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Zwanzig Tage nach Sibirien

Ende Januar ist unser stilles Lager in grosser Aufregung. Kleine Auswandererkoffer, wie man sie bei galizischen Juden und Sachsengängern sieht, werden gepackt, Pakete geschnürt, Matratzen und Decken gerollt. Das Flüsterzimmer ist der reine Gepäckraum, man fällt in offene Wäschekörbe, stolpert über Geschirr und Teekessel, auseinandergenommene Holzbetten und Schemel. Gott sei Dank besitze ich nicht viel, kein Bett, keinen Stuhl, kein Geschirr. Nur einen ausgeleerten Strohsack, zwei Hemden und Unterhosen, die mir die deutschen Damen in der Stadt genäht haben. Während die anderen packen, aufgeregt durcheinanderwirbeln und -schreien, sitze ich am Fenster nach dem Marktplatz und freue mich meines geringen Besitzes.

Wohin es geht, weiss kein Mensch. Eins aber wissen wir: nach Sibirien. Sibirien ist gross, ist unbekannt, eine grosse, öde Fläche, auf der wenige Dörfer und Städte ausgestreut sind, und in diesen Städten wohnt angeblich die verbannte russische Intelligenz. Eine einzige Bahn müht sich, in vierzehn Tagen Asien zu durchqueren, bis nach Wladiwostok, wo die kleinen gelben Japsen anfangen. Auf dieser Bahn sollen wir fahren, immerzu fahren, bis der Zug irgendwo hält; so ohne Ziel losgondeln, famos. Da gibt es sicher Überraschungen und Enttäuschungen, das haben wir von der Langeweile des Lagerlebens Ausgehöhlten gerade nötig.

Am Abend ist alles gepackt, wohlverschnürt für die weite Reise ins Ungewisse. Auf den Koffern sitzend, stellen wir Berechnungen an mit X-Unbekannten. Die Optimisten haben schon einen Waggon zweiter Klasse, verteilen die Betten: der oben, der unten. Die Burschen schleppen einen grossen Korb herein mit Reiseproviant für vierzehn Tage. Den haben uns die Damen der deutschen Zivilgefangenen geschickt. Tagelang haben sie gekocht, gebraten, gebacken, wollen hier ein Letztes tun für die deutschen Kämpfer, da sie es zu Hause nicht können. Wir kennen diese mütterlichen Freundinnen nicht, die uns im fremden Lande unser Gefangenendasein mit so vielem erhellt haben. Nur eine haben wir gesehen, konnten ihr durch die vereisten Scheiben einen Dank zunicken, wenn sie am Karussell vorbeiging und verstohlen heraufsah. Neben ihr trippelten zwei kleine Mädchen durch den Schnee, die rasch knicksten und mit den Patschhänden Grüsse winkten.

Es ist ganz dunkel, die Lampen liegen verpackt in den Körben. Wie Bienensummen schwirren unsere Stimmen im dunklen Zimmer. Morgen soll es losgehen. Der lange Dragoner kommt ganz aufgeregt hereingestürzt. Von der Kommandantur ist die Nachricht eingelaufen, dass wir morgen nicht fahren, ganz unbestimmt wann, ungewiss, ob überhaupt.

Unter Fluchen und Schimpfen werden die Koffer geöffnet, die Betten zusammengeschlagen. Geschirr geht kaputt. Noch zweimal ist dasselbe Theater: Einpacken, auspacken und wieder einpacken. Die Damen schicken wieder Reiseproviant. Eines Abends sitzt wieder alles auf gepackten Koffern, zum drittenmal. Da erscheint der »woinski natschalnik«, der Ortskommandant, und verteilt Reisegelder, anderthalb Rubel täglich für jeden Herrn auf zwei Wochen. Es scheint wirklich Ernst zu werden. Der lange Dragoner, der unser Dolmetscher ist, begleitet den »woinski natschalnik« bis zur Treppe, dann kommt er wieder und macht ein geheimnisvolles Gesicht. Einige Minuten schweigt er und grinst vor sich hin. So macht er es immer, wenn er Neuigkeiten hat, und kann sich's leisten, wirklich: er hat immer als erster die Neuigkeiten, nur stimmen sie meistens nicht. Wir platzen vor Spannung, wollen wir doch jeder von hier aus unsere neue Adresse nach Hause schreiben. Endlich bequemt sich der Lange: »Wir fahren nach X.«

