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Durch das Burjätenland in den Altai

Mein Kopf dampfte Schnaps. Den beiden tropfte Schnaps aus roten Augen. Sie grölten freche Lieder, ich sang Gassenhauer und war sehr vergnügt. Haha!

Die Pferde sausten in wildem Galopp durch stäubenden Schnee, der unter den Kufen wie gequälte Menschen kreischte. Das Geschirr klatschte auf nassen Pferdeflanken. In den Quadrathänden des Sträflings klatschten die Zügel. Er stand aufrecht, stiernackig und brüllte auf die Tiere ein: »Oho, Schimmel, Sohn einer Hündin, Gal–opp!«

Vor der Verbrecherbude riss der Sträfling die Pferde still, dass sie zitternd standen. Plouhar stand plötzlich neben dem Schlitten. Ich hatte ihn ganz vergessen im Walde an seinem Wolfsfeuer.

»Feines Gespann, hm, dreihundert Rubel!«

Plouhar lachte rostig, es klang wie das Bellen eines heiseren Hundes. Er war total erkältet, seine Stimme sass in geschwollenen Kehlbändern, die Augen waren anders, hatten nicht mehr das irre Leuchten, müde waren sie, noch mit jenem Schein, wie ich ihn bei Soldaten im Feuer gesehen, die mit dem Leben abgeschlossen hatten: gleichgültige Entschlossenheit.

Die Nacht hockte sich mit schwarzen Schatten in den hellen Schnee. Der Sträfling fuhr noch ein Stück mit, seine Augen rutschten hin und her, zwischen mir und dem grossmäuligen Revolver, den er in der Hand hielt. Wollte er ihn mir geben? Nein, er sprang ab. Wie ein Holzklotz stand er im Schnee, klein, massig, bis die Nachtschatten ihn auflösten.

Wir wühlten uns tief ins Heu, von dem der Schlitten voll war. Nur unsere Frostgesichter schauten unter den Pelzkappen heraus. Iwans Nase war doppelt von Kälte und Schnaps und funkelte dick und rot. Die Pferde trabten ruhig. Das Waldrauschen schlief, nur die Kufen sangen leise. Wir sprachen nicht, verschwendeten keine Worte. Es war so wohlig, die schmerzenden Beine langgestreckt. Der Schlaf kam und brachte Heimatbilder. Ich stand unter dem Weihnachtsbaum und schaute glücklich wie ein Kind in die weissen Lichter.

Iwans Stimme knarrte. Der Schlitten stand wie festgefroren in einer starren Kälte. Wo waren wir? Richtig, die Brücke. Ich holte das Gepäck, dann fuhren wir weiter.

Die Pferde wateten bis an die Bäuche im Schnee. Iwan und ich mussten gehen. Plouhar lag auf dem Schlitten und hustete.

Zwei Blockhäuser standen fröstelnd im grauenden Morgen, in tiefen Schnee geduckt, mit hohen weissen Kappen auf den Dächern. Hier wohnten Verbannte, ein Mann mit rauhen Händen und hartem Gesicht. Seine Frau war noch jung und hübsch. In den Augen hatte sie Menschenfurcht.

Iwan zeigte einen schmierigen Zettel, auf den die schwere Hand des Sträflings eckige Buchstaben gesetzt. Wir bekamen eine Axt mit breiter, blanker Klinge – Abschiedsgeschenk des Kettensträflings.

Der Tag blendete im Osten, schüttelte den Schlaf von den Tannen und setzte grelle Lichter in die Wälder. Langsam schleifte der Schlitten durch goldene Fluten, die unter einem blankblauen Himmel standen. Das neue Rauschen, das gestern über die Berge kam, sprach lauter, es roch nach Meer.

