Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ein Wisch vom Generalgouverneur flatterte in mein Schicksal, erhofft und doch unerwartet: Zwischenstadium der Freiheit, Bewegungsfreiheit im Mannschaftslager. Eine österreichische Fürstin vom Roten Kreuz hatte vor fünf Tagen in meiner Zelle geschauert, über meine vom Ungeziefer zerfressenen Arme geweint und mich dem Verkommen aus den Armen gerissen, ehe dreissiggrädiger Frost durch die zerbrochenen Scheiben mich für immer auf die Wanzenpritsche streckte.
Mein Firmenschild verschwand über dem Guckloch, die Tür ging auf. Etwas in mir wollte springen, aber ich hielt die Freude fest, mit beiden Händen. Sie hüpfte sonst weg. Langsam, ganz langsam freute ich mich. Nur nicht überfreuen, und dann wieder grässliche, dumpfe Leere.
Durch das Guckloch streckte ich meine Hand in die Schreckenskammer. Am Händedruck erkannte ich die einzelnen: den Kosakenmörder, Vobig, Iwan. Alle kamen sie, auch die Niedergekämpften. An ihren Händen fühlte ich, was sie dachten: kein Neid in diesem Händedruck.
Draussen pusteten sibirische Winterlungen Wind. Hi, hi, lachte das Scheusal in den nördlichen Urwäldern und jagte gellende Sauseteufel über die Baracken, die geduckt im Schnee standen. Ich nahm die Pelzmütze ab und liess mir lange die Haare zausen.
Ein riesiges Holzungetüm mit frierenden Türmchen – ein Ausstellungsgebäude oder so etwas – umtanzten stiebende Schneemassen.
Der Frost krachte in den vereisten Brettern.
Hier sollte ich wohnen, bis das Gericht mich freisprach oder mir Ketten anlegte.
Hinter einer kleinen Holztür war ein Schwirren von Stimmen. Diese Tür war vereist und stand nie still, Dutzende von Gefangenen gingen ein und aus. Dann kam jedesmal ein dicker Dunst von Atem, Schweiss und Rauch aus dem finsteren Loch hinter der Tür.
Innen – überall Balken, ein wirres Balkennetz, hölzerne Stockwerke, drei übereinander, dunkle Winkel in Qualm und Dunst. Auf den Balken, Brettern, Stockwerken waren Menschen ausgestreut, Hunderte, in Schafpelzen und schmutzigen Tüchern versunken. Sie lagen, sassen, standen – alle schrien. Ein Chaos von Stimmen, das ganze Sprachgewirr Österreichs, laut, überlaut: In der Masse drängten sich schreiende Türken: »Kaffee gut, Kaffee gut.« Fünf Kopeken der Becher, widerliche braune Sosse aus einem schmutzigen Eimer. Irgendwo im Dunst quietschte eine Harmonika, eine Geige schrillte.
Sehnsucht nach meiner stillen Zelle überkam mich, aber man darf nicht wünschen in Gefangenschaft. Was man gerade hat, ist gut und genug.
Ich kletterte eine Hühnerleiter hinauf in die dritte Etage, legte meinen Pelz auf den schmutzstarrenden Fussboden und war in meinem neuen Hause.
Tausend Menschen hausten hier in den Balken, zwischen dick vereisten Wänden. Wenn sie sprachen, hatten sie lange Atemfahnen an den Mündern, von der Kälte, die die Öfen nicht hinauskämpfen konnten. Der Frost höhnte in langen Eiszapfen von der Decke und hatte die Wände versilbert.
Meistens war ich draussen auf dem grossen Platz und sprang gegen den Wind, dass er schrie. Hier gab es keine Menschen, nur entfesseltes Windbrausen.
Bei uns ist der Wind anders. Hier kann man ihn sehen. In grossen Flächen fegt er dahin, zerbricht in kleine Schreiteufel, die sich in die langen Eiszapfen setzen und Musik machen mit Fistelstimme. Manchmal fegt er Schnee auf den Dächern zusammen, macht eine Lawine und wirft sie – bums – auf den Hof.
So freiheitsvoll war er, so fessellos, dass ich mit ihm lief und schrie. Kleiner Mensch, brüllte er, bald sause ich weiter, und du bleibst hier. Willst du mit, kleiner Mensch?
Zu Weihnachten hatte der Wind sich ausgetollt. Zu still wurde er draussen, und drinnen die Menschen auch mit ihrem Weihnachtskummer.
Am Heiligen Abend kletterte ich auf eine der dritten Etagen zu den deutschen Unteroffizieren, die mich eingeladen hatten.
Auf einem Tisch ängstigte sich ein kleiner Tannenbaum. Er sollte Freude machen und machte doch nur traurig. Ich hielt eine Rede, eine lange, schöne Rede für einfache Herzen, um das Elend zu scheuchen, aber das Heimweh kam mit Tränen in den Augen.
Das alte Jahr brachte noch etwas Putziges. Ein russischer Arzt, der mich als Herrn Dobel mit der Fürstin aus der Einzelhaft befreit hatte, beglückwünschte mich zu meiner Befreiung. Vor Monaten hatte ich ihn als Dolmetscher mit einer Roten-Kreuz-Kommission im Lager in X. stundenlang herumgeführt. Erkannte er mich wirklich nicht, oder wollte er nicht? Er sah ja Hunderte von Gesichtern, ich war damals in Uniform und hatte jetzt einen mageren Spitzbart.
