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Bei den Inguschen

Zweimal vierundzwanzig sonnendurchglühte Stunden in Mückenschwärmen beim Summen der Dreschmaschine schauten wir über die Maisfelder auf den Höhenrücken, ob nicht in wirbelnder Staubwolke ein kleiner Punkt sich zu einem schnellen Reiter auswuchs. Der Wächter war vor zwei Tagen über jene geheimnisvolle Grenze galoppiert, um im Inguschenlande die Ankunft zweier Russenbesieger zu melden und zu erkunden, wie wir hinter der südlichen Grenze des Bergstammes ungefährdet durchs Russengebiet in das georgische Land vordringen könnten, mit der Bahn oder über die berühmteste, schönste Strasse, die grusinische Heerstrasse nach Tiflis. Lauerten wegen der Nähe der Front zu viele Gefahren auf uns, so sollten Schafhirten und Räuber uns auf schwarz getürmten Felswegen, die nur Schmuggler und Bergziegen kennen, über das Gebirge von Stamm zu Stamm bringen.

Am dritten Abend sprang der Wächter aus dem Sattel. Sein Tier dampfte vom weiten Weg. Unter der grossen Kastanie, in der Nachtschatten nisteten, seiften Reiss und ich uns die Köpfe ein. Der Sohn des Wächters rasierte mit einem stumpfen Messer, bis mein preussischer Leutnantsscheitel klagend starb. Wir lachten unsere glattrasierten, roten Schädel an, stiegen in weisse Beschmets (lange, talarartige Untergewänder) und blaue Tscherkesskas (mit länglichem Brustausschnitt versehene, um die Hüften eng geschlossene Überröcke), gürteten einen schmalen, dolchbewehrten Riemen, setzten hohe Lammfellmützen auf die nackten Schädel – so wurden wir Tscherkessen, gehörten von jetzt ab zu jenen berüchtigten Räubern, die man manchmal in roten hohen Stiefeln als Kunstschützen in Zirkussen sieht.

Der Doktor mit seinem braungebrannten Gesicht sah lächerlich echt aus. Von mir mit meinen Blauaugen sagte er: »Verkleideter preussischer Leutnant«, was mich aber nicht daran hinderte, felsenfest zu glauben, dass nie ein echterer Tscherkesse in den Felsen seines Berglandes geräubert hatte. Bis auf eine Reservegarnitur Wäsche, unsere Schlafdecken, Handtuch und Seife, trennten wir uns von Europas Luxus, der jetzt überflüssig wurde, ja sogar gefährlich werden konnte, wenn er in den Bergen die Begehrlichkeit irgendeines »razbojnik«, eines Räubers, erregte.

Mein Zigarettenetui hatte sich in die Taschen des zweitjüngsten Wächters verirrt. Ein harmloser Zwischenfall, der uns zeigte, wie tief eingewurzelt selbst bei mohammedanischen Räubern das Gast- und Schutzrecht eines Fremden war. Der alte Wächter war ehrlich bekümmert und tief verletzt über den Diebstahl. Im Hause, in den Grenzen seiner Besitzung durfte so etwas nie geschehen, ist doch jeder Kaukasier verpflichtet und gewillt, seinen Gast mit Blut und Leben zu schützen. »Meinen Kopf für dich, nur über meine Leiche bekommen dich die Russen«, sagte er, und es ist kein leeres Geschwätz. Aber wehe, wenn du sein Haus, seine Landgrenze verlässt und mit Gold oder seltsamen, ihm unbekannten Sachen seine stets wache Räubergier geweckt hast. Freundlich bringt er dich bis an seine Grenze, sorglos machst du einige Schritte – ein Schuss knallt, und du liegst in deinem Blute. Deshalb ist es ratsam, nie ohne Begleitung eines Inguschen zu gehen, solange man nicht bekannt ist und nicht jeder weiss, dass man im Gastschutze einer angesehenen Familie steht.

Das Zigarettenetui kam wieder in meinen Besitz, und ich schenkte dem jungen Diebe, der etwas verlegen war – nicht wegen des Diebstahls, sondern wegen des verletzten Hausgesetzes – meinen Anzug und Strohhut.