Am Abend traten die Bäume zurück, bescheiden, als hätten sie sich verirrt. Nur noch einige Riesenkiefern hielten Grenzwacht am Rande des Urwaldes. Links, tief im Tal, breitete sich ein blaues Wasser. Es hatte weisse Ränder, die an rote und graue Felsen spritzten. Helles, schmerzhaft grelles Blau stand über dem Wasser und regte sich nicht. Baikalsee. Die Sonne griff noch einmal mit roten Feuerarmen in das stille Blau, fuhr langsam über roten Granit und sank erblassend im Westen über blauschwarze Berge mit leuchtenden Gletscherkronen – Altai. Lange Minuten standen wir, hielten Herz und Atem an, bis der Baikalsee schwarz wurde und die Sterne am dunklen Himmel aufsprangen. Unter uns im langen Tal, dem Altaigebirge zu, lag das Land der Burjäten. Mit dem fallenden Weg nahm der Schnee ab. Im Tal, wo die Baikalwinde eisig pfiffen, lagen nur noch einige Handvoll Schnee, die die rissige Erde nicht decken konnten. Zwei Stunden kreischte der Schlitten über gefrorene Erde, dass die Ohren weh taten. Die Pferde hingen müde vom Vierundzwanzigstundenlauf in dem Geschirr.

Am Wege stand ein altes, verfallenes Forsthaus, dahinter ein Schuppen. In den fuhren wir, banden die Tiere los und gaben ihnen das letzte Heu. Die breite Axt blitzte und riss grosse Fetzen aus dem Schuppen. Iwan genierte sich nicht viel, mit wuchtigen Hieben ging er dem Holz zu Leibe, dass es wild in die Nacht ächzte. Bald prasselte ein haushohes Feuer, an dem unsere Gestalten schwarz zusammengeschrumpft hockten. Heute kochen wir dreimal Tee. Eine Petroleumflasche war in den Zuckerbeutel geraten. Wir schmeckten es kaum, tranken ja nur die Wärme. Iwan sang russische Wiegenlieder, von der Kosakenmutter und ihrem Sohn. Seine Stimme war weich, nachdem Kälte und Schnaps aus ihr gewichen. Klare, kalte Nacht stand in der Stille und über ihr seltsam grosse Sterne, viel grösser als bei uns.

Das prasselnde Feuer und wir drei waren die Welt, sonst nichts. Ab und zu, huschten am Rande unserer Welt kleine Männlein vorbei auf flinken Pferden. Sie hatten spitze Hüte mit wehenden Ohren. Auf dem Rücken alte Flinten mit einem Gestell, damit sie beim Schiessen nicht umfielen. Es waren die ersten Burjäten. Manchmal ritten zwei zusammen und schwatzten. »Gu–du–gu« wie seltsames Taubengurren klang ihre Sprache.

Dreissig Werst quälten wir am nächsten Tage die hungrigen, ungefütterten Pferde über den gefrorenen, schneelosen Boden. In drei Burjätendörfern hatte Iwan versucht, einen Wagen zu kaufen. Vergebens, die Männer waren zum Markt, und die Frauen konnten kein Russisch. Iwan fluchte einen Strom von Schimpfworten, wie sie nur ein Russe kennt. Wir banden die Gäule los und wollten ohne den Schlitten weiter. Da klapperten flinke Hufe hinter uns, acht kleine, zweirädrige chinesische Karren holperten heran. Wie putzig die schmalen Wagen mit den hohen Rädern aussahen!

Ich hielt den ersten Burjäten an. Er sprang aus einem hohen mongolischen Sattel, in dem man nur in den Bügeln stehend reiten kann, wickelte sich aus seinem grossen, zottigen Pelz und schielte bösartig mit geschlitzten Augen. Seine spitze Mütze sah wie eine Clownkappe aus. Nach wenigen Minuten waren wir handelseinig: fünfundzwanzig Rubel und den Schlitten für einen zweirädrigen Karren mit wackligen, hohen Rädern.

Lustig und leicht federten die Gäule das kleine Gefährt über die Steine. Wir mussten uns festhalten, so dass bald die Hände schmerzten. Iwan kutschierte vorn und konnte jeden Augenblick unter die Pferde kollern. Wir hockten hinten auf dem schmalen Brett, eine Handbreit nur unter dem Sitzfleisch, und baumelten mit den Beinen, die keinen Platz hatten.

Im nächsten Dorf gab es kein Brot. Vor dem letzten Burjätenhaus hielt Iwan den Wagen an. Eine achteckige Burjätenjurte ohne Fenster, mit spitzem Dach, durch das Rauch kräuselte.

Iwan öffnete eine niedrige Tür, aus der stinkender Qualm dampfte, sagte »Mindu« (»Guten Tag« auf mongolisch) und verschwand in der finsteren Hütte.

