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Das Menschenherz kann vor Freude hüpfen. Mein Herz hüpfte, als Fräulein Margot mit mir zum Doktor ging. Nach drei schlaflosen Nächten und Tagen hingen die müden Augen aus dem Kopf, der dumpf und leer war wie ein ausgeblasenes Ei. Und doch sah ich alles, eine russische Grosstadt, überhaupt die Russenstadt, schöne Läden, wimmelnde Menschen, sausende Droschken.
Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man durch eigene Kraft aus Gefangenschaft heraus so mitten in pulsierendes Leben tritt, unter Menschen, die gleichgültig und doch interessant sind, die nichts wissen von erdrückenden und doch schönen Einsamkeiten in Urwäldern, Steppen und Gefängnissen.
Mein polnischer Pass schützte mich in Moskau nicht, hier, wo die Fälschung sofort festgestellt werden konnte. Ich war daher doppelt erstaunt über Margots Mut, die heiter plaudernd neben mir schritt – eine Frau mit Männercourage.
Vor einer eleganten Wohnung klingelten wir. Der Name einer Fürstin prunkte auf einem Kupferschilde. Reiss schien sich bei den russischen oberen Zehntausend eingeführt zu haben. Im Vorzimmer schnüffelte ich vornehme Eleganz. Das tat einem entwöhnten Europäerauge, einem angeblichen Pferdedieb und Spion, ordentlich wohl.
Reiss stand neben dem Klavier im Salon, mit lächelnder Ruhe – wie anders sah er damals aus, als er in meinem zerknitterten Anzug den ersten taumelnden Freiheitsschritt machte!
»Menschenskind – Doktor – –«
»Leise«, sagte er und legte einen Finger an die Lippen, »ich bin Rechtsanwalt aus Riga, der Vetter der estnischen Hausdame und vor dem drohenden Angriff der Deutschen geflüchtet. Der junge Fürst ist sehr liebenswürdig und hat mir das Schlafzimmer der Fürstin-Mutter, die auf dem Lande ist, eingeräumt.«
In einem sonnendurchfluteten Alkoven, in weichen, so bequemen Sesseln waren meine Erlebnisse bald erzählt.
Der blaue Rauch von duftenden Zigaretten kräuselte sich in den Sonnenstrahlen – seliges Gefühl des Geborgenseins!
Mit geschlossenen Augen hörte ich dem Doktor zu, dessen Erlebnisse wie ein Märchen vorüberglitten.
Aus P. war er abgefahren mit einem jener schönen weissen Flussdampfer. Den Stil einer Kajüte erster Klasse verdarben seine schlotternden, zerknitterten Kleider. Der kleine Auswandererkoffer schaute sich fremd in der Luxuskabine um.
Über dem breiten, ruhigen Strom lag prachtvolles Sommerwetter.
Der Doktor legte einen reinen Kragen an, um der neuen Situation etwas gerecht zu werden, und setzte sich im Salon an das Klavier.
Eine junge, alleinreisende Dame blickte mit beobachtenden Augen, ein schlankes, feines Kind mit klugem Köpfchen auf biegsamem Körper. Auf dem Promenadendeck trat sie neben Reiss an das Geländer:
»Sie haben so schön gespielt, Sie sind kein Russe, vermutlich Österreicher?«
»Ja, ich bin österreichischer Pole und Zivilgefangener.«
Drei Tage glitten sie so stromab bis zu einem Nebenfluss, an dem der Doktor den schönen Dampfer verlassen musste.
Zwei Tage stampfte ein schmutziger, rauchender Kahn in schmaler Fahrrinne.
Ohne Passkontrolle schritt der Doktor um sechs Uhr früh über einen wackligen Steg in den Ort, dessen kleine Häuser sich ängstlich am Ufer zusammendrängten. Ein Mann in Zivil – später stellte es sich heraus, dass es der Polizeikommissar selbst war – wies den Doktor den Weg zur Wohnung des ehemaligen deutschen Marineoffiziers.
Vobigs Name erwies sich als gute Legitimation. Der Doktor fand zwei Tage freundliche Aufnahme im deutschen Heim. Die Voraussetzungen jedoch erfüllten sich nicht; der ehemalige Offizier wusste nicht viel über die nördlichen Grenzen. Zwei Tage schwankte er, ob er mit Reiss fliehen sollte, hatte aber nicht den richtigen Mut und war wohl zu alt für ein solches Unternehmen.
Auf einem anderen Fluss dampfte Reiss bis Kasan und schrieb mir nach P., dass ich direkt nach Moskau zu Fräulein Margot fahren sollte.
Hinter Kasan lärmt eine Patrouille in den Zug, ein höflicher Offizier schaut in das Abteil und bittet um die Pässe.
Reiss hat keinen – das untaugliche Zivilgefangenenpapier hat er zerrissen – und sagt dem Kontrolloffizier:
»Ich bin Schweizer, habe meinen Pass verloren und fahre zum Schweizer Konsul nach Moskau, um mir neue Papiere ausstellen zu lassen.«
»Es tut mir leid, ich muss Sie verhaften und im Wachabteil nach Moskau bringen lassen, wo sich beim Schweizer Konsul die Richtigkeit Ihrer Angaben herausstellen wird. Auf dieser Linie bewegen sich zwei deutsche Spione, die wir gerade suchen, darf ich bitten, mir zu folgen?«
Peinlich, ausgerechnet auf dieser Strecke sollen deutsche Spione fahren.
In einem Abteil dritter Klasse liegt der Doktor mit der Wache.
