Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drei Wochen im Viehwagen

Auf dem Bahnsteig ist ein wüstes Gedränge von mehreren hundert Österreichern, meist sind es Tschechen, wahrscheinlich Überläufer. Wir suchen nach einem Wagen zweiter Klasse. Ganz hinten finden wir einen, werden aber nicht hineingelassen. Die Posten drängen und werden unwirsch. Dumpf hallt das dritte Glockenzeichen durch die Nacht. Unsanft werden wir in einen Viehwagen geschoben, der bis oben mit Österreichern vollgestopft ist. In der Mitte ein Kanonenofen, rechts und links in drei Etagen Bretter, auf denen die Tschechen hocken. Niemand macht Platz. Ich schnauze die Kerls an, sage, dass ich deutscher Offizier bin, verwundet und nicht stehen kann. Schadenfrohes Grinsen ist die Quittung der Tschechen. Schliesslich springt von der dritten Etage ein Unteroffizier herunter und bietet mir seinen Platz an. Wir klettern hinauf und sitzen die ganze Nacht mit angezogenen Knien. So fahren wir einige Tage. Die Mannschaften bekommen Brot und ab und zu Suppen. Uns Offizieren gibt man nichts zu essen, später irgendwo sollen wir Tagegelder bekommen, anderthalb Rubel pro Offizier. In Erwartung des uns zustehenden Geldes kauen wir hungrig die letzten Zuckerstücke.

Nach zwei Tagen werden wir ausgeladen und nach stundenlangem Begafftwerden im Wartesaal vierter Klasse in eine Kaserne gebracht. Hier sperrt man uns in ein Zimmer, in dem zwei leere Feldbetten stehen. Die Glieder taub von der tagelangen Fahrt im Viehwagen, sinke ich auf ein Bett. Bei einbrechender Dämmerung dröhnt ein tiefer, schöner Bass in unser Zimmer. Der Ton ist wie eine grosse, schwere Kirchenglocke. Das ganze Zimmer ist voller Töne. Der Bass schweigt und macht einer grossen Leere Platz, es ist, als hätten die sterbenden Töne alles Lebende begraben. Plötzlich tönt ein mehrstimmiger Gesang, leise, dann brausend, überschattet von dem tiefen Bass, der die anderen Stimmen sammelt und führt. Die ganze Kaserne singt. Ich möchte auch singen, liege ganz still und lausche. Am nächsten Abend kam der Gesang wieder – das Schutzlied des Zaren. Lange habe ich diese schöne Melodie vermisst und den tiefen, ruhigen Bass, der einem alle Schmerzen, alle Gedanken nahm, sie ganz auflöste in Töne.

Vor einem roten Gebäude mit vergitterten Fenstern frieren wir neuen Ereignissen entgegen. Das Gefängnis wird mit Posten umstellt, dann kommen vierunddreissig Soldaten aus einer kleinen Tür, einzeln und in Trupps. Die meisten bleiben in der Tür stehen, schöpfen tief Atem und blinzeln in die Wintersonne. Dann werden sie vor uns aufgestellt. Es sind Deserteure und Verbrecher. Die Tür öffnet sich wieder und lässt zwei zerlumpte Gestalten sehen, die nicht herauswollen. Eine harte Hand hilft nach, und die beiden Vagabunden stolpern aus der Tür. Nur noch in der Türkei, wo die Bettelei ein Beruf ist, fast eine Wissenschaft, habe ich derartig zerlumpte, schmutzige Menschen gesehen. Der eine, ein alter Mann mit den blöden Augen eines Schwachsinnigen, hat eigentlich nichts an. Ein zerfetzter Rock, der einmal schwarz gewesen sein mag, ein alter Sack als Hose – seine nackten Füsse stecken in zerrissenen Gummischuhen. Der jüngere der Vagabunden, der blöd vor sich hin lallt und Grimmassen schneidet, hat einen steifen Hut ohne Krempe auf dem Kopf und über seinen zerlumpten Kleidern einen Mantel, der aus durch Stoff verbundenen Löchern besteht. Mein Kamerad ist ganz weg vor Lachen und tauft den Mann »Schrapnellpaletot«. Ich muss auch lachen. Es ist wirklich, als wäre dem Kerl ein Schrapnell durch den Mantel gefahren. An einer kurzen Schnur schleift er einen schmutzigen Sack durch den Schnee. Ich empfehle meinem Piloten, seinen Bauch von unserem Handgepäck zu befreien und es wie der Schrapnellpaletot durch den Schnee zu rodeln.