Jetzt geht es los. Jeder weiss genau, wo X. liegt. Die Optimisten malen in grellen Farben, die Pessimisten schweigen verächtlich und möchten doch gerne an Gutes glauben.

Um sechs Uhr früh stehen wir im Schnee, in Pelze und Tücher eingewickelt. Vor dem Hause halten zehn Bauernschlitten mit kleinen Pferden. Vier Herren haben einen Schlitten. Gepäck wird verladen, die Kochtöpfe und Eimer werden auf alle Schlitten verteilt, und dann geht es los. Am letzten Hause vor der Stadt stehen unsere Freunde, um uns einen Abschiedsgruss zuzurufen. Dann nimmt uns der Wald auf, durch den wir bis zum Abend marschieren oder fahren. Vier Tage lang. Dann kommt die Bahn. Nach Monaten sehen wir wieder einen Zug. In einen Wagen dritter Klasse kommt bald Ordnung hinein. Auf den aufgeschlagenen Bänken, in zwei Etagen übereinander, verstauen wir uns. Es ist ganz gemütlich, etwas eng, etwas dunkel. Das dritte Glockenzeichen hallt durch die Winterluft. Wir fahren.

Der lange Dragoner ist Mädchen für alles: Dolmetsch, besorgt Verpflegung, kommandiert die Wache. Die Russen haben Respekt vor seiner Länge, seinen riesigen Händen. Wenn er nervös ist, zwinkert er mit den Augen; dann sind die Wachleute ganz kusch. Jeden Tag steht er um vier Uhr auf, kauft in einer Station »bulki« (Weissbrote) und kriecht wieder auf seine Matratze.

Da ist ein Wachmann, ein guter Kerl. Er schimpft auf alles Russische, lobt alles Deutsche, eine schnurrige Marke. Er will nach Berlin mit mir nach dem Kriege. Wir nennen ihn daher »Berliner«. Wenn man ihn fragt, wie er heisst, sagt er: »Berliner«. Er tut alles, für mich besonders. Ich treibe Russisch mit ihm, es geht schon ganz gut. Der Lange, der eifersüchtig ist auf seine Dolmetscherkünste, verfolgt misstrauisch meine Sprachfortschritte.

Mit dem Zuge rollen die Tage. Plötzlich grosses Geschrei: »Asien, Asien!« Alles drängt aufgeregt an die vereisten Fenster. Als ob etwas zu sehen wäre! Eine Steinpyramide huscht vorbei, und wir sind in Asien. Den Ural, auf den wir sehr neugierig sind, der viele landschaftliche Schönheiten haben soll, passieren wir in der Nacht, Wir sind enttäuscht. Vielleicht waren wir es anders auch. Sibirien! Es liegt etwas im Klang des Wortes von Grenzenlosigkeit, Öde, Kälte – ich weiss nicht was. Jedenfalls ist es nicht das, wie es in Büchern steht, vielleicht ist es ein grosser, verschneiter Kirchhof mit Stationen als Grabsteinen. Aber das ist es auch nicht.

Irgendwo werden wir umquartiert in einen Wagen vierter Klasse. Hier in Sibirien ist alles: irgendwo. Die Entfernungen so gross, die Namen der winzigen, verschneiten Häuser, die sich fröstelnd um eine Zwiebelkirche zu einem Ort drängen, so belanglos, dass »irgendwo« die einzige Bezeichnung ist.

