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Unter der Brücke lag Holz, grosse Scheite, die prächtig im Feuer prasselten. Das Eis in den Pelzen taute, dampfte und liess die Sachen los.
Über der Glut hingen unsere Fausthandschuhe, nach denen kleine Flammen hüpften. Es roch nach Armeleutewäsche. Die Handschuhe schwelten und stanken, bekamen grosse, angekohlte Löcher. Da nahmen wir sie weg und hängten den verbogenen Kochtopf hin.
Die Stummelpfeifen dampften, das Schneewasser kochte über und zischte in die Stille, dass wir erschraken. Plouhar hielt seine roten, rissigen Hände über das Feuer. Was war aus dem stämmigen Manne geworden? Spitz starrte die Nase aus eingesunkenen Wangen unter einer eckigen Stirn. Seine Augen lagen trübe und tief, zusammengefallen hing er in seinem Pelz wie ein Kleiderbügel.
Ich horchte in die Stille der Nacht, die wie ein grosser schwarzer Vogel im Schnee hockte und sich nicht rührte. Ängstliche Gemüter fürchten solche Stille. Wir liebten sie und zerrissen sie nicht mit unnützen Worten.
Im Walde war ein neues Rauschen, anders als Baumrauschen. Wahrscheinlich kam es vom nahen Baikalsee, der über den schneestarrenden Bergen lag.
Das Feuer wurde kleiner, seine Lichter krochen nicht mehr so weit durch die dunklen Brückenlöcher in den Schnee.
Über die Brücke trapste etwas, nochmals, trab, trab, hin und her. Am Rande des Lichtschattens stand ein grosser Wolf, starrte regungslos. In seinen grünen Augen war Verwunderung und Gier. Plötzlich setzte er mit langem, lautlosem Sprung in die Dunkelheit. An seiner Stelle stand ein Mann. Gebückt schaute er unter die Brücke. Wir regten uns nicht, fassten an die Dolche und wussten jeder, was wir dachten: Wenn nötig, weg damit, Wolfsfutter!
Minuten verstrichen. Da kam eine rauhe Stimme von dem Mann – klang wie eine im Frost gesprungene Glocke: »Kann man sich ans Feuer setzen?«
Ich bejahte und fasste den Dolch fester.
Zwei müde, hungrige Augen rollten hin und her zwischen dem Kochtopf und uns. Durch eine zerlöcherte Hose blickten rotgefrorene Knie. Alles an dem Mann war rotgefroren mit Frostbeulen: die handschuhlosen Hände, das ungeschützte Gesicht unter einer elenden, zu kleinen Pelzmütze. Die Wärme wich wieder aus mir beim Anblick dieses frierenden Menschen.
Wo kam er her, wo ging er hin, bei dreissig Grad Kälte und knietiefem Schnee in wolfsgefährlichen Nächten?
Er war so regungslos gefroren, dass er erst nach einem Becher heissen Tees den Mund öffnete. Was seine rostige Stimme knarrte, fiel wie ein Blitz vom Himmel und setzte alles in Brand: »Sind Sie nicht Kriegsgefangene?«
Ohne Antwort stand Plouhar auf und stellte sich hinter den Mann. In seinem Gesicht war etwas Mitleid, viel Entschlossenheit. Weiss leuchtete der Dolch in seiner Hand. Gleich musste der Fremde vornüber ins Feuer stürzen, den Dolchgriff im Rücken, da wandte er sich, sah Plouhar und sprang zur Seite. Im selben Augenblick hatte ich ihn fest, zwang ihn ans Feuer.
»Was willst Du mit den Kriegsgefangenen sagen?« drohte Plouhars Stimme.
»Nichts, Herr, ihr seid vielleicht keine, ich bin ein armer Deserteur und werde nichts verraten«. Dann stürzte seine Geschichte über zitternde Lippen –: Wie man ihn weit weggeschickt hatte, zu kämpfen gegen Leute, die ihm nichts getan, wie er sich nicht hatte totschiessen lassen wollen von den Germanskis, die so schreckliche Kriegsmaschinen haben, wie er desertiert ist von seiner Batterie, unter gefangenen Österreichern versteckt bis Irkutsk gefahren. Nun wollte er durch die Mongolei ins Amurgebiet sich verstecken, dort wo er früher Gold gewaschen hatte. Heute hatte er sechzehn Kilometer von hier bei einem entsprungenen Kettensträfling geschlafen. Wir steckten die Dolche ein, gaben ihm Tee und etwas Brot das er gierig und zitternd verschlang.