Die Posten zählen und zählen. Irgend etwas stimmt nicht. Da kommt noch jemand, scheu und ängstlich stellt sich ein Mädchen neben den Schrapnellpaletot. Sie hat einen dicken roten Unterrock an, sonst passt ihr Kostüm glänzend zu der Lumpensammlung. Der Schrapnellpaletot und das Mädchen sind taubstumm. Mit Zeichen und glucksenden Tönen, die sich aus ihrem Munde quälen, führen sie eine Unterhaltung. Anscheinend sind sie auch geistesgestört.

Als wir abmarschieren sollen, weigere ich mich, mit diesem Gesindel von Deserteuren und Verbrechern transportiert zu werden. Einige Kolbenstösse erinnern mich daran, wer hier zu befehlen hat. Dicht hinter dem Schrapnellpaletot und seiner »Tippelschickse« werden wir den weiten Weg zum Bahnhof getrieben, durch die belebtesten Strassen. Wütend und mit niedergeschlagenen Augen hinke ich durch die gaffende Menge. Vor mir schleift der Sack des Schrapnellpaletots durch den Schnee.

Wer nie gefangen war, weiss nicht, was es heisst, mit Verbrechern zusammen durch die Strassen getrieben zu werden. Lange stehen wir frierend und hungernd auf dem Bahnsteig. Die Deserteure machen schlechte Spässe mit der Taubstummen, die gequält lallt und Hilfe bei ihrem blöde grinsenden Schrapnellpaletot sucht. Endlich kommt der Zug, und wir werden in einen von Schmutz starrenden Viehwagen getrieben. Mit der Wache sind wir fast fünfzig Menschen. Die Türen werden zugeschoben, damit niemand entspringen kann. Es ist stockfinster, nur der Kanonenofen in der Mitte glüht rot und überschüttet uns mit heissen Strahlen. Da alle Plätze belegt sind, müssen wir dicht am Ofen hocken. Der Schweiss rinnt in Strömen, der Atem geht kurz in dem unbeschreiblichen Gestank. Schon ein paar Schritte vom Ofen entfernt ist es kalt, auf den oberen Pritschen schlägt der Frost den Deserteuren die Zähne aufeinander.

So geht es tagelang bei verschlossenen Türen, immer dunkel, immer Nacht. Der Wagen rattert, die beiden Schwachsinnigen lallen. Schweisstriefend hocken wir am glühenden Ofen, mir ist namenlos elend, in den Verbänden kriecht Ungeziefer, der hungrige Magen macht übel und schwindlig.

Wir bekommen nichts zu essen, irgendwo später vielleicht Geld. Am Morgen, wenn die Verbrecher Brot bekommen haben, suchen wir uns fortgeworfene Rinden – sonst kauen wir Zucker, den wir vom letzten Gelde erstanden. Der Durst quält höllisch. Niemand gibt uns Wasser. Wir haben keinen »tschajnik« (Teekessel), um an den Stationen Wasser zu holen, nicht mal einen Becher haben wir. Mehrmals hält der Zug auf freier Strecke, ich hinke zur Lokomotive und bettle um Wasser. Meist dieselbe Antwort: »Ein deutsches Schwein braucht nicht zu trinken.«

Heute mittag sollen wir nach Gomel kommen ins Gefängnis. Mir wird ordentlich wohl beim Wort »Gefängnis« . Keine stockfinstere Nacht mehr, die auf Rädern klappert, kein Kanonenofen, kein klappernder Frost – vielleicht etwas zu essen; Suppe wenigstens und Brot.

Die Deserteure hetzen mit Gejohl den Schrapnellpaletot auf die schwachsinnige Taubstumme. Die Arme will schreien, im weit geöffneten Mund bewegt sich die tote Zunge, manchmal kommt ein Lallen, das wie Lachen klingt. Auf den Knien rutscht sie zu mir und klammert sich an meine Beine. Ihre Augen sind weit vor Schreck und Hilflosigkeit. Ich gebe dem Schrapnellpaletot einen Fusstritt. Winselnd kriecht er in eine Ecke. Die Deserteure johlen, es ist widerlich.

