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Beginn der Kerkerzeit

Über einer Kreisstadt lag Wintersonne, die wir tagelang nicht mehr sehen konnten, über dem Anfang eines Verbrecherdaseins voll Schmutz und Ekel. Hinter einem grossen grünen Tisch sass der Kreisrichter, über ihm ein Riesenbild des Zaren, vor dem wir für nicht begangene Verbrechen verantwortlich gemacht werden sollten. Es roch nach staubigen Akten und Tinte. Auf einen knisternden Bogen kratzte ein Schreiber unsere Schandtaten. Ein Pope mit langer, schmutzig-öliger Perücke fluchte den Russengott auf die entmenschten Germanskis herab, die wehrlosen Gefangenen Nasen und Ohren abschnitten. Ich lachte ihm so lange ins Gesicht, bis er seine unsinnigen Reden einstellte. Plouhar stand unsicher, mit gesenktem Kopf, Iwan schaute mit Hundeaugen auf den Zaren, den er um etwas zu bitten schien. Der Richter fragte, ein geriebener, fachmännischer Ausfrager, der, wenn er sonst nichts konnte, die Kunst meisterte, einem die Worte im Munde zu verdrehen.

Ich antwortete langsam, zog die Gedanken vorsichtig wie auf einem Schachbrett. Der Schreiber kreiste mit seiner Feder. Dicke Tintenkleckse glotzten auf unsere festgenagelten Verbrechen.

Unsere abgemachten Aussagen standen schwarz auf weiss, darunter setzte ich meinen neuen Namen: »Hermann Dobel« – und wusste, dass mehrere Monate mehr aus dem Gefängnis schauten, wenn das Lügennetz zerriss.

Der Richter sagte höhnisch: »Das sind alles Lügen, man nimmt an, dass Sie ein deutscher Spion sind, der über China nach Sibirien wollte. Wir kennen die Deutschen. Warum nicht über China nach Russland, um zu spionieren? Wenn diese Annahme nicht stimmt, bleibt noch Pferdediebstahl, wofür Sie vier Jahre in Ketten gelegt werden!«

Das hatte ich wohl bedacht, konnte aber nicht angeben, wo ich die Pferde gekauft, weil man uns zur Feststellung in jenes Dorf gebracht hätte. Wahrscheinlich wären wir dann den Fäusten der rabiaten Bauern nicht lebendig entgangen.

Zwei Schutzleute nahmen uns in die Mitte. Vor einem Blockhaus, das schwarz und fensterlos in der Mittagssonne stand, lagen Haufen menschlichen Unrats. In einem halbdunklen Gang rasselte ein Kobold mit grossen Schlüsseln. Eine Tür knarrte auf und hinter uns zu.

Stickige Luft legte sich um den Hals wie eine schwere Hand. In einer fensterlosen, schwarzen Totengruft qualmte eine kleine Lampe ohne Zylinder. Zehn Landstreicher und Diebe hockten in dem winzigen Raum, husteten und spuckten. So viel Schmutz und Ungeziefer auf zehn Menschenleibern kann man sich nicht vorstellen. In der Zelle war nur ein Ton, kratzende Fingernägel auf von Ungeziefer gequälter Haut. Niemand sprach. Die stinkende Finsternis presste Leben und Gedanken zusammen, dass es nur mühsam schwelte wie die zylinderlose Lampe.

Irgendwo in einer anderen Zelle schrie eine Stimme wund und matt. Manchmal kam ein irres, wehes Lachen. Schwache Frauenfäuste hämmerten an eine Tür, dass der tote Gang hallte: »Um Christus, gebt meinem Kinde zu essen. Meine Brust hat keine Milch.« Stundenlang schauerten diese Worte in unsere Dunkelheit, bis sie zu heiserem, unverständlichem Lallen wurden. Jemand von den Sträflingen sagte: »Es ist eine junge Mutter, die wegen Schnapsverkaufs einen Monat bekommen hat. Ihr vierzehntägiges Kind hat sie mitgenommen. Bald wird das Kind keine Milch mehr brauchen. Die Mutter wird es umbringen und sich selbst totschreien.«

Nach zwei Tagen, als wir die stinkende Hölle verliessen, jammerte die Frau noch schwach nach Brot. Das Kind sollte verhungert sein, aber sie gab den kleinen Leichnam nicht her.

Tage kamen, in denen die Sonne weh tat, auf den Märschen von einem Gefängnis ins andere, nach tagelangem Hocken in stinkender, ungeziefervoller Finsternis. Grelles Licht und dunkelste Dunkelheit wechselten, dass die Augen sich entzündeten und das Gehirn schmerzte. Krasse Gegensätze, die nichts Mildes hatten. Wir fühlten uns elend, masslos elend und stumpf. Die Augen lagen tief im Kopf und sahen nichts mehr. Wir hatten keine Gedanken, keine Wünsche. Selbst nach Waschwasser verlangten wir nicht mehr. Wozu?

Hunger kann furchtbar quälen. Man gab uns nur heisses Teewasser in schmierigen Eimern und elf Kopeken täglich Arrestantenverpflegung. Ein Pfund Brot kostete vierzehn Kopeken, so dass wir täglich nur dreiviertel Pfund essen konnten und einige Teeblätter in das schmutzige Wasser warfen, damit es etwas gelb wurde. Dabei hatten wir mehrere hundert Rubel in den Hosenträgern und Stiefelabsätzen. Irgend etwas zu kaufen war unmöglich, weil man uns dann genau untersucht und das Geld, das zur nächsten Flucht bestimmt war, genommen hätte. So hungerten wir mit vollem Geldbeutel.