Noch lange, als unser Wagen durch die Felder rollte, sah ich über den rauschenden Maiskolben die grosse Butterblume auf dem Kopfe des jungen Wächters.

Die Poren schwitzten mit offenen Mäulern, in der flirrenden Luft standen Bündel von glühenden Sonnenstrahlen.

Von der Höhe des kahlen Bergrückens schüttelte ich meine Faust gegen ein hartes Schicksal, das mich fast zwei Jahre im verhassten Russland geknechtet. Hier stand ich an einer neuen Grenze, einer besseren als damals an der eisdurchhauchten sibirisch-mongolischen. Unter uns schlief in kochender Mittagssonne ein breites Tal. Maisfelder schlugen ihre Kolben zusammen, dass es rauschte, am jenseitigen Hang glühten rote und weisse Flecke unter grünen Wäldern, schlanke Minaretts ragten in den blauen Himmel – das Land der Inguschen!

Aus mannshohem Mais traten zwei Männer, um Haupteslänge höher als wir. Von den Schultern zum Gurt und um die Hüften starrten Patronen, in den Händen drohten Gewehre. Einem der Wächter, einem stattlichen schlanken Greis mit kinderguten Augen, schlug eine lange, silberbeschlagene Reiterpistole die Hüfte.

Misstrauisch musterten sie uns, dass es einem heiss wurde. Nach einigen raschen Worten unseres Kutschers kam eine lachende Freude in die braunen Gesichter, ihre stolzen Köpfe neigten sich, ihre harten Hände drückten warm: »Willkommen, Germanen!« Von dieser Stunde an war uns ein Kaukasier nie wieder unheimlich.

In einem kleinen Zimmer zog uns ein alter, grauhaariger Verwandter des Wächters die Stiefel aus, breitete Teppiche und Kissen auf den Boden. Tee und Tabak wurden gebracht. »Oh, oh«, sagte der Alte, »Albast sehr froh, sehr froh, Germanen«.

Albast war ein rührender Kauz. Obgleich er nur fünf Worte Russisch konnte, unterhielten wir uns glänzend. Diese fünf Worte waren: Gut, froh, Brot, Kanone und Zar. Alles bei ihm hiess Kanone und Zar. Der Zar war der Inbegriff von Macht, Ordnung, Gehorsam. »Nun ist der Zar weg, und Russland ist kaputt«, machte er uns verständlich. Kanone bedeutete für ihn Raub, Krieg, Stärke, Gewandtheit, Klugheit – wir waren Kanonen. O ja, natürlich: deutsche Kanonen.

Am nächsten Tage kam Ismael aus dem Nachbardorf. Ismael war der angesehenste Ingusch, adlig, aber nicht wie bei uns »von« oder Baron, sondern weil er aus der ältesten Familie stammte, über mehrere hundert Reiter verfügte und einen klugen Kopf hatte. Ausserdem hatte er einen Russen ermordet, die Revolution 1905/06 mitgemacht, war aus dem Zuchthaus ausgebrochen und nach Amerika geflohen, von wo er vor drei Jahren zurückkehrte.

Ismael hatte seine festliche Tscherkesska an, uns zu Ehren, und trug sogar einen langen, breiten Dolch. Lachend sagte er: »Sonst trage ich keinen Dolch, meinen Eichenstock kennen und fürchten alle, und niemand wird wagen, mich anzufassen«.

Vorsichtig horchte er uns aus, ob wir auch nicht verkappte russische Spione seien, die sich unter dem Deckmantel als kriegsgefangene Deutsche hier eingeschlichen. Er beruhigte sich bald und kam dann zur Sache: »Vielleicht begleite ich Sie selbst, am besten über die grusinische Heerstrasse nach Tiflis und über Batum – Trapezunt durch die russische Front über Erzerum. Ich fahre jetzt, um mit dem Inguschenrat zu sprechen und alles vorzubereiten, übermorgen bin ich zurück.«

Es wurde morgen, es wurde übermorgen, nochmals übermorgen – kein Ismael, nur Hunderte von summenden Fliegen im Zimmer und Albast, der mit seinen fünf russischen Worten lange Geschichten erzählte. Wir merkten bald, dass Mohammedaner es nicht eilig haben. Woher auch? Sie haben Zeit wie Heu, und europäische Hast kennen sie nicht.