Während der Zug in Gomel einfährt, geht ein Deserteur durch; wie ein Aal gleitet er durch eines der kleinen Viehwagenfenster und stolpert über die Schienen einem nahen Walde zu. Grosse Aufregung unter den Posten, als beim Aussteigen einer vermisst wird. Im Geschwindschritt werden wir in ein von zahlreichen Posten und Stacheldrahtzäunen bewachtes Lager getrieben. Hier leben mehrere tausend Deserteure in stallartigen Baracken. Mein Pilot und ich werden in einen kleinen Verschlag neben dem Wachtlokal gesperrt. Es ist paradiesisch hier, man hat Platz, ein grosser Ofen strömt angenehme Wärme aus. Mit guten Worten verschaffe ich mir Holz. Dann liegen wir stundenlang vor der offenen Ofentür. Ich schiebe ein Scheit nach dem anderen in die rote Glut und erzähle meinem Kameraden eine lange Geschichte von unserem Kamin zu Hause. Diesen Abend ist der Ofen unsere Welt. Das sind die ersten Stunden, in denen wir uns nicht ganz unglücklich fühlen.

Am nächsten Tage rollen wir wieder durch das verschneite Südrussland. Wieder Viehwagen mit Deserteuren, Hunger und Ungeziefer. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, ausser Hoffnung gibt es vielleicht nur noch Gewohnheit, die einen gut durchs Leben steuert. Wir schimpfen nicht mehr, wollen nichts mehr vom Leben, legen Patiencen und arbeiten ein russisch-deutsches Wörterbuch. Mein Pilot kann schon bis hundert zählen, ebensoviel Worte weiss er auch. An den Bahnhofsaufschriften lernen wir die russischen Buchstaben. Dann werden die Buchstaben nachgemalt, Dutzende von malen, an einer neuen Station ihre Güte geprüft. So lernen wir, ein Buchstabe, ein Wort, immer mehr – bald können wir Russisch.

 

In Orel sitzen wir zwei Tage im Gefängnis, nachdem die Posten einen ganzen Nachmittag dieses vorbildliche Quartier gesucht haben. Es ist wirklich vorbildlich. Ein grosses Zimmer, zwei vergitterte Fenster, zwei Pritschen mit Matratzen, ein Tisch mit zwei Stühlen – alles einigermassen sauber. Dazu ein Lehnstuhl mit grossen Ohren, in dem wir abwechselnd sitzen genau nach der Uhr, denn wir sind sehr eifersüchtig auf diesen Lehnstuhl.

Am Abend ist grosse Wäsche. Mein Pilot wäscht unsere Taschentücher. Dann werden zum erstenmal nach vierzehn Tagen die Hemden ausgezogen. Sie sind voller Blutflecke und Läuse. Die Läuse werden geknackt. Mein Pilot ist bald fertig, er muss das schon früher gelernt haben. Bei mir dauert es lange – aber endlich liegt die Strecke da: neunundsechzig Läuse. Meine Fingernägel sind ganz blutig vom Morden.

Ein Russe kommt, behauptet, er wäre unser Diener, fragt, was er aus dem Restaurant holen soll. »Suppe oder Kotelett?« Wir sind sprachlos. Gibt es so etwas überhaupt? Also gut, Kotelett, aber wir haben kein Geld. »Macht nichts«, sagt unser Diener, »morgen gibt es Geld« . Plötzlich haben wir ordentlich Hunger, der Magen hat wieder normalen Umfang angenommenen durch die Suggestion. Bald stehen die Koteletts auf dem Tisch, dazu Weissbrot. Ein dampfender Samowar sorgt für Gemütlichkeit. Ich rücke den Ohrenstuhl an den Tisch, dann essen wir ganz still und glücklich. Ich glaube, wir haben ordentlich geschmatzt.

Am Morgen ist wieder der Diener da mit warmem Waschwasser. Zu Mittag gibt's Suppe und Koteletts. Wir haben nur einen Wunsch: nie heraus zu müssen aus diesem Gefängnis.

Am Abend erhalten wir einige Rubel und werden von zwei Landstürmern an die Luft gesetzt. Auf dem Weg zum Bahnhof erfahren wir, dass die ganze Sache ein Irrtum ist, dass man uns versehentlich in den Arrest für russische Offiziere gesperrt hat. Köstlich. So sind wir zum erstenmal als Offiziere behandelt worden, wenn auch als russische.