Lange starrte ich ins Feuer und überlegte. Ein Gedanke bewegte sich: Seine Erzählung hatte den Mann uns ausgeliefert, hier in der verschneiten Wildnis war er ganz in unserer Macht. Aber später – wenn er seine Wege ging? Würde er uns verraten, sich die bekannte Fangprämie für entsprungene Kriegsgefangene verdienen wollen, wenn er davon wusste? Unwahrscheinlich! In dem Zustande würde er sofort selbst festgenommen werden. Seine Erzählung klang glaubwürdig. Halt – sollten wir ihn benutzen? Der erste Mensch, mit dem wir wieder sprachen, musste uns helfen.
»Kannst du Pferde besorgen, Deserteur?«
»Jawohl, Herr, im Dorf, durch den Kettensträfling, sechzehn Werst von hier«. Plouhar sagte: »Aha«. Ich hielt fast den Atem an bei diesem Gedanken.
Der Deserteur taute mehr und mehr auf, lutschte mit Wohlbehagen an meiner Pfeife und erzählte unbeholfen von seiner Flucht. Wir waren ja in derselben Lage, flohen alle vor der russischen Regierung.
»Du, hör mal«, sagte ich, »wir sind entflohene Kriegsgefangene, deutsche Offiziere, wollen nach China. Wenn du zwei Pferde und einen Schlitten verschaffst, kannst du den Kutscher machen. Wir gehen zusammen bis Peking. Dort gebe ich dir fünfhundert Rubel und dann bist du frei.«
Er überlegte nicht lange und sagte: »O Herr, ich werde Pferde finden und Sie fahren.«
Ich nahm ihm einen grossen Schwur ab. Er war ganz andächtig, schwur und schlug ein Kreuz. Dann machte eine Friedenspfeife die Runde, und ich gab Iwan einen Baschlik, Handschuhe, Kniewärmer und eine Unterjacke. Er hatte ein weihnachtliches, glückliches Gesicht, als er die warmen Sachen anzog, und spazierte mit hungrigen Augen über unseren mongolischen Proviant. Was dieser Mann gedarbt und gelitten hatte! Eine Pferdenatur.
Während wir zum Aufbruch rüsteten, stampfte etwas durch den Schnee, eine Schlittenkufe knirschte auf der Brücke.
Mir kam ein furchtbares Misstrauen, das alles Blut ins Gehirn jagte. Sollte Iwan Komödie gespielt haben, er nur einer von mehreren sein, die unsere Spur verfolgten?
Da beugte sich ein Schatten über das Brückengeländer und rief: »Eh, was macht ihr da unten?« Iwan sprang in das Brückenloch, als wollte er es sperren und sagte: »Ich trinke Tee mit meinen Kameraden.«
Iwan war echt. Von diesem Augenblick an hatte ich kein Misstrauen mehr gegen ihn.
Die Schlittenkufen knirschten weiter durch den Schnee. Mit den Füssen stiessen wir die verglimmenden Scheite auseinander und vergruben das Gepäck im Schnee in der Nähe eines Telegraphenpfahls, dessen Nummer wir uns merkten.
Iwan war ein Schnelläufer. Ich konnte kaum mit. Plouhar blieb weit hinten und schleppte sich kaum vorwärts, sein Gesicht war aschfahl und hatte tiefe Schatten. Er schwankte und redete halblaut vor sich hin. Nach einer Stunde war Plouhar zusammengebrochen.
Iwan machte ein grosses Feuer. Kreuzweise legte er das Holz, zündete, blies hinein, und eine Flamme schlug auf, wie wir sie nie zustande gebracht. Dann machte er noch ein Feuer. In der Mitte mussten wir uns hinlegen, Ich sah noch, wie Iwan hin- und herhuschte und Holz sammelte. Eine wohlige Wärme wickelte mich ein, löste die schmerzenden Glieder und drückte die Augen zu.
