nicht. Zu sprechen wagen wir mit niemand, weil anzunehmen ist, dass ein Polizeispitzel den Gottesdienst überwacht.
Auf dem Chor singt eine helle Stimme. Ein Kamerad gibt mir einen Rippenstoss und weist mit dem Kopf nach hinten. Ich schaue hinauf. Eine Dame neigt leicht den Kopf, kaum merklich. Ich sehe noch mehrere Male hinauf. Immer wieder das unmerkliche Nicken, eigentlich nur ein Gruss mit den Augen. Aha – denke ich – die Anknüpfung.
Beim Hinausgehen steht die Dame am Ausgang. Im Vorbeigehen sage ich zu einem Kameraden: »Ich bin Balte, sind wir Landsleute?« Ein Nicken, ein leises »Ja!« ist die Antwort.
Die nächste Woche schleicht unendlich langsam, lässt sich mit allen Vokabeln nicht totbüffeln. Am Sonnabend schreibe ich einen Brief an die Landsmännin, mit der Bitte, beigefügten Brief abzusenden und sich bei den angegebenen Adressen nach meinem Vater zu erkundigen, der, wenn er nicht aus Dorpat verschickt ist, mir am besten helfen könnte. Der Sonntag kommt, und diesmal sitzen wir dicht beieinander. Ich spreche nicht, zeige nur meinen Brief. Sie nickt. Beim Hinausgehen kommt es darauf an, schnell und unbemerkt den Brief in ihre Hand zu spielen. Schnelligkeit ist alles. Wieder steht sie in der Tür, einen grossen Muff in der Hand. Blitzschnell will ich den Brief in den Muff schieben, da – – meine Hand bleibt in der Luft stehen. Sie hat den Muff zurückgezogen. Bin ich unvorsichtig gewesen? Wir müssen vorüber.
Am nächsten Sonntag werde ich den Brief los. Der Muff hält still. Den folgenden Gottesdienst überspringe ich, um nicht aufzufallen. Es kann ja auch noch keine Antwort da sein. Die Herren ahnen nicht, was ich in der Kirche angesponnen habe, nur einen weihe ich ein, den kleinen Dragoner »Kümmel«.
Das nächstemal gehen meine unbekannte Freundin und ich zusammen die Treppe hinunter. Ich halte meine Pelzmütze in der Hand, damit sie den Brief, der in ihren Fingern schimmert, hineinwirft. Sie tut es nicht – wir stehen zu frei –, sagt aber rasch: »Ihr Vater geflohen, augenblicklich in Japan«. Menschen schieben sich zwischen uns.
Vater geflohen, in Japan! Das ist die erste Nachricht von ihm seit Kriegsausbruch.
Ostersonntag ist da, ein schönes, sonniges Ostern mit Kätzchen und Grün. Ich habe mich nicht verrechnet, die Kirche ist gesteckt voll, die Menschen stehen bis auf die Strasse. Eine Aufsicht ist nicht möglich, ausserdem habe ich einen Zivilmantel an, der mit hochgeschlagenem Kragen die Uniform verdeckt. Platz suchend dränge ich mich durch die Menge dem Ausgang zu, komme unbemerkt an den Posten in der Tür vorbei. Ein paar Sätze, und ich bin oben auf dem Chor. Auch hier dicht gedrängt Menschen. Am Harmonium steht die Dame mit einer anderen, anscheinend ihre Schwester. Hier oben ist kein Militär, nur Zivil, meist Frauen. Heute muss ich viel schaffen. Meine Landsmännin reicht mir ein Gesangbuch, ich schlage es auf und finde einen Brief, den ich in den Ärmel rutschen lasse und später in die Tasche. Wir singen, singen ganz laut. Frage und Antwort singen wir uns zu. Im Choral huscht das Schicksal meines Vaters vorbei. Es ist Geld angekommen, das die Damen vorläufig aufheben. Meine Verwandten sind sehr vorsichtig, sie haben anscheinend nicht verstanden, was ich in meinem Brief mit den Beschreibungen und versteckten Anspielungen sagen will.
Das Lied ist aus. Ich klappe das Gesangbuch zu. In ihm liegt ein ausführlicher Brief über meine Fluchtpläne, mit Fragen über Pässe, Bahnen und anderes.
Während des nächsten Chorals unterhalten wir uns schon dreister. Plötzlich zittert das Buch. Ich schaue auf. Meine Landsmännin ist etwas bleich. Über ihre Schulter beugt sich ein russischer Offizier. Ich spüre die Stille meines Herzens, das ausgesetzt hat. Ein krampfhaftes Beherrschen, dann singe ich ruhig weiter. Der Offizier hat nichts gemerkt.
Zu Hause lese ich den Brief. In ihm steht viel von Vorsicht – noch wissen sie ja gar nicht, dass ich fliehen will –, und dass vom nächsten Sonntag an bis zum Herbst die Kirche geschlossen ist. Verdammt, ich halte, ja erst einige Fäden in der Hand, die Hauptsache soll erst losgehen! Die Fäden werden doch nicht jetzt abreissen, jetzt, wo die Sache in Gang kommt?