»Wenn nun Russen drin sind?« sagte Plouhar.

Russen waren nicht drin, aber etwas Seltsames, das sich am allerwenigsten im winterkalten Sibirien erwarten liess. Um eine offene, rauchende Feuerstelle hockte eine nackte Mongolenfamilie, auf Ehre: nackt, splitternackt, Männlein und Weiblein. Sie genierten sich nicht.

An einer der acht schmalen Wände, die voller Felle hingen, stand ein bunter Sockel. In grellem Rot, Grün und Schwarz ringelten sich gelbe Drachen. Zwischen den Drachen lachten Menschenfratzen bis an die Ohren. Zwischen all diesem Getier hockte in halber Lebensgrösse ein fettes, ölig-glänzendes Männlein, das seine Wurstfinger über einem faltenreichen dicken Bauch faltete. Da nirgends eine Sitzgelegenheit zu entdecken war, setzte ich mich auf den Sockel.

Ehe ich noch sass, erhob sich ein wildes Geschrei. »Gu–du–gu!« jammerte die nackte Familie und machte entsetzte Augen.

»Mein Gott«, sagte Iwan, »Sie sitzen auf dem Hausaltar.«

O je, jetzt hatte ich den dicken Götzen mit dem fettfaltigen Bauch beleidigt und die ganze nackte Herrlichkeit dazu.

Ich erhob mich und nahm Platz auf einem runden Taburett, das auf niedrigen Füssen neben dem Feuer stand.

Wieder Geschrei: »Gu–du–gu«, aber schon weniger entsetzte Augen. Diesmal war es der Esstisch, von dem ich nun auf eines der verlausten Sitzfelle rutschte.

Ein uraltes, zahnloses Männchen hielt einen hölzernen Mörser zwischen den Knien und zerstampfte Plattentee. Der gestampfte Tee kam in den einzigen schmutzigen Blechtopf des Hauses, Milch, Salz und Pfeffer dazu, und fertig war der Tee. Er schmeckte grässlich.

Ausser dolchartigen Messern, die den Burjäten hinten vom Gürtel baumeln, hat so ein Hausstand nur hölzerne Instrumente. Hier herrschte Urvätergeist, primitive Naturwirtschaft, von der sich ein Europäer nichts träumen lässt. Die Burjäten leben von der Hand in den Mund, zerstampfen ein paar Körner, etwas Plattentee, der Rest ist Kuhmilch und Käse. Fleisch essen sie fast gar nicht. Das Familienleben spielt sich in dem einzigen achteckigen Raum der Jurte ab. Hier wird gezeugt, geboren, gegessen, geschlafen und gestorben.

Auf der Weiterfahrt begegneten wir Burjäten, die auf flinken, kleinen Pferden, in hohen mongolischen Sätteln stehend, galoppierten. Sie sahen hübsch und malerisch aus in ihrem mit buntem Tuch gefassten Lederzeug. Die Frauen hatten weite Pumphosen. In der Ferne unterschieden sie sich nicht von den Männern. Stehend, im Herrensitz, jagten sie die kleinen Pferde. Viele hatten auf dem Rücken ein Bündel, aus dem ein Kinderkopf ragte.

Putzige Leute. Sie wissen nichts von des Lebens Herrlichkeiten, wunschlos und zufrieden dämmern sie dahin in primitiven Begriffen und Gewohnheiten. Glückliche Naturen.

Die schroffen Felswände des Tales drängten zusammen. Die kurze Grasnarbe, mit wenigen Schneeflecken, war zertreten von Tausenden von Rinderhufen.

Mehrere Tage fuhren wir an endlosen Viehherden vorbei. Das stille Tal war voll von dem tiefen Muhen der Büffel, die, schwarz, langzottig, mit Specknacken, an amerikanische Büffel erinnern. Eine Herde, die von mehreren Dutzend Burjäten und einigen Kosaken getrieben wurde, schätzte ich auf zwanzigtausend Stück. Sie kamen tief aus der Mongolei. Später sah ich breite zerwühlte Streifen in der Steppe, die sie getreten. Wochenlang wurden sie zu Tausenden herausgetrieben aus den mongolischen Steppen und rollten geschlachtet in gefrorenem Zustand vom Baikalsee zu der russischen Millionenarmee.