»Wollen Sie wieder fliehen, Herr Dobel?«
»Solange ich zwei gesunde Beine habe, ja.«
»Sie machen sich unglücklich, kommen noch um. Russland ist gross und die Polizei gut. Ich will Ihnen ein Beispiel für die schlechten Aussichten geben. Kennen Sie das Lager in X.? Nein? Also aus X. sind, seitdem dort Kriegsgefangene leben, vierzehn Offiziere entflohen. Dreizehn hat man erwischt, nur einer, ein deutscher Fliegeroffizier ist nach Peking entkommen.«
Ich musste mich auf die Lippen beissen, um ihm nicht hell ins Gesicht zu lachen. So – der deutsche Flieger ist euch fortgeflogen. Er hat zwar notlanden müssen, aber bald fliegt er wieder, und dann: Servus! Auf die deutsche Front.
Iwan wurde aus dem Arrest entlassen und ging noch in derselben Nacht über den Zaun. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Eines Tages siedelte ich ins Offizierlager über. »Kümmel« war da und alle deutschen Bekannten aus X. Wenige bedauerten mein Pech. Aber ich freute mich, dass sie mir die alte Courage zutrauten.
Bald hatte ich einen bestechlichen Posten gefunden, mit dem ich ab und zu in Zivil in die Stadt ging, um Einkäufe zu machen.
An einer menschenleeren Strasse drückte ich ihm drei Rubel in die Hand, gab mein Ehrenwort, nicht auszukneifen, und jeder ging seiner Wege.
Schon im Mannschaftslager hatte Plouhar mir einen Brief geschrieben.
Plouhar hatte eine Villa, eine richtige Fünf-Zimmer-Wohnung am Rande der Stadt. Fünf Zimmer, Bad und Küche. Allerdings war dies Haus ein Neubau und daher leer. Nur in der Küche stand ein altes Ledersofa. Plouhar schlief auf dem grossen Ofen, der geheizt wurde.
Es war ein ideales Versteck, lag ausserhalb der Stadtpolizeigrenze und hatte für alle Fälle zwei Ausgänge.
Niemand wusste von Plouhars Anwesenheit, nur drei Österreicher, die eine Veranda bauten und in der Küche wohnten.
Dreimal sass ich auf dem alten Ledersofa, trank mit Plouhar aus einer grossen Flasche Milch und schmiedete an neuen Plänen. Ein Unternehmen im grossen Stil war fast fertig – ein Meisterstück von Raffinement, Frechheit und Glück. Erster Klasse Schlafwagen, anständige Kleider, gute Wäsche, saubere Hotels, später persische Gendarmerieuniform und im Auto durch Persien nach Bagdad.
Das Grosse Los, ein Volltreffer.
Geld war von meinen Verwandten bei den Landsmänninnen in X., mit denen ich wieder im Briefwechsel stand, eingelaufen und sollte an eine Omsker Deckadresse geleitet werden.
Die russische Oberstleutnantsfrau, die Plouhar bei seiner ersten Flucht geholfen, ein österreichischer Graf und ein Konsul hatten das schöne Netz mitgesponnen. Aus Gründen der Vorsicht kann ich hier nicht ausführlicher werden.
Nach vier Stunden traf ich den Konvoi wieder an einer abgemachten Stelle und ging ins Lager. Nur noch einige Tage, und Kühnheit und Ruhe mussten mir Erfolg bringen. Äusserlich lebte ich stumpfsinnig wie jeder andere Gefangene, trabte meine Runden um die Baracke, rauchte, schlief und lernte ein wenig. Innerlich war etwas wie atemlose Erwartung in mir.
Dass meine Vorbereitungen beobachtet worden waren, bewies mir ein österreichischer Herr. Er wollte auch fliehen und bat mich, in derselben Nacht wie er den Sprung über die Planke zu wagen, damit ich ihm den Weg nicht durch eventuell eintretende verschärfte Massnahmen verlegte.
Ich hielt das für die mindeste Kameradschaft, sagte zu und war so unvorsichtig, meinen Plan mit ihm zu besprechen, da er dieselbe Richtung, Persien, gewählt hatte. Er war eine Plaudertasche, ein armer Kranker, der mit seinen und meinen Plänen protzte und unter dem Siegel der Verschwiegenheit für Verbreitung unseres Geheimnisses sorgte. Das Schicksal schritt schnell. Die Lagerspione bekamen Wind und griffen im letzten Augenblick zu.
Am Abend vor dem mit Plouhar festgesetzten Fluchttage sann ich in meiner Box über den neuen Lebensabschnitt, der morgen beginnen sollte.
Da berührte jemand meine Schulter.
»Herr, du wirst gleich verhaftet, sie kommen schon.«
Es war der von mir bestochene Konvoi.
Gewehre klirrten, meine Box wurde von sechs Soldaten umzingelt.
Der Lagerkommandant sagte etwas unsicher: »Ich muss Sie verhaften wegen erneuten Fluchtverdachts. Die Brigade weiss alles.«
Wirklich, sie wussten alles, bis zur Autofahrt nach Bagdad, nur Plouhars Versteck und unsere Villa blieb ihnen ein Rätsel.
Nie haben sie es erfahren, denn das war das einzige, was ich dem Österreicher nicht gesagt hatte. Ich sollte nach Chabarowsk gebracht werden, in die Strafabteilung.
Vorläufig gab man mir eine Personalwache, einen Posten, der nachts an meinem Bett stand und tags mich überallhin begleitete.
Ein lebender Schatten folgte mir, ich war nie allein und warf Pläne und Hoffnungen in die tiefste Tiefe des Vergessens.
Inzwischen verschwand Plouhar mit meinem Geld, meinen Kleidern. Ich habe ihn nie wiedergesehen.