Einmal kann ich noch handeln, die Russen wissen anscheinend nichts von der Unterbrechung des Gottesdienstes. Am Sonntag überrede ich den Wachthabenden, mich und noch einen Herrn in den Gottesdienst zu lassen.
Vor der geschlossenen Kirchentür erklären die Soldaten, dass wir umkehren müssen. Ich rüttle an der Tür und lasse einen Handschuh fallen. Beim Aufheben lege ich einen kleingefalteten Brief in grauem Papier auf die oberste Stufe, daneben ein Fünfkopekenstück. Das Papier hebt sich kaum vom dem grauen Sandstein ab. Nur wer weiss, dass da ein Brief liegt, kann ihn finden oder der Zufall. Mit Zufällen muss man rechnen. Der Brief hat weder Adresse noch Unterschrift, das Geldstück hat seinen besonderen Zweck. Es ist mir aufgefallen, dass fromme Leute Almosen vor die Kirchentür legen. Warum ich nicht? Ein anderes Geldstück lag schon da. So, nun gilt es, die Posten hinzuhalten, bis eine der Damen kommt. Ich habe das sichere Gefühl, dass jemand kommen wird.
Ich sage der Wache, dass wir zu früh gekommen sind und ich im Pastorenhaus anfragen will, wann der Gottesdienst beginnt. Die Kerle gehen auf meinen Vorschlag ein. Während wir um den Kirchgarten biegen, kommt uns eine der Damen entgegen, mit zwei Kindern. Die Kinder sind eine gute Deckung. Famos, heute habe ich Dusel.
Die Posten sind wie vernagelt, mit Blindheit geschlagen. Sie bleiben ruhig an der Gartenpforte steifen und lassen mich allein. Ich gehe um das Haus, dem Kücheneingang zu. Hier treffe ich ein Dienstmädchen. Ehe ich noch den Mund öffne, sagt sie. »Gottchen, Herr Volck, wo kommen Sie her?« W-was? Äfft mich ein Spuk? Mitten in Sibirien nennt mich ein Dienstmädchen beim Namen. Ich muss ein sehr dummes Gesicht gemacht haben. Sie lacht. – »Zum Teufel, kennen Sie mich denn?« »Natürlich«, sagt sie. »ich war doch Kindermädchen bei Ihnen in Dorpat, ich bin doch die Mila«. Donnerwetter, hat die ein Gedächtnis! Langsam kommt mir eine blasse Erinnerung. Richtig, ich hatte ja mal eine Estin als Kindermädchen. Die Mila – natürlich. Damals war ich acht Jahre alt.
Dann erzählt sie, wie es in Dorpat aussieht, der alten Heimat. Sie ist lange nicht dagewesen, fährt aber übermorgen hin, hat schon Pass und Billet. Famos, famos – schnurriger Tag heute. Ich trage ihr an verschiedene Adressen Grüsse auf. »Man soll alles tun, was ich schreibe, verstanden?« »Gut, gut, Herr Volck, werde alles ausrichten. Wie gross Sie geworden sind und deutscher Offizier«. »Jawohl, und Flieger«. »Hu«, sagt sie und sieht mich gross an. So plaudernd steigen wir die Treppe hinauf in die Küche.
Plötzlich geht meine Landsmännin hastig an mir vorbei, drückt mir ein Päckchen in die Hand und steigt die Treppe hinunter. Ich kann ihr gerade noch zurufen. »Auf der obersten Kirchentürstufe liegt ein Brief in grauem Papier«. Dann ist sie fort mit den. Kindern, die sie ängstlich hinter sich herzieht. Wie weggewischt. Wie ist sie nur hierhergekommen? Wahrscheinlich durch den Haupteingang und durch die Küche heraus, um mich hier zu treffen.
Inzwischen kommt ein Dienstmädchen, das ich frage, ob der Herr Pastor zu sprechen ist. Nach einigen Augenblicken ist sie wieder da: »Der Herr Pastor lassen bitten«.
Ich stehe einem älteren Herrn gegenüber, stelle mich vor. »Wie, bitte«, fragt er, »Volck?« »Jawohl, Volck aus Dorpat«. Statt einer Antwort fasst er mich unter dem Arm, führt mich in sein Arbeitszimmer vor eine Photographie. »Ist das Ihr Grossvater Professor Volck.« Ich starre das Bild an. Grossvaters Bild hier in Sibirien? Es gehen Gespenster um am hellen Tage, erst die Mila, jetzt Grossvater! Wir setzen uns. Der Pastor ist ein Schüler meines Grossvaters.
Ich sage nichts von meinen Plänen, das hat Zeit für später, erkundige mich nur, »wann der Gottesdienst im Herbst wieder beginnt, und gehe.