Ich träumte, dass meine Füsse in einem Feuer lägen und langsam verbrannten. Ein brennender Schmerz riss mich auf. In beiden Stiefeln waren grosse Brandlöcher.
Nochmals schwankte Plouhar einige Kilometer, setzte sich in den Schnee und sagte jämmerlich, dass er nicht mehr weiter könne. Ich wurde wütend, jetzt, wo bald Pferde dasein würden, und fuhr Plouhar barsch an. Mit Hass in den Augen wie am Tage vorher stolperte Plouhar in den Wald verschwand hinter den dunklen Bäumen.
Das ist ja heller Wahnsinn, er kommt einfach um.
Seiner Spur folgend, fanden wir ihn tief im Walde. Er lag im Schnee, starrte mit kranken Augen und antwortete nicht.
»Plouhar!« Keine Antwort.
Seine Augen waren nur noch halb lebendig. Ich schüttelte ihn und schrie. Da sagte er mit einer Stimme, aus der das letzte Leben fliehen wollte: »Lassen Sie mich hier liegen und kommen Sie gut durch!«
»Unsinn, reissen Sie sich doch zusammen!«
Plouhar kicherte ein irres, schrilles Lachen, das mir kalt durch die Glieder fuhr.
Wahnsinn? dachte ich.
Iwan machte ein dummes Gesicht, und dann sagte er etwas gar nicht so Dummes: »Machen wir ihm ein grosses Wolfsfeuer und holen wir ihn morgen im Schlitten ab.«
Als das Feuer brannte und genügend Reisig zum Nachlegen gesammelt war, liessen wir Plouhar allein.
Ob ich ihn wiedersehe? Halb ohnmächtig, mit dem einen Gedanken: Durchhalten, durchhalten! stolperte ich hinter Iwan her, der ein Höllentempo ging. Fast vierzig Kilometer war ich heute durch tiefen Schnee gewatet, bergauf, bergab.
Meine Kraft wich langsam, fühlbar, vor den Augen tanzten schwarze Ringe, das Herz hämmerte schmerzhaft an den Rippen. Im Kopf lag schwer und hart wie Eisen mein Wille: Vorwärts!
Iwan stand im Schnee mit weit aufgerissenen Augen, aus denen die Angst sprang. O Gott, nur nicht stehenbleiben. Eine Minute stehen. Meine Beine wurden steif und gingen nicht mehr.
Ein Riesenexemplar von Wolf stand mitten im Wege und blickte böse. Wir pfiffen auf den Fingern, schrien, warfen brennende Streichhölzer – vergebens. Er stand und rührte sich nicht. Mit einemmal hatte ich alle Kraft wieder, wickelte meinen Baschlik um den linken Arm, nahm den Dolch und ging auf die Bestie zu. Da sprang sie zur Seite, lief zurück und blieb uns mehrere Kilometer an den Fersen.
Ich hatte jede Zeitrechnung verloren. Es mochte drei Uhr morgens sein. Vor uns im Walde brannten vier grosse Feuer, zwischen denen Menschen lagen. Der Schatten einer Feuerwache bewegte sich. Iwan sagte, dass es Telegraphenarbeiter wären, die eine Strecke abwickelten. In hüfttiefem Schnee machten wir einen grossen Bogen um die Feuer, selbst Iwan schien erschöpft und ging langsam. Wenn ich ihn fragte, wie weit es noch wäre, antwortete er stets: »Drei Werst«. Entsetzlich, je länger wir gingen, desto mehr Werst wurden es.
Endlich tauchte ein Häuschen in der Nacht auf. Es stand einsam am Wege und glühte mit einem Fenster in den Wald.
Iwan machte eine Tür auf. In stinkendem Qualm, unter einer blakenden Lampe mit schwarzrissigem Zylinder stand ein uraltes Weib, im Unterrock, mit offenen, schmutzfettigen Haaren, eine brennende Zigarette in den Lippen. Hinter ihr wälzte sich von einem Schaffellager ein zweites altes Weib, das mit zahnlosem Munde grinste. Einen Augenblick stand dies Bild vor meinen vor Müdigkeit halb blinden Augen. Dann sank ich auf die schmutzigen Felle, wie von einer Riesenfaust niedergestreckt und schlief einen bewusstlosen Totenschlaf.