Sieben Tage langweilten wir uns die unruhige Seele aus dem Leibe, rauchten im halbdunklen Zimmer, sahen Albast bei seinen Fusswaschungen und Gebetsübungen zu oder lagen im Garten und assen rohe Pflaumen, bis der Magen schmerzend protestierte. So aufmerksam Albast war, so hungerten wir doch. Kleider allein machen nicht einen Inguschen, besonders wenn man einen an Europas Kost gewöhnten Magen hat. Dreimal täglich gab es Tee, zweimal etwas beissenden Schafkäse und zu Mittag zwei oder drei im Feuer geröstete Maiskolben. Wenn Albast längst vergnügt mit Schmatzen fertig war, gingen wir in den Garten und schüttelten harte, rohe Pflaumen von den Bäumen.

Ab und zu besuchte uns ein ganz in Schwarz gekleideter Ingusch, der nie – auch beim Schlafen nicht – sein scharfgeladenes Gewehr aus den Händen liess und unruhig mit den Augen irgend etwas suchte. Nie kam er allein, und nie verliess er allein das Haus. Seine rechte Hand war zerschossen und steif von einem Pferderaub. Auf dem Manne lasteten Todesschatten, er stand unter Blutrache, weil er bei dem Pferderaub einen Landsmann erschossen. Die Blutrache umlauerte ihn aus allen Gewehren der Verwandten des Ermordeten.

»Warum kaufst du dich nicht los?« fragte ich ihn.

»Ich habe kein Geld und will auch nicht«.

Als wir eines Abends mit dem Schwarzen in die Maisfelder gingen, huschte ein Schatten hinter einer Hecke. Es war ein Verwandter des Ermordeten, der nur darauf lauerte, den Schwarzen ohne Begleitung zu treffen, um ihm eine Kugel in die Rippen zu jagen. Solange der Schwarze begleitet wurde, wagte jener nicht zu schiessen, um nicht versehentlich den Falschen zu treffen und dadurch selbst unter Blutrache zu kommen.

Am siebenten Abend gürtete ich meinen Dolch und ging ins Nachbardorf, um nach Ismael zu sehen. Er war zurück und bat, dass wir gleich in sein Haus übersiedeln möchten. Albast begleitete uns bis vor das Dorf. Auf einem kleinen Hügel umarmte er uns mit Tränen in den Augen und konnte sich nicht trennen. »Allah schütze euch, Germanen!« Er rieb seine stachlige Wange an unseren nicht weniger bartverwilderten und stammelte seinen russischen Wortschatz.

Ein Wind flog über das Tal, dass der Mais klagte, jagende Wolken türmten sich, Blitze zuckten, Donner krachten. Mit wehenden Kleidern kämpfte sich ein kleiner Greis auf den Hügel. Uralt wackelte sein zahnloser Kopf unter einem grünen Turban, der den Mekkapilger kündete. Blutigrot leuchtete sein Purpurbeschmet in den grellen Blitzen – es war der einzige noch lebende Krieger Schamils, den die Leute auf hundert Jahre schätzten. Der alte Krieger, der im Kopf etwas konfus zu sein schien, der vor sechzig Jahren fünfundzwanzig lange Jahre mit Säbel und Reiterpistole gegen die Russen gekämpft, umarmte uns unter Blitz und Donner abwechselnd mit Albast. »Oh, oh, Germanen, Germanen«, sagte er. Mehr verstanden wir nicht.

Das Leben macht sonst jeden Tag ein anderes Gesicht – hier schien es mit dem gleichen Sommerlächeln, in das langsam ein herbstliches Messinggelb kam, durch Ismaels geputzte Scheiben, wenn ich in einem ordentlichen Sessel mit weissleinenem Überzug am Fenster sass oder meinen rasierten Mohammedanerschädel im Garten bräunen liess, zwischen riesigen Sonnenblumen, die von mannshohen Stengeln ihre reifen Körner mir vor die Füsse streuten.

Zuerst lehnten wir uns gegen dies untätige Zuschauen auf, gegen das Abwarten, das Heimwärtsziehenden so fürchterlich ist.