Tagelang waren wir gefahren. Die Pferde hungerten und schrumpften zusammen. Ihre schlaffen Häute hingen auf spitzen Knochen. Hafer gab es nicht, Heu konnten wir nur selten kaufen oder aus Mieten stehlen.

Wir selbst hungerten nun seit vierzehn Tagen bei trockenem Brot und Tee, der mit petroleumgetränktem Zucker gesüsst wurde. Dabei besassen wir den herrlichsten Proviant. Mit einem Stück trockenen, gefrorenen Brots lernten wir uns beherrschen neben Sardinen, Konserven und Schokolade. Assen wir jetzt davon, so verhungerten wir später, wenn wir die letzten Kräfte brauchten. Durch fünfzehn Kosakenstationen waren wir gerollt, unbehelligt dank Plouhars Kenntnis der Namen der Kaufleute in den einzelnen Dörfern und der Kosakenhetmans. Plouhar hatte ein fabelhaftes Gedächtnis. Fragte man uns in einem Dorf, so sagten wir, dass wir zu dem und dem ins nächste Dorf wollten, um Felle zu handeln.

Es war glatt gegangen, und doch erwarteten wir mit Sehnsucht die mongolische Grenze.

Zwei Tage quälten wir uns hinauf zu ihr in den Altai, auf vereisten, steilen Wegen. Die Pferde hatten blutige Knie. Alles starrte in Eis. Hohe, rote Felswände türmten sich zu beiden Seiten des Weges. Ein opalblauer Himmel strahlte.

Wir schoben den Wagen mehr, als die Tiere ihn zogen. Das Geschirr war an vielen Stellen zerrissen und nur notdürftig geflickt. Ein Bild des Elends, die mageren Gäule und wir. Halb verhungert, bartverwildert und verfroren. Tagelang kam kein Laut über die blauen Lippen – nur ein »Hü, hü –!« Seelenlose, stumpfsinnige Maschinen, die automatisch vorwärtsstampften.

Mehrmals führte der Weg auf schmalen, atemraubenden Felsgraten. Eine getürmte Wand links, ein tiefer Abgrund rechts.

Der hungrige Magen dehnte sich bis an den Hals, so tief und schwindlig waren die Abgründe. Ohne Feuer schliefen wir nachts – wegen der vereisten Feldwege konnten wir nur am Tage fahren – unter dem Wagen, wenige Stunden nur, bis die Kälte uns aufscheuchte. Kaum fand sich etwas Reisig für einen Tee, der nur lauwarm wurde.

In der letzten Nacht in Russland hieb ich mit der Axt ein Loch in das Eis eines Bergbaches. Das eisige Wasser schnitt im Magen wie mit tausend Messern. Halb ohnmächtig vor Magenkrämpfen lag ich zusammengekauert auf dem rüttelnden Wagen.

Lange mussten wir halten, weil ich nur ausgestreckt auf dem Wege liegen konnte. Ich war zu schwach zum Stöhnen, zu schwach zum Sterben. Der Magen war ein Eisklumpen.

Der Weg führte wieder bergauf. Ich hielt mich hinten am Wagen und stolperte mit. Plötzlich rief Plouhar: »Achtung!« Da stand ich schon in einem Bergbach, dessen stürzenden Lauf das Eis nicht gezähmt hatte. Kaltes Wasser sprang in meine Stiefel. Die Füsse hörten auf zu leben und erstarben.

Da lief ich, rannte wie ein Besessener, stundenlang, und rettete meine Füsse.

Gegen drei Uhr nachts tauchte ein Blockhaus vor uns aus den Nachtschatten – das Grenzhaus.

Wir wollten es umfahren, aber der steinige, vereiste Weg zwang uns hart an ihm vorbei. Mit angehaltenem Herzen zögerte unser Fuss vorwärts.

Wie der Wagen ratterte –!

Ein Hund schlug heiser an, dass uns der kalte Schreck packte. Iwan wollte die Zügel fortwerfen, besann sich aber und fuhr langsam weiter. Noch einmal heulte der Hund, die Einsamkeit klagte sein Gebell wider.

Es war drei Uhr fünfzehn Minuten nachts – Grenzüberschreitung.


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