Bis Moskau habe ich die beiden Landstürmer gezähmt. Sie sind im allgemeinen leicht zu behandeln, etwas herablassend sein, nichts gefallen lassen, wenn nötig, grob werden. Eine ganz einfache Methode, mit der man hier immer ans Ziel kommt. Es dauert gar nicht lange, da halten unsere Wächter es für eine Ehre, so hohe Herren begleiten zu dürfen. Ich lasse mich nur mit »Euer Hochwohlgeboren« anreden. Aus ihrer alten Dienstzeit haben sie das noch im Leibe, und wenn niemand dabei ist, legen sie auch die Hand an die Mütze. Es hat ja wirklich keinen Zweck, kopfhängerisch zu sein. Man muss so gut wie möglich der Situation Herr werden.

So rollen wir in Moskau ein, nachdem unsere Alten in der letzten Nacht zwei Liegeplätze in einem Wagen dritter Klasse für uns erobert hatten. Um sieben Uhr morgens gehen wir den weiten Weg vom Nikolai- zum Sibirischen Bahnhof. Moskau liegt verschneit und morgenstill. In einem Strassendurchblick sehen wir den Kreml, von Sonnengold überflutet. Das ist alles, was wir von Moskau zu Gesicht bekommen.

In Jaroslaw wird umgestiegen. Stundenlang sitzen wir in dem Verbindungsraum der Wartesäle vierter und zweiter Klasse. Die Menschen kommen und gehen, bleiben stehen, begaffen uns und gehen. Einer der Landstürmer gibt Erläuterungen zu unseren Persönlichkeiten, mit Handbewegungen wie ein Museumsdiener. »Wie war doch das?« fragt er hundertmal. »Zweitausend Arschin sind Euer Hochwohlgeboren heruntergefallen?« Ich nicke, und mit Bewunderung sagt er den Gaffern: »Und lebt noch.«

Links von uns ist ein grosses Heiligenbild, über und über mit Gold und buntem Kram. Mehrere Dutzend grosse und kleine Wachskerzen brennen um den Altar. Der Wachsgeruch vermischt sich mit dem Gestank von Stiefeln, Tran und Schafpelzen. Manchmal kommt ein Licht dazu, bisweilen auch Blumen. Von meiner Ecke aus sehe ich die Rücken der Andächtigen. Meist sind es Frauen in grossen Umschlagtüchern. Die Männer spucken, während sie sich bekreuzigen, immer dem Heiligen vor die Füsse. So ist das ganze zaristische Russland wie dieser Heilige, dem man anbetend vor die Beine spuckt.

Die Stunden schleichen endlos. Mir ist, als höre ich die Zeiger einer grossen Uhr langsam rücken, tick, tack, eine Minute nach der anderen. Wir müssen noch die ganze Nacht so sitzen neben dem glitzernden Heiligen. Der Zug geht erst morgen früh.

Seit einiger Zeit habe ich einen riesigen, finster blickenden Gendarm im Auge, der den Eingang zum Büfett zweiter Klasse halb versperrt. Ich habe eine Idee, eine glänzende Idee, und warte. Plötzlich regt sich der Gendarm, verschwindet sporenrasselnd auf den Bahnsteig. Ich nehme meinen Kameraden unter dem Arm, und wir spazieren in den nun unbewachten Saal, wo wir uns an einen leeren Tisch setzen. Während ich mit einem Kellner verhandle, kommt unser Unteroffizier ganz bestürzt: Euer Hochwohlgeboren, das ist verboten, das geht nicht. Ich sage dem Kerl, dass er verschwinden soll, und wirklich, er geht. Als wir bei der Suppe sind, sagt der Kellner, wir möchten doch umziehen an einen weniger sichtbaren Platz, dort, hinter dem grossen Kachelofen. Auch gut. Wir ziehen um. Hinter dem Ofen sitzt es sich prachtvoll. Man kann uns nur vom Büffett aus sehen. Der Gendarm mag nun ruhig wieder im Türrahmen stehen.

Zwei volle Stunden essen wir, essen für die letzten Tage und im voraus, alles mögliche durcheinander, solange die letzten Rubel reichen, zum Schluss Kaffee, zehn Tassen trinken wir zusammen. Dann kaufe ich Zigaretten, der Rest reicht gerade fürs Trinkgeld. Wir fühlen uns so recht wohl und sprechen von guten, alten Zeiten.

Plötzlich rasseln die Sporen, eine tiefe Stimme sagt: »Paschol!« (Raus!) Das ist der Gendarm, der uns irgendwie entdeckt hat. Vielleicht hat auch der Alte gepetzt. Wütend bringt uns der Gendarm in den Wartesaal vierter Klasse. In einen Knäuel von schmierigen Juden und auf der Erde schlafenden Soldaten müssen wir uns setzen. Ein stinkender Dunst schwelt durch den schmutzigen Raum, hinter der Tür höhnt der Heilige mit seinen Kerzen – es ist Aschermittwoch. An einen Russen gelehnt schlafe ich ein. Mein Pilot liegt auf dem Fussboden, unseren Sack unter dem Kopf.