 

In Europa muss man Europäer sein, in Amerika Amerikaner, im Orient Mohammedaner – oder man ist eine lächerliche Figur und wird nicht für voll angesehen.

Der Mohammedaner hat Zeit, viel Zeit – was heut nicht wird, hat noch manchen Tag. An Ismaels Zeithaben gewöhnten wir uns, es war uns sogar recht nach all dem atemlosen Hetzen der letzten Monate. Zu Weihnachten würden wir schon daheim sein, und das war die Hauptsache. Seltsam, unter kaukasischer Sommersonne, wenn schwarze Sonnenblumenkerne zu Boden rieselten, an den deutschen Weihnachtsbaum hinter eisbeschlagenen Fenstern zu denken.

Ismael sagte jeden Abend: »Übermorgen fahren wir, morgen habe ich noch geschäftliche Gespräche«. Den ganzen Tag sass er nach so einer Ankündigung auf einem Baumstumpf vor seiner Haustür und zeichnete mit seinem Eichenstock Figuren in den Sand. Einige Greise setzten sich um ihn, langsam und bedächtig, sprachen etwas belangloses Zeug und ruhten sich dann lange schweigend von den schweren Worten aus. Diese geschäftlichen Gespräche waren anscheinend sehr wichtig und machten aus dem Reisetage immer wieder ein Übermorgen.

Es hat seinen eigenen Reiz, so in der Sonne sitzend mit halbgeschlossenen Augen seine Seele zu betrachten und langsamen, trägen Gedanken nachzukriechen. Der Italiener nennt es »süsses Nichtstun«, der Türke »Khef« und der Ingusch »geschäftliche Gespräche.« Stundenlang kheften wir und warteten, bis Allah einen Wagen vor das Haus schob und sagte: »Bitte einsteigen, ihr habt warten gelernt, und jetzt will ich euch nach Hause fahren.«

Von meinem Fenster aus oder bei kurzen Besuchen in Ismaels Verwandtenhäusern lernte ich diesen räuberischen Volksstamm kennen, dem ein siedendes Blut in den Adern kocht, wenn er seine orientalische Würde und Langsamkeit beiseitelegt. Die Nächte waren nie still, sie hallten von Schüssen – Blutrache oder Viehraub. Eisern halten die Inguschen fest an uralt heiligen Gesetzen, in die Tradition und Urvätergeist sie zwingt.

Wehe dem Inguschen oder Fremden, den ein bleicher Mondschein lockt, über eine Hecke mit einem jungen Inguschenblut Liebesworte zu raunen. Ein Verwandter der jungen Sünderin stösst dem Schänder der Familienehre seinen kalten Dolch zwischen die Rippen. Ein Weib, das Ehebruch treibt, wird nach dem Gesetz von ihrer Sippe mit Steinen erschlagen, den Ehebrecher rettet nur die Flucht in die ödesten Felsen vor den Flinten, die Blutrache suchen.

Vor meinem Fenster, auf dem Dorfplatz, war ein Brunnen. Schlanke Frauen gingen unverschleiert mit wiegenden Hüften, den zinnenen, schmalen Schöpfkrug auf der Schulter, wie einst Rebekka zum Brunnen schritt. Begegnet ihnen ein Mann, so standen sie mit abgewandtem Gesicht beiseite, bis er vorüberschritt. Nie darf ein Weib den Weg eines Mannes kreuzen. Nur mit Männern ihrer Verwandtschaft darf sie stehend sprechen und nur nach Aufforderung des Mannes sich setzen.