Der Wagen vierter ist klein, schmutzig, hat drei Etagen, Türen, die nicht schliessen, und Öfen, die nicht heizen. Das tut alles nichts, haben wir doch zu essen, sind unter Kameraden, der »Berliner« ist auch da. Mir ist, als hätte ich immer in so einem Wagen gelebt, geschlafen, gegessen, geraucht, etwas belangloses Zeug geredet, sonst nichts, wirklich nichts. Ich glaube, der Mensch ist ganz glücklich, wenn er ganz stumpf ist, ganz leer und wunschlos.

Irgendwo wachsen schwarze Schienenstränge aus dem Schnee, Dutzende. Der Zug hält vor einem grossen Bahnhof. Einige Kilometer vom Bahnhof ist eine grosse Stadt (in Sibirien sind alle Städte einige Kilometer von der Bahn entfernt), das merkt man an den vielen, lächerlich kleinen Schlittendroschken. Wie Spielzeug stehen die winzigen, schwarz lackierten Schachteln im Schnee. Auf dem Bock sitzt regungslos ein Pelzpaket, der Kutscher. Die Nähe der Stadt erweckt unnütze Wünsche, die doch nicht erfüllbar sind. Ganz in Pelze versunkene »barischni« (Fräuleins) sind auf dem Bahnhof; neugierig schauen frostrote Nasen und schnippische Augen aus dem Pelzwerk auf uns.

In einer Baracke sollen wir untersucht werden. Keine Leibesvisitation nach versteckten Revolvern und Geld, nein, diesmal nicht. Man traut uns schreckliche Krankheiten zu, Einschleppung von Seuchen. Bald sitzen wir in der Bahnhofsambulanz, jeder ein Fieberthermometer unterm Arm. Alle schauen neugierig auf das steigende Quecksilber. Es ist niemand krank, aber das Fieberthermometer übt eine allgemeine Suggestion aus, einige Herren fühlen sich, nachdem sie lange das Thermometer angestarrt haben, plötzlich krank, so krank, dass sie in ein Spital wollen. Es wäre auch geradezu schrecklich, in einem Wagen vierter Klasse zu sterben, lieber doch in der Stadt, wo die kleinen, pelzversunkenen »barischni« sind.

Die Russen teilen die Ansicht dieser Herren nicht, schicken uns in unsern Wagen, in den Enttäuschung und Schadenfreude einzieht.

Der grosse Kasten mit den vereisten Fenstern rollt noch einige Tage. Der kurze Aufenthalt in der Stadt hat einige Herren aus ihrem Gefangenenstumpfsinn geweckt. Sie wollen fliehen, aus dem Zuge springen. Wo, wissen sie nicht, wie, auch nicht. Geld ist keins da, irgendwie wird es schon gehen, »biet'scheen«. Ob ich mitmache? »Nein, so ins Blaue hinein, nein, danke«. Ich habe andere Pläne, die vielleicht auch mal reif werden. Ein Herr in Soligalitsch hat Briefe von mir an meine Verwandten in die Ostseeprovinzen befördert. Ich erwarte Geld, Pässe – vielleicht schickt man mir einen Agenten, der mich einfach mitnimmt. Heraus komme ich aus diesem Lande. Es muss gelingen.

Der Zug rollt in X. ein, die Rüttelei im dunklen Kasten, sechzehn Tage lang, hat ein Ende. Wir sind in X., mitten in Sibirien, im Herzen Sibiriens. Jemand sagt, dass der Zeitunterschied von hier und in Berlin sechs Stunden ist. Mich interessiert mehr, wieviel tausend Kilometer ich zurücklaufen muss.

Der Lange tobt um ein paar Miniaturschlitten herum, flucht auf die Kutscher, die unverschämte Preise für Beförderung unseres Gepäcks verlangen. Der »Berliner« ist tieftraurig, weil er nun von den deutschen Herren fort muss.


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