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Fast jeden Abend tauschten Iwan und ich Kopfbedeckung und Rock in einem gewissen Ort. In meinen Bärenpelz gewickelt, schlief er als Leutnant Dobel in meiner dunklen Einzelzelle. Ihn plagten keine Gedanken und Pläne, nach zwanzig Tagen machte er den Sprung über den Zaun, wurde wieder Russe, um als Deserteur weiter dem Kriege zu trotzen.
In diesen Nächten war ich bei Vobig in der grossen Schreckenskammer. Scharen von Ungeziefer frassen an Menschen mit furchtbaren Schicksalen, Menschen, die Ketten erwartet und Schlimmeres. Sonderbare Menschheit. Zwei Klassen von Charakteren: Steinfakig-Zähe und vom Schicksal Niedergekämpfte.
Die Niedergekämpften, die sich nicht mehr bogen, die Gebrochenen mit Schwindsuchtsflackern in Totenaugen. Die Steifnackigen, die sich nicht bogen, dem Schicksal die Zähne zeigten und hart lachten wie entschlossene Menschen, Vabanque-Spieler – mit aufrechten Häuptern, stahlharten Augen und nervigen Fäusten.
Ich liebte diese Ungebrochenen. Mark, Wille: Männer!
Mit diesen sass ich unter der einzigen Lampe, nackt die Oberkörper zur Flohwehr, lauschte ihren abenteuerlichen Erzählungen, die schlicht waren, wie diese Willensriesen.
Willensriesen – und drüben im Lager? Angekränkelte, angefressene Schatten, die einst Männer waren. Diese Schatten sahen uns Flüchtlinge und Abenteurer über die Achsel an, von oben herunter – sie glaubten ihre Kraft zum Wiederaufbau des Staates erhalten zu müssen.
Alle Grenzen Russlands hockten unter der einzigen Lampe. Ich hörte und lernte – Fluchtstudien. Russland ist gross und türmt gewaltige Hindernisse. Wir waren grösser mit unserem Willen und heiterer Furchtlosigkeit.
Ich ging nicht mehr in die Schreckenskammer und blieb bei meinen Ratten und Fliegen.
Plouhar hatte ein Sprachloch durch die Holzwand gebohrt.
In den Nächten, wenn auf dem Gang nur der Schritt der Posten hallte, sprachen wir leise. Plouhar sollte mit dem letzten Geld in die Stadt, ein neues Netz spinnen.
Wie in die Stadt gelangen? Lange Tage zerquälte sich unser Gehirn, bis wir die einfachste Lösung fanden.
Der frechste Weg ist der kürzeste, und der war so:
Zu Mittag und bei Einbruch der Nacht brachten drei Österreicher das Arrestantenessen. Der Oberträger, ein zuverlässiger Bosniak, wechselte nie, hatte schon manchen verbotenen Gegenstand in der Suppe oder im Brot hereingeschmuggelt.
Plouhar sprach bosnisch und fragte ihn, ob er an Stelle eines der zwei Unterträger morgen abend einen von mir noch zu bestimmenden deutschen Gefangenen mit der Esschüssel schicken wolle. Wenn die Türen zum Essen geöffnet wurden, sollte dieser in Plouhars Zelle gehen und Plouhar selbst mit der leeren Schüssel verschwinden.
Alles kam darauf an, dass wir für die Nacht einen Ersatzmann fanden, der am nächsten Tage mit einigem Geschick von der Marodenvisite beim russischen Arzt ins Lager zurückkehrte.
Ich gab dem Bosniaken einen Brief für einen deutschen Feldwebel, dem ich genug Ruhe und Mut zutraute.
Am Abend kam die Absage. Er bäte vielmals um Entschuldigung, hätte bereits neun Monate gesessen usw.
Jetzt konnte nur List helfen, um den nötigen Ersatzmann zu schaffen.
Ich schrieb an einen Wasserflieger, er möchte morgen wegen einer wichtigen Mitteilung als Essenträger zu mir kommen, das Gesicht möglichst verhüllt, was bei der grossen Kälte nicht auffallen konnte. Ahnungslos kam er. Er stand mit dampfender Suppenschüssel im dunklen Gang.
Die Türen knarrten auf.
Plouhar stand in seiner Zelle im Pelz mit hochgeschlagenem Kragen, nahm dem Wasserflieger die Schüssel aus der Hand und goss die Suppe unter die Pritsche.
Ein Händedruck, Plouhar ging mit der leeren Schüssel, vom Bosniaken gefolgt, den Gang hinunter.
Einen Augenblick, sah ich in das rauchige Wachtzimmer, dann schloss sich die Tür hinter beiden.
Das Geschehnis war wie ein Gedanke, Bruchteile von Sekunden. Der Essenträger begriff, wurde kreideweiss und wollte hinter Plouhar herstürmen. Ich hielt ihn fest und drückte ihn auf die Pritsche.
»Ruhe, nur eine Nacht Ruhe und Besonnenheit. Morgen sind Sie unbeschadet wieder im Lager. Um neun Uhr gehen wir mit sechs Eingeweihten zur Marodenvisite. Während wir im Vorzimmer auf den Arzt warten, mischen Sie sich unter die vielen anderen Kranken, die ohne Konvois kommen, und gehen einfach hinaus. Nachher fehlt einer von den Arrestanten. Plouhar ist eben durchgegangen, von der Marodenvisite entwischt.«
Ich liess ihn allein und legte mich schlafen.
Um acht Uhr brachte der Bosniak Brot. Plouhar war gut über die Planke gekommen und hatte jetzt zwölf Stunden Vorsprung.
Der Essenträger steckte seinen Kopf durch das Guckloch.
»Ruhe, Ruhe – es wird schon schief gehen.«
Um neun Uhr früh standen mit uns sechs Mann aus der Schreckenskammer im Wachtlokal. Indes wir gezählt wurden, ordnete ich schnell die Leute – vorn links die Essenträger, rechts Vobig, in der Mitte ich. Ich hatte meinen dicken Bärenpelz an, für einen besonderen Zweck und falls man mir eine Tracht Prügel zudachte.
Im schmalen Gang zum Wartezimmer des Arztes drängte ich den vorangehenden Posten hinter den Essenträger und mich, stolperte und fiel der Länge nach hin. Vobig stolperte über mich und riss den Posten um. In lieblichem Übereinander lagen wir da. Die Arrestanten drängten nach und vervollständigten die Verwirrung.
Als der Posten auf den Beinen stand, war der Essenträger schon im Warteraum verschwunden. Ich richtete mich ächzend mit Hilfe des Postens wieder empor.
Nachdem wir alle vom russischen Arzt untersucht waren, jeder sein Husten- oder Durchfallpulver bekommen hatte, wurde gezählt. Die Posten zählten, stutzten, nahmen die Finger zu Hilfe.
Einer fehlt! Natürlich fehlte einer!
Wir lachten, lachten, dass die Lungen schmerzten. Vobig sprang in seinen grossen Filzstiefeln mit flatterndem Halstuch wie ein Besessener im Schnee und wieherte. Bis zum Abend suchten Patrouillen im ganzen Lager nach Plouhar, der schon vor vierzehn Stunden dieser freundlichen Gegend den Rücken gekehrt hatte.
Der Wachthabende flog dreissig Tage ins Loch. Das war das Beste am Spass.