Die Wachleute trollen mit uns nach Hause. Von weitem sehe ich die Dame, die meinen grauen Brief fallen lässt. Sie hat ihn also, gut. Das war mal ein Glückstag! Wie im Marionettentheater sind wir vom Schicksal hin- und hergeschoben worden, damit alles klappte. Bestellt hätte es nicht besser gehen können.
Im Brief ist Geld von meinen Verwandten, mehrere hundert Rubel. Die Damen wollen jeden Sonntag um zehn Uhr einen Spaziergang um die Kirche herum machen, eine Stunde lang, bis ich komme. Ausserdem werden sie jeden zweiten Tag zwischen ein und drei Uhr mit den Kindern an unserm Hause vorübergehen. Vielleicht ist eine Verständigung möglich?
Das wird schwer gehen. Die Fenster nach der Strasse dürfen nicht geöffnet werden, am Hoftor zu stehen, ist verboten. Nach langem Grübeln kommt mir eine Idee: Wenn wir nicht sprechen können, können die Damen doch lesen. Das ist zwar einseitig, aber immerhin besser als nichts. Umsonst sollen sie nicht den weiten Weg machen.
Ich richte einen Meldedienst ein. Der Herr, der am letzten Fenster im grossen Zimmer wohnt, kann die Strasse nach der Stadt zu übersehen, ein anderer, am ersten der vier Fenster« übersieht einen Teil des Weges nach dem Walde. Wir legen noch Handspiegel in die Fenster und vergrössern so das Gesichtsfeld.
Einige Male ist blinder Alarm, weil ein Herr die Damen nicht kennt Eines Tages kommt. »Barbarossa« angestürzt. Die Damen sind eben vorbeigegangen. Ich stelle mich ans erste Fenster. Die Damen erscheinen im Spiegel, und nun drücke ich einen grossen weissen Bogen an die Scheiben. Ob sie die riesigen schwarzen Buchstaben lesen können. »Sonntag Kirche, Geld Dorpat«. Sie gehen langsam vorbei, nicken und lachen.
Am Sonntag gelingt es mir wieder, einen Posten vor die verschlossene Kirchentür zu schleppen. Unscheinbar, nur für mich erkennbar, grau wie ein Stein, liegt da ein Brief auf der obersten Stufe, den ich mit einem anderen vertausche.
So geht es noch einige Sonntage, das Spiel mit den Kirchenstufen und das am Fenster. Immer mehr Fäden bekomme ich in die Hand, das allgemeine Bild einer Flucht nimmt schärfere Umrisse an. Geld von meinen Verwandten läuft bei den Damen ein. Wir bekommen eine andere Wache. Der Unteroffizier ist anständig und erlaubt uns bei dem schönen Wetter, vor dem Hoftor zu stehen. Wenn die Damen langsam vorbeigehen, erzähle ich einem Kameraden laut, was ich mitteilen möchte. Die Damen sprechen natürlich nicht: Russisch versteht der Posten, und Deutsch würde auffallen. Das nächstemal muss ich unbedingt einen Brief abgeben, mit den letzten Fragen. Aber wie? Den Damen das graue Papier vor die Füsse werfen, wenn der Posten nicht hinsieht? Aber wenn er hinsieht? Teufel, das geht nicht, so viel Vorsicht bin ich meinen Helferinnen schuldig.
Von weitem sehe ich den roten Sonnenschirm um die Ecke biegen. Ich habe noch keinen Ausweg gefunden. Ein Kamerad steht neben mir mit einem unserer kleinen Hunde auf dem Arm. Er will den Brief haben. Ich gebe ihm den Brief und bin sehr neugierig, wie er es machen wird. Mit dem Hund auf dem Arm stellt er sich mitten auf den Bürgersteig, sieht die Damen scharf an und sagt, zu mir gewandt: »Achtung, Brief«. Eine Dame geht auf ihn zu, streichelt den kleinen Hund und sagt auf Russisch. »Was für ein niedlicher Hund.« Im selben Augenblick liegt schon der Brief im Sonnenschirm, der zusammengeklappt einen feinen Briefkasten abgibt. Im Hof übergibt mir der Herr ein Schreiben, das die Dame ihm in die Hand geschoben. Im Briefe ist eine Eisenbahnkarte und wichtige Nachrichten über Grenzbewachung, Passkontrollen auf der Bahn und andere Auskünfte, die ich sonst nie erhalten hätte. Jetzt sind die Vorbereitungen fertig, Geld liegt genügend bei den Damen bereit. Bald kann es losgehen. Es gilt nur noch ein Versteck in der Stadt zu beschaffen, weil ein Verschwinden aus dem Lager zu früh bemerkt würde und der Bahntelegraph oder ein Bahnhofsspitzel mir einen bösen Streich spielen könnte. Die Damen können mich nicht verstecken, es geht beim besten Willen nicht, auch nicht in einem Verschlage unter der Treppe, wo Besen aufbewahrt werden.