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Um zwei Uhr mittags weckten mich Iwans kräftige Fäuste. Vor mir stand ein Verbrechergesicht. Raub, Mord, jahrelanger Kerker hatten, mit hartem Stift ihre Runen um böse Augen gefurcht. Grosse, massige Hände, wie Mörder oder Scharfrichter sie haben, drückten schmerzhaft meine frostgesprungene Hand. Das also war Iwans Freund. Mir war es recht, wenn er nur helfen wollte.
Und er wollte. »Oho, Herr Offizier, Sie kämpfen gegen die zaristische Regierung.« Wild ballte er seine Tatzen, die jahrelang Ketten getragen. »Die russische Polizei gefährliche Gesellschaft. Vorgestern hat der Dorfälteste einen Steckbrief bekommen. Ein deutscher Flieger ist aus X. geflohen. Fünfhundert Rubel Belohnung. Das sind Sie, ich kenne Sie. Gut, dass Sie mich aufsuchen.« Mir war nicht recht wohl zumute. Vorgestern mein Steckbrief hier. Fünfhundert Rubel Belohnung. Hollah, Herbert, nimm dich in acht.
Auf dem grossen Ofen hockten zwei zerlumpte Kerle, Marinedeserteure. Alle schüttelten mir die Hand. Ich war ja steckbrieflich verfolgt, Verbrecher wie sie. Verbrecher untereinander sind Kavaliere.
Der Besitzer dieser Räuberhöhle, die zwei Kilometer vom Dorf entfernt lag, schickte seinen Sohn mit einem Schlitten, um Plouhar zu holen. Dann bekam ich Tee, richtigen Tee mit Zucker. Während ich roh eingemachte Pilze ass, musste ich beständig auf den singenden Samowar starren. War es denn wahr? Ein Dach über dem Kopf, zu essen und zu trinken, Menschen, die mit mir fühlten, mir helfen wollten, wenn auch Verbrecher?
Während man ass, besprach Iwan mit wichtigen Gesten den Pferdekauf. Dreihundert Rubel etwa für zwei Pferde und einen Schlitten. Ob ich Angst hätte mitzugehen ins Dorf zum Kauf?
»I wo«, lachte der Kettensträfling, »der Herr deutsche Offizier hat keine Angst, so einer hat keine Angst.«
Angst hatte ich nicht, aber der dumme Verstand überlegte: Hier bleiben und den beiden Kerlen dreihundert Rubel geben, hiess sie zu sehr versuchen. Ein Verbrecher von diesem Schlage konnte viel mit dreihundert Rubeln anfangen, kam einfach nicht wieder. Andererseits: selbst ins Dorf gehen, wo vor zwei Tagen mein Steckbrief Sensation gewesen war – –?
Die Gefahr an der Gurgel packen ist das beste. Ich ging in den Hof, öffnete einen Stiefelabsatz und nahm drei Scheine zu hundert Rubel heraus. Der Kettensträfling steckte einen grossmäuligen, sechsschüssigen amerikanischen Revolver in die Tasche, und wir gingen ins Dorf.
Unterwegs bekam ich meine Instruktionen: alles tun, was sie auch tun, wenig sprechen. Ich wäre der »barin« (Herr), der Gehilfe von dem Telegrapheningenieur, dessen Truppe wir im Walde gesehen. Iwan ein Fuhrknecht. Zwei Pferde wären zusammengebrochen. Weiter nichts. Das andere wäre seine Sache, sagte der Sträfling und klopfte auf den Revolver, dass die Patronen klapperten. Im Dorfladen gossen wir Mut mit Schnaps in die Kehlen. Wie er den siebentägigen Frost scheuchte! Noch einen und noch einen, grosse Zahnputzgläser voll.
Draussen sammelte sich die Dorfjugend und plattete neugierig die Nasen an den gefrorenen Türscheiben.
Der erste Bauer besass nur ein Pferd. Beim zweiten hatten wir einen Knäuel von neugierigen Halbwüchslingen und Kindern um uns.
So ging es zum dritten und vierten Bauern, während sich allmählich das ganze Dorf versammelte zu dem grossen Kauf, des Herrn Ingenieurs. Mädchen stiessen sich heimlich an und kicherten über den städtischen Herrn, der sehr vornehm tat.
Im fünften Haus mussten wir lange auf den Bauer warten. Während Iwan sich auf der Ofenbank mit einem hübschen Kinde anfreundete, wiegte ich ein schreiendes Baby, das in einer Art Bäckermulde von der Decke hing.
Überall gab man uns Tee und Schnaps. Der Alkohol und die Wärme in den überheizten Stuben hatten mir meine alte Frechheit wiedergegeben.