Manchmal jagten über den sommerverschlafenen Platz aufgeregte Männer mit Flinten und entblössten Dolchen. Dann war in irgendeiner Gasse die Blutrache an der Arbeit, oder Stahl und Blei entschieden über nichtige Kleinigkeiten. Schüsse krachten, Stimmen brüllten, bis sich wieder tiefe Ruhe auf den Dorfplatz hockte. Ab und zu kam mit langen Schritten der hundertjährige Greis auf unser Haus zu. Über seinem Purpurkleide flatterte eine grüne Tscherkesska, die mit runden, kleinen Stahlschildern übersät war – Orden, die der Krieger aller Krieger Schamil seinen Anhängern geschenkt hatte. Während Ismael ärgerlich und gelangweilt den Dolmetscher machte, fuhr sich der Greis bedächtig über die runzlige Stirn und kramte die fünfundzwanzigjährigen Kriegszüge Schamils aus seinem altersschwachen Kopf. Er war gekommen, um sich mit den modernen Kriegern zu besprechen, Staub und Sonnenbrand hinderten den Hundertjährigen nicht. Stundenlang klapperte sein zahnloser Mund auf und zu. Strecken, die man sich heute scheut mit der Bahn zurückzulegen, hatte dieser Mann durchschritten, raubend, kämpfend, seinen Herrn verteidigend. Als eine Verräterkugel Schamil niederstreckte, war er durch die Wüsten und Berge Persiens nach Mekka gepilgert und kam als Heiliger mit grünem Turbantuch wieder. Als wir alle seine Geschichten kannten und das Purpurkleid des Greises immer wieder vor unseren Fenstern auftauchte, versteckten wir uns hinter den Sonnenblumen. Eine Weile wartete er, nahm dann seinen stählernen Stock, um den sich einst ein Regenschirm gebreitet hatte, und wanderte traurig nach Hause.

In den Mittagsstunden, wenn nur Fliegensummen in heisser, müder Luft wachte, las ich in einem französischen Buch, das Ismael aus Amerika mitgebracht hatte. Pariser Leben, tolles Lachen und Geniessen raunte in den Zeilen, und draussen vor dem Fenster schlief der Platz, an den Allah uns bannte. Wir verloren die Zeitrechnung. Es gab keine Zukunft mehr, nur Gegenwart, die langsam tickte, tick – tack – – wie eine faule Uhr, die jeden Augenblick stehenbleiben konnte.

Ismael blieb öfter halbe Tage fort. Wir hatten den Eindruck, dass er sich mit unserer Weiterreise beschäftigte. Er machte nachdenkliche und unruhige Augen. Vielleicht hatte er uns seine Hilfe zu schnell zugesagt und scheute sich, auszuweichen, denn ein Mohammedaner bricht nie sein Wort.

Eines Abends hatten wir des Rätsels Lösung, die der Doktor mit seiner feinen Nase schon lange gewittert hatte. Hinter allem stak Ismaels Frau, die begreiflicherweise unseretwegen ihren Mann nicht in Gefahren hinausschicken wollte.

Ismael sprach langsam, verlegen wie ein schuldbewusstes Kind unter dem ruhigen Blick des Doktors, der alles zu erraten schien.

»Morgen, ehe der Tag über die Berge steigt, fahren Sie nach N. zu meinem Vetter, der nach Beschluss des Inguschenrates mit einem zweiten Vertrauensmann Sie zu den Türken bringen soll. Es ist alles vorbereitet. Mit gefälschten Papieren fahren Sie, als russische Offiziere der wilden kaukasischen Division verkleidet, über das Kaspische Meer nach Persien. In Persien ist nur eine gefährliche Strecke durch ein Räubergebiet, das Sie vielleicht umgehen können. Mein Vetter und sein Begleiter sind unsere Vertrauensmänner, die aus der Türkei Geld holen sollen, damit wir uns von den Kosaken für den Viehraub loskaufen können. Haben wir die Kosaken gewonnen, so überfallen wir mit ihnen zusammen die russische Infanterie, und wenn diese aufgerieben ist, kommt die Reihe an die Kosaken selbst. Ich kann Sie leider nicht begleiten, wegen dringender Familiensachen. Mein Neffe hat seine Braut geraubt, und ich muss die Parteien versöhnen. Sollte mein Vetter aus irgendeinem Grunde nicht an dem Plane festhalten, dann kommen Sie unbedingt zu mir zurück, und ich versuche, Sie über Trapezunt durch die russische Front zu bringen.«

Mehr sagte Ismael nicht und legte zwei Passblankette auf den Tisch. Wir wussten genug, packten unsere wenigen Sachen in einen alten Sack und waren froh, dass Allah sich so weit geregt hatte.

Ein Leiterwagen polterte mit uns durch traumraunende Maisfelder. Bleich und fremd stand der Mond über den Bergen. Murmeltiere pfiffen sich Warnung zu. Auf einem hohen Plateau überraschte uns der Morgen. Mit roten Fingern tastete sich die Sonne über eine noch dunkle Gebirgsmasse. Sekunden nur, dann sprang jäh der Tag ins Leben mit purpurner Sommersonne, wie sie nur der Süden kennt.