Am folgenden Morgen verlassen wir die Bahn in Galitsch. Während die Alten Tee trinken, entgehen wir mit Mühe einer Tracht Prügel, die uns frisch eingezogene Bauernlümmels verabreichen wollen. Auf der Kommandantur schüttelt uns der Frost auf dem kalten Fussboden. Im Morgengrauen verscheuchen die Alten den dumpfen Halbschlaf und wollen mit uns losmarschieren. Die Kerls sind verrückt! Hundertzehn Werst zu Fuss durch den Schnee. Ich lasse den Kommandanten wecken und weigere mich, mit meinem noch steifen Bein zu gehen, verlange einen Schlitten. Natürlich bekommen wir keinen Schlitten. In den Papieren steht: »pjeschkom« (zu Fuss).

Was tun? Hier bleiben und hungern oder vier Tage hungernd durch den Schnee hinken und endlich ins Lager kommen zu Kameraden? Wir entschliessen uns zu diesem letzten.

Es ist bitterkalt, eisig pfeift der Wind durch den Wald. Müde schleifen wir uns auf der endlosen, breiten weissen Strasse weiter, erst mein Pilot, dann ich, ganz weit hinten die beiden Landstürmer. Gegen Abend können die Alten kaum noch gehen. Blass und müde schauen ihre bärtigen Gesichter aus bunten Taschentüchern, die sie sich um die frierenden Ohren gewickelt haben. Der Wind klagt in den stillen Fichten, der Schnee wird immer tiefer. Mehrere Kilometer sind noch bis zum Nachtquartier. Wenn wir nicht im Schnee erfrieren wollen, müssen wir voran. Ich nehme dem Unteroffizier, der sich kaum schleppen kann, das schwere Gewehr ab. Er gibt es mir ruhig und sagt: »Euer Hochwohlgeboren werden mir nichts tun!« Ausserdem hat er ja die Patronen.

So marschieren wir in der Winternacht, weit auseinandergezogen. Vor mir steht ein Bild: Die beiden Grenadiere, die in Russland gefangen waren und nach Frankreich ziehen.

Am folgenden Morgen bin ich fertig. Alles versagt: das Gehirn, die Beine, die Stimme, wie ein Uhrwerk, das mit einem Ruck stehenbleibt. Ich werfe das Gewehr in den Schnee, möchte umfallen, nie wieder aufstehen. Mein Pilot führt mich. An seiner Seite taumele ich noch einige Kilometer in eine kleine Stadt. In einer Holzkaserne geben uns Österreicher zu essen, eine widerliche, stinkende Fischsuppe. Dann gehe ich mit einem Soldaten, unsere Alten können nicht mehr, zum Arzt. Eine Ärztin empfängt mich mit tadellosem Deutsch. Sie hat in München studiert und liebt Deutschland, sieht die Wunden nach, macht aber keine neuen Verbände und gibt mir einen Schein für einen Schlitten bis ins Lager. Dann schickt sie mich in ein Quartier, wohin mein Pilot nachkommt. Hier finden wir zwei Betten mit Decken und bekommen nochmals zu essen. Im Einschlafen habe ich an die Universität München gedacht, der wir dies Nachtlager verdanken.

Der nächste Tag fängt gut an. Weich schleift der Schlitten im Schnee durch prächtige Wälder mit »Schneekappen und Frostglitzern. So sieht das Schicksal unserem Vergnügen zu, bis es glaubt, dass wir wieder eine Portion Ärger und Mühsal vertragen können. Gegen Mittag wirft uns der Frost aus dem Schlitten. Die Füsse hängen wie Eisklumpen, der ganze Körper scheint langsam zu vereisen. Noch vierundzwanzig Stunden abwechselnd im Schlitten und durch den Schnee hinkend, erreichen wir die Kreisstadt Soligalitsch. Tief, tief im Schnee versunken liegt das Städtchen, von schwarzen Wäldern umsäumt. Wir sind ganz aufgeregt in Erwartung der Kameraden, in mir löst sich etwas Starres, eine Ahnung, als würde ich wieder etwas Mensch sein, etwas Ruhe in mich kommen.


 << zurück weiter >>