Die Bauern redeten viel vom Kriege. Plötzlich ging das Thema auf Kriegsgefangene über. Angenehm!
Ich hörte mit Unbehagen zu. »Warum die Kriegsgefangenen nur fliehen, wo sie es doch so gut haben?«
Immer hitziger wurden die Bauern mit dummer Bosheit in den Augen. Sie sprachen von vier österreichischen Offizieren, die im Sommer aus Irkutsk geflohen waren. Als sie hier ein Boot nahmen, um über den Fluss zu setzen, hatten die Bauern geschossen. Ein Halbwüchsling erzählte grinsend, wie einer gleich tot war und sie die anderen mit Knüppeln erschlugen.
Ich hatte das Gefühl, dass ich bleich wurde. Iwan versuchte ein anderes Thema anzuschlagen. Vergebens, die Kerle hatten sich festgeredet, zerrissen ihre Schnapsmäuler darüber, was sie machen würden, wenn sie wieder einen erwischten.
Langsam wich mir alles Blut zum Herzen. Wenn sich jetzt jemand des Steckbriefes erinnerte, mich erkannte? Dann zerflog ich in blutige Fetzen, ein Arm hier, ein Bein da, dreckige Bauernstiefel zerstampften meinen Kopf.
Nahe war ich daran, den Bestien zuzuschreien: »Ich bin so einer, rasch, zerreisst mich!«
Da kam der Bauer und ging mit uns auf den Hof.
Geschirr wurde verpasst und die Pferde vor einen niedrigen, breiten Schlitten gespannt. Auf der schnurgeraden Dorfstrasse wurden die Pferde in allen Gangarten vorgeführt. Als das Gespann im Galopp vorbeiraste, brüllte die Menge: »Urra!«
Der Kauf hatte seinen Höhepunkt erreicht und sollte von beiden Parteien mit Schnaps begossen werden. Fünf Rubel musste ich geben und fünf der Verkäufer. Alle Männer des Dorfes schöpften mit Tassen, Gläsern und Bechern aus drei mit Schnaps gefüllten Stalleimern.
»Na zdarowje, na zdarowje!« (»Zur Gesundheit!«) Mit allen musste ich anstossen.
Dann gab ich dem Verkäufer die drei Hundertrubelscheine.
Tiefe Stille. »Viel Geld, viel Geld, und so grosse Scheine.«
Der Schlag soll mich treffen. Die Bande bezweifelt die Echtheit der Scheine. Wahrscheinlich hatten sie noch nie Hundertrubel-Banknoten gesehen!!!
Ein Stuhl wurde unter die einzige Hängelampe gerückt. Einer nach dem anderen kletterte auf den Stuhl, hielt die Scheine gegen die Lampe und drehte sie so lange herum, bis er das Bild des Zaren hatte. Die Scheine waren echt:
»Na zdarowje, na zdarowje!«
Meine Gesundheit fing langsam an zu leiden unter dem Schnaps. Alles stand unter gehörigem Alkoholdruck.
Ich winkte Iwan und dem Kettensträfling mit den Augen. Da klopfte mir ein alter Bauer, den ich noch nicht gesehen, auf die Schulter. Er hatte misstrauische kleine Augen und knurrte etwas von Pässen.
Deubel auch. Ich hatte ja einen, aber nicht als Telegrapheningenieur, dem zwei Pferde erfroren waren, sondern als Student.
Der Kettensträfling ging auf den Kerl zu und sagte: »Dorfältester, wenn du die Pässe der Herren sehen willst, musst du mit uns in den Wald fahren, zum Oberingenieur, der alle Pässe aufbewahrt.« (In Russland sind die Pässe der Arbeitnehmer immer beim Arbeitgeber.) Dabei klopfte er verstohlen auf seine Tasche, in der der Revolver stak, und machte mit der Schulter eine Bewegung, als ob er jemand vom Schlitten in den Schnee stiess.
Der Dorfälteste liess nicht locker, wollte absolut die Pässe sehen.
»Gut«, sagte Iwan, »ehe wir fahren, wollen wir noch einen trinken.«
Und wir tranken, tranken sinnlos aus den Stalleimern, bis der Dorfälteste unter den Tisch sank.
Der Sträfling gab ihm einen Stoss, dass er zwischen die leeren Schnapseimer kollerte.
Das Zimmer drehte sich, die Lampe tanzte – noch lange, als ich schon mit schmerzendem Kopf und starren, schweren Augen auf dem Schlitten lag.
Der Kettensträfling spielte mit dem Revolver, zielte auf etwas und knurrte: »Verdammte Polizei!«