Einen unwahrscheinlichen Ausweg gibt es noch, einen einzigen: in Moskau auf dem Wege zum Konsul der Wache entwischen.
Nach einer Nacht, in der die bange Schicksalsfrage lastet, erwacht der Doktor.
Das Abteil ist leer, die Wache verschwunden!
Erstaunt reibt er sich die Augen: ja, wirklich, man hat ihn liegen lassen, einfach vergessen.
Jeder andere wäre nun aufgesprungen und hätte sich ein harmloseres Abteil gesucht. Nicht so der Doktor. Ruhig bleibt er liegen, hier im Wachabteil wird ihn niemand nach Pässen fragen.
Neue Soldaten steigen ein, schnallen die Patronentaschen um und gehen den Zug revidieren. Mit dem Doktor unterhalten sie sich, bis der Zug in Moskau einläuft.
Reiss kennt Moskau, besucht den Rechtsanwalt seines Schwagers, der ihm Geld gibt und den guten Rat, schleunigst das heisse Petersburger Pflaster zu verlassen und zu versuchen, über die Petersburger Badeorte die finnische Grenze zu überschreiten.
Guter Rat ist immer – billig. Wie wenige Menschen würden das selber tun, was sie anderen empfehlen! Es ist leicht gesagt: »Reisen Sie!« – Und Pässe? Zweimal hat man nicht solch ein Glück, verhaftet und vergessen zu werden.
Fräulein Margot, der ich von Reiss geschrieben, bringt ihn zu einem kurländischen Gutsbesitzer, der meine Familie gut kennt und mit meinem Vater einige Zeit während seiner Flucht zusammen war.
Ganz Moskau ist in Spionenangst.
Drei Tage und Nächte bringt der Doktor im gastlichen Hause zu. Ganz früh, bevor das russische Dienstmädchen aufsteht, verlässt er über die Hintertreppe die Wohnung und klingelt einige Stunden später wieder am Herrschaftseingang. Das Glück liebt die Tüchtigen und wirft Reiss, der alles mögliche unternommen hat, einen Pass in den Schoss.
Bekannte Herren meiner Familie aus Dorpat und Mennoniten machen aus dem Doktor alias polnischer Flüchtling einen regelrechten russischen Sanitätssoldaten, der zehn Tage nach Petersburg auf Urlaub fährt.
Das Papier und die Stempel sind echt, gefälscht nur die Unterschriften. Was der Pass kostet? Nichts – Balten helfen Deutschen und Österreichern nicht für Geld.
Zwei Nächte schläft der neue Sanitätssoldat in einer russischen Kaserne, da sein Gesicht im alten Hause zu bekannt geworden ist.
Vor dem Nikolai-Bahnhof in Petersburg rasen mit Soldaten besetzte Automobile, Gewehrschüsse knattern, Maschinengewehre rattern, Kosakensäbel verrichten blutige Arbeit.
Der Doktor ist mitten in die schönste Revolution hineingeraten. Bolschewiki und Matrosen der baltischen Flotte kämpfen gegen regierungstreue Truppen des Herrn Kerenski, der schon bedenklich auf seinem Brand- und Blutthron wackelt. Auf dem Englischen Kai fährt Artillerie auf und bohrt mehrere Kutter mit Bolschewiki-Matrosen in die Newa. Tagelang schwimmen noch die Leichen. Petersburg dampft vom Blut. Noch einmal bleibt Kerenski Herr über die Anarchisten, wie lange noch?
Vor dem Bahnhof steht der Doktor dicht neben dem vergötterten Revolutionshelden und hört Kerenski reden, der eine besondere Wache für seine Person ablehnt.
Die Bahnhöfe sind gesperrt, um die Leninisten oder Bolschewiki zu fangen. Keine Maus kann Petersburg verlassen, das in angstvollem Schweigen wie ausgestorben ist nach den Kampftagen.
Der Doktor bleibt mit seinem Pass, auf dem ein dickes rotes Kreuz prangt, unbelästigt. Eines Mittags sitzt er in einem Restaurant. Zwei Herren sprechen erregt und laut über die deutschen Spione, die hinter dem letzten Aufstand stecken.
Plötzlich springt einer der Herren auf Reiss zu, drückt ihm eine Zeitung in die Hand und sagt: »Lesen Sie das, und dann geben Sie mir Ihr Ehrenwort, dass Sie kein deutscher Spion sind und auch kein Bolschewik.«
Der Doktor liest ruhig und gibt sein Ehrenwort. Warum soll er dem verrückten Kerl auch kein Ehrenwort geben?
In Bieloostrow, einem mondänen Petersburger Badeort an der finnischen Grenze, steht eine starrende Menschenwand. Alle zwanzig Schritte ein Posten, die die Herren Lenin und Trotzki hier abfangen möchten. Die sogenannten »weissen« finnischen Julinächte sind hell, dass man um Mitternacht Zeitung lesen kann. Hier ist an ein Durchkommen nicht zu denken.
Der Doktor fährt an eine ihm bekannte Stelle des Finnischen Meerbusens, von der man die finnische Küste herüberschimmern sehen kann. Er ist ein guter Schwimmer und schwimmt mit langen Stössen dem weit entfernten Ufer zu.
In der Mitte des Meerbusens schaukeln Absperrungsboote voller Soldaten.
Zurück – die Kleider getrocknet und nach Moskau – vielleicht findet sich ein Loch in der Front.
Ungeraucht glimmt die Zigarette in den Fingern des Doktors.
Still drücken wir uns die Hände. Es ist so schön, nach all den Fährnissen wieder zusammen zu sein.