Vor uns, ganz in Sonnengold gebadet, türmte sich ein schwarzblaues Gebirge, von gewaltigen Klüften zerrissen. Aus schwarzen Wäldern wuchs ein Meer von Felsen, grau, gigantisch, drohend, rückwärts übertürmt von glitzernden Eisblöcken und breiten Schneehalden – der hohe Kaukasus, in dem nur Gemsen steigen und Murmeltiere pfeifen. Wortlos, erbärmlich klein diesem Naturwerk gegenüber schauten wir auf die wachgeküssten Bergkolosse. Ich hatte einen sonderbaren Gedanken: Dort oben fliegen mit donnerndem Motor, den weissen, stolzen Schneehäuptern ein Lied singen von Menschenkönnen!

Der Vetter in N., der uns vor einigen Tagen besucht hatte, empfängt uns in voller kaukasischer Uniform mit russischen Offiziersachselstücken, ein Georgskreuz am schwarz-gelben Bande auf der Brust. Er sieht kriegerisch aus, und man kann ihm glauben, dass er 1905/06 während der Revolution fünf Kosaken erschossen hat, auf tausend Schritt Entfernung mitten in die Stirn.

Unsere staubigen Stiefel warten vor der Tür, während wir auf schönen Teppichen sitzen und mit abgemessenen Worten langsam einen Weg in die Zukunft bahnen.

Alles ist besprochen, die Ausfüllung der Pässe, die Bahnfahrt als verkleidete russische Offiziere, als die wir noch heute nachmittag in Szene treten sollen.

Der Vetter geht hinaus, um sich noch mit jemandem zu besprechen. Wohlig dehnen wir unsere ausgelangweilten Glieder im Vorgefühl neuen Sichregens. Dem Doktor spukt noch etwas Pessimismus im nachdenklichen Schädel.

Eine Stunde geht, die zweite schleicht, die dritte will nicht sterben. Endlich kommt der Vetter mit einem Gesicht, das alles Planen, die säuglingsjunge Hoffnung in Scherben schlägt.

Vorstellung abgesagt – der zweite Vertrauensmann will nicht mit oder kann nicht. Wir suchen nicht lange nach dem wahren Grund und verabschieden uns mit verächtlichen Gesichtern. Wenn es auch nicht jedermanns Sache ist, mit russischen Gefängnissen zu spielen und nur auf seinen Mut bauend sich durch feindliche Länder und Heere durchzuschlagen, so braucht man nicht erst mit Versprechungen zu prahlen und mit Plänen zu prunken.

Eine Wut schüttelt uns, die sich langsam zu bitterer, lastender Enttäuschung auswächst. Der Wagen rumpelt uns zu Ismael zurück, der jetzt sein gegebenes Wort einlösen muss. Unterwegs treffen wir Albast, der ganz närrisch ist vor Wiedersehensfreude: »Oh, oh, Germanen, Zar, Kanonen.« Wir sind so höflich, den guten Alten kaum zu beachten.

Gewitterwolken ziehen den Eisriesen schwarze Kappen über die Köpfe. Blitze züngeln an grauen Felswänden herunter und schlagen Flammen in die schwarzen Wälder. Er rüttelt am Kaukasus wie mit tausend Fäusten, Schluchten stöhnen, Donner brüllen. Dann rauscht der Regen. Der Tag versinkt im Gewitter, ohne nochmals aufzuleuchten.

Müde und nass marschieren wir im knöcheltiefen Lehm, der in grossen Klumpen an den langsam mahlenden Rädern hängt. Die Nacht wirft sich mit schwarzen Flügeln über uns, die wir mit dem Donner gegen das Schicksal grollen.

Um Mitternacht stehen wir triefend auf halbem Wege. Albast kauderwelscht etwas von Räubern und dass wir in dieser entfesselten Natur heute nicht mehr zu Ismael kommen.