Iwan hielt sich am besten mit dem eigenen Stumpfsinn der russischen Natur. Ich habe Russen gesehen, die den ganzen Tag in einer Zellenecke hocken, vor sich hin starren und scheinbar nichts empfinden. Plouhar zehrte sich nach innen auf und fiel mehr und mehr zusammen. Er hatte anormale Augen und sprach oft von seiner. »süssen kleinen Frau«, die er zwei Jahre nicht gesehen.

»Lebt sie noch, hören Sie doch, Volck, lebt sie noch?«

Ich antwortete nicht, verlernte überhaupt das Sprechen. Wie unnütz sind Worte, wenn man sie an niemand richten kann. Plouhar hatte nichts zu sagen. Bisweilen gab ich Iwan deutschen Unterricht. Die Welt war zusammengeschrumpft zu mehr oder weniger lichtlosen Zellen mit harten, widerlichen Verbrechergesichtern. Irgendwo war mal das Leben, oder hatte ich es nur in einem Buch gelesen? Die liebsten Erinnerungen waren tot, alle Gesichter verblasst. Ich hatte nur einen Lebenszweck, der auf einem schmierigen Zettel aussen an der Zellentür stand: »Zur Verfügung des Gerichts.«

Wegen des sicheren Transportes wurden wir vorn Baikalsee nicht unseren alten Weg geführt, sondern mit der Bahn nach Irkutsk. So vermieden wir das Dorf mit den rabiaten Bauern.

Im letzten Polizeiarrest hatten wir grosses Pech. Während wir mit entblösstem Oberkörper auf der Pritsche sassen und Läuse knackten, erschien ein Unterleutnant mit vier Zuchthaussoldaten. Unsere Sachen wurden genau untersucht, alle Nähte abgefühlt, Taschen und Pelzmützen aufgeschnitten. Besonders ein Zuchthaussoldat hatte viel Routine im Suchen und erwischte in meiner Weste achtzig Rubel in Banknoten und die Schlafpulver, mit denen wir uns auf der Fahrt nach Irkutsk von unserer Wache befreien wollten, um zum Juden Eichler zu gehen. Vier ausgehöhlte Zuckerstücke hatten wir schon fertig, leider aber noch nicht mit den Schlafpulvern gefüllt.

Der Offizier tobte. Er wollte absolut nicht glauben, dass die Pulver Aspirin wären, und setzte in unsere Listen: »Führen Gift mit sich«. Eine chirurgische Schere, die ich im Stiefel versteckt hatte, hielt er für ein Mordinstrument.

»Wie heissen Sie.« herrschte er mich an.

»Volck! – Dobel!«

Plouhar wurde bleich, mir versagte der Atem.

»Volck, Volck??« – Ich habe in Dorpat studiert, da gibt es viele Volcks.« Es war zu spät, wenn nicht ein Zufall half, hatte ich mich gefangen.

Vier Zuchthaussoldaten und zwei Infanteristen brachten uns auf den Bahnhof in den Wartesaal vierter Klasse.

Jetzt waren wir wieder in Militärhänden, wurden verpflegt, waren nicht mehr ganz rechtlose Verbrecher.

Ohne die Posten zu beachten, ging ich in den Wartesaal zweiter, setzte mich dem Offizier gegenüber und bestellte ein Glas Tee.

»Was machen Sie hier, und wovon wollen Sie bezahlen?« knurrte der Unterleutnant.

»Ich bin Offizier und trinke daher Tee in der zweiten Klasse, Sie haben ja achtzig Rubel von mir!«

Vor Erstaunen sagte er nichts und fing politische Gespräche an.

Ich trank meinen Tee und hörte ruhig zu.

»So, Deutschland wird aufgeteilt, geht zugrunde? Meinen Sie vielleicht mit der russischen Dampfwalze, die rückwärts fährt?«

Da kam flackernde Wut in seine Augen, aus seinem Munde ergoss sich ein Strom von Schmähreden über Deutschland und meinen Kaiser.

Ich hielt nicht mehr an mich, schrie den Kerl an und verbot ihm, Deutschland und meinen Kaiser vor einem wehrlosen Kriegsgefangenen zu schmähen.

Er sprang auf, riss seinen Revolver aus der Tasche und legte auf mich an. So standen wir uns Sekunden gegenüber, er mit dem Revolver, ich mit erhobenem Teeglas. Menschen drängten sich dazwischen und nahmen ihm den Revolver aus der Hand.

Zitternd vor ohnmächtiger Wut ging ich zu den anderen.

Um Mitternacht standen wir vor dem Zuge, vier Zuchthaussoldaten und drei Schutzleute mit gezogenen Säbeln um uns.

Der Unterleutnant stampfte aufgeregt im Schnee und sagte der Wache: »Die da, die Österreicher, sind harmlos, aber auf den Deutschen passt auf, der ist gefährlich. Wenn er mehr als drei Schritte von euch fortgeht, sofort schiessen!«


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