 

Der Wagen biegt von der Strasse ab, ein Fenster glüht in die Gewitternacht. Hunde bellen alle Einsamkeiten der Berge wach, eine Tür springt im Zugwinde auf. Fünf bewaffnete Männer umringen uns mit schussbereiten Karabinern. Albast spricht auf die dunklen Schatten ein, die Gewehre senken sich. Das alte Zauberwort »Germanen« hat seine Wirkung getan. In einem warmen Zimmer werden die weichsten Kissen ausgebreitet. Wir sind bei den Räubern. Bei Räubern, wie sie in Büchern stehen und durch die Abende phantasiehungriger Knaben huschen. Fünf Männer in der Vollkraft ihrer Jahre haben sich gegen Menschheit und Gesetz verschworen und wachen mit schussbereiten Gewehren in die dunkle Nacht, die vielleicht jemand begünstigt, sich an das verrufene Räubernest heranzuschleichen und einen Racheschuss durch das erhellte Fenster zu jagen. Wilde, breitbrüstige Gesellen mit muskulösen Armen, in den Gesichtern entschlossene Wildheit. Kreuzweise über den Schultern und um die Hüften laufen patronenstarrende Gürtel. Nicht eine Sekunde lassen sie die Gewehre aus den Händen und stürzen in die tobende Gewitternacht, wenn ein Hund anschlägt. Verfemte sind es, Ausgestossene, die zwei-, drei- und mehrfache Blutrache umlauert.

Der Jüngste ist gerade aus den Bergen gekommen, wo er nach Stammesbrauch zwei Jahre in Klüften gehaust hat, allein mit seiner Büchse, um das Räuberhandwerk zu lernen. So ist dieses Volk. Passt einem jungen Manne etwas nicht, so geht er in die Berge, wird Räuber und lebt zwei, drei Jahre fern jeglicher Behausung. Kehrt er zurück (wenn ihn nicht eine rächende Kugel in die Schluchten geworfen), so sagen die Verwandten stolz: »Er ist Räuber gewesen«. Dann ist er ein ganzer Mann, raubt sich ein Weib und baut seinen Mais.

Am nächsten Tage strahlte wieder ein unglaublich blauer Himmel über diesem sonderbaren Lande. Ismael ist von der Regelung des Brautraubes noch nicht zurückgekehrt. Ich sitze wieder am Fenster und schaue den wasserschöpfenden Frauen zu.

Wann, Russland, brechen wir deine Ketten?

Mit verhängten Zügeln jagen Reiter über den Platz, im Galopp die Gewehre ladend. Wie Schatten huschen sie aus dem Ort, jagen durch das Steppental, die Berglehne hinauf und besetzen die Grenze. Der hohe Mais schlägt an vielen Stellen zurück und lässt Lammfellmützen sehen, die über die Grenze nach Russland spähen. Was ist geschehen? Ein atemloser Wächter auf schweisstriefendem Pferde war ins Dorf gesprengt: Kosaken hatten im Nachbardorf Vieh weggetrieben.

Stundenlang lagen die Gassen verödet. Einige ferne Schüsse hallten. Am Abend standen die Männer wieder in Gruppen auf dem Platz: »Es war nichts, natürlich, die Kosaken sind zu feige.« Ein neuer, heisser Tag dörrte das Land. Ich nickte meinen Mittagsschlaf am Fenster. Da fahren Schüsse in meine Traume – ganz nahe. P–st kichern die Kugeln – z–z–z summen die Querschläger.

»Doktor – Kosaken!!!«

Die Schüsse wurden heftiger, deutlich pfiffen die Kugeln über den Häusern. In einer Gasse wirbelt Staub auf, Stimmen kreischen, Reiter fegen, aus den Sätteln schiessend, auf den Platz. Hinter den Reitern jagte ein mit Inguschen vollgepfropfter Wagen. Die Männer schreien und schiessen in die Luft. In einem zweiten Wagen flattern bunte Gewänder, Frauen kreischen, ein dritter Wagen folgt, aus dem dumpf eine Trommel wirbelt: Rrum–da–da, rum–da–da. Ehe der schiessende, johlende Gespensterzug in einer Seitengasse verschwand, erkannte ich Ismael im ersten Wagen. Es war der Hochzeitszug, die geraubte Braut wurde nach Versöhnung der beiden Parteien ins Haus ihrer Schwiegereltern gebracht.

Eine halbe Stunde war tiefste Stille nach dem tobenden Lärm. Dann begann das Schiessen von neuem, dumpf heulte die Trommel: Rrum–da–da, rum–da–da.

Wir bürsteten sorgfältig den Staub aus unseren Tscherkesskas, denn es war anzunehmen, dass man uns zu der Inguschenhochzeit einlud.

Ismael kam, begrüsste uns freundlich und überbrachte eine feierliche Einladung.

Auf grünem Rasen in einem grossen Hof war ein Viereck gebildet, an einer Schmalseite die Greise, gegenüber Musik und Ehrengäste, rechts über hundert schlanke Männer mit erhitzten Gesichtern, links die weibliche Jugend. Hinter den Greisen loderten Feuer, über denen an Spiessen halbe Ochsen und Hammel brieten. Als Ehrengäste sassen wir neben der Musik: Trommel und Ziehharmonika. Im Viereck tanzten einige Paare. Die Mädchen in steifen Kleidern trippelten mit erhobenen Armen seltsame Figuren um ihre Tänzer, die in wilden, fabelhaft gelenkigen Sprüngen den berühmten Tanz der Tscherkessen tanzten.

Zwei Tage wurde getanzt, zwei Tage machte die Trommel: Rrum–da–da, rum–da–da, dass uns die Schädel brummten: Rrum–da–da, rum–da–da.

So eine Hochzeit bietet der nichtverwandten Menschheit verschiedenen Geschlechtes die einzige Gelegenheit, sich zu sehen. Glühende Blicke werden getauscht, heisse Worte beim Tanz geflüstert. Je nach ihrem Geburtsstern bestimmen die Verliebten eine Nacht, in der der Mann zum Hause des Mädchens schleicht, die wartende Braut raubt und mit ihr im Sattel in dunkle Nacht galoppiert. Die Männer wählen den Schönsten unter sich als Vermittler, der zwei Tage lang von rechts nach links über den Tanzplatz geht und Unheil stiftet.

Die Männer sitzen und starren auf den Heiratsmarkt. Einer lässt ein Mädchen mit den Augen nicht los und winkt dem Vermittler: »Die da!«

Der Vermittler berührt das Mädchen mit einem Stock. Ist sie dem Gebot des Mannes nicht willfährig, so packt sie ein Frauenwächter beim Arm und wirbelt sie auf den Tanzplatz. Tanzen wenigstens muss sie mit dem Mann, hat kein Recht sich zu weigern.

Am dritten Abend zeigen die Männer ihre Reitkunst. Auf schönen, meist gestohlenen Pferden rasen sie gegen eine Wand an und parieren kurz vorher durch. Während dieses Reiterspieles wird ohne Zeugen das Brautpaar vom Mullah (Priester) getraut. Einige Schüsse hallen noch in die Nacht, und die Hochzeitsgesellschaft zerstreut sich.

Einen Monat lang darf der Neuvermählte sich bei seinem Weibe tags nicht sehen lassen. Nur nachts schleicht er zu ihr und bei erblassenden Sternen wieder davon. Ist dieser Monat verstrichen, so geht die junge Frau zum erstenmal an den Brunnen und gilt nun als verheiratet.

Nach der Hochzeit betrieb Ismael mit mohammedanischer Eile unsere Flucht. Zwei seiner Verwandten erklärten sich bereit, mit Ismael zusammen uns bis Trapezunt zu begleiten. Durch die russische Front sollten wir mit Hilfe eines einflussreichen Inguschen, der bei Trapezunt mehrere Dutzend Trainfuhrwerke besass, gebracht werden. Unsere drei Begleiter wollten unterwegs Gewehre und Patronen kaufen und in Wagen mit doppeltem Boden in ihr Land schmuggeln. Der Dorfälteste, gleichzeitig Polizeikommissar, brachte Passblankette. Wir erhielten eine neue Haut: Ingusch Soundso, der im Transport Nr. 713 bei Trapezunt fünf Trainfuhrwerke besitzt, die er zu besichtigen fährt.

Diesmal waren die Pässe ganz echt – Stempel echt, Unterschrift echt, Nase, Augen, Mund gewöhnlich, nur die Namen erfunden.


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