Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Lager ist kein Lager, sondern ein weisses Steinhaus, unten Mannschaften, oben Offiziere. Eine Treppe führt in einen Vorraum, in dem – es ist wie Heimkehr – deutsche Mützen und Mäntel hängen. Wir legen unsere Pelze ab, schüchtern wie Kinder vor der Weihnachtsbescherung. Eine Tür geht auf. Ein sehr langer Herr mit sehr langen Schritten kommt dröhnend auf mich zu, begrüsst mich lebhaft. Leise, leise – es soll doch Weihnachten sein! Dann kommt noch ein älterer Herr, ein deutscher Major, beide führen uns in das Zimmer. An einem langen Tisch sitzen vierunddreissig Herren: sechs Deutsche, die anderen Österreicher und Ungarn. Ich werde vorgestellt und auf einen Stuhl gedrückt. Ein Trommelfeuer von Fragen geht los: »Wo, wann gefangen, auf welcher Front, wie steht es in Polen, in Galizien, im Westen, in Italien, auf dem Balkan, zur See?« So geht es, ich antworte jedem und schiebe dabei einen grossen Löffel Gulasch in den Mund. Brr – der ganze Mund brennt wie Feuer. Ich schaue auf den Teller, auf dem etwas Rotes herumschwimmt. Die Ungarn lachen und sagen: »Paprika«. Ich kann sie heute noch nicht essen, diese ungarische Paprika.
Nachher ist Besichtigung. Ausser dem geräumigen Speisezimmer ist da ein deutsches Zimmer, ein Ungarnzimmer, ein kleines für vier Österreicher und das »Flüsterzimmer«. An der Tür ist ein Zettel: »Achtung, Flüsterzimmer«. In diesem Zimmer wird nur leise gesprochen, leise geatmet, leise geschnarcht – nur abends vor dem Schlafengehen ist Krach, aber dann ordentlich. Dort hat mir der lange Herr ein Bett neben dem seinen aufschlagen lassen. Ich müsste unbedingt zu ihm, das verlangt der Korpsgeist, wir sind beide Kavalleristen, beide Dragoner und er ausserdem der einzige Deutsche im Flüsterzimmer. Mein Pilot befreundet sich schnell mit einem kleinen Herrn mit feuerrotem Bart, den sie »Barbarossa« nennen, und verschwindet mit ihm und einem Assessor mit einer grossen Glatze im deutschen Zimmer. Ehe wir noch dran denken können, sind wir untergebracht. Auf einem Strohsack, den gerade zwei Burschen hereingeschleppt haben – wir haben auch Burschen, merkwürdig, was es hier alles gibt –, liegt saubere Wäsche. Die stammt vom langen Dragoner, ist natürlich viel zu gross, aber sauber, so sauber und ohne Läuse. Ein Ungar erscheint mit einem Handtuch über dem Arm, bringt mich in sein Zimmer, in dem mehrere Waschschüsseln mit warmem Wasser stehn. In zehn Minuten bin ich abgeseift und sitze in der frischen Wäsche vor einem Handspiegel. Ein Herr rasiert mich. Jetzt bin ich nach über vier Wochen wieder sauber, wieder deutsch. Während ich mich anziehe, wird mit einem Zentimetermass an mir herumgemessen, Wäschemasse für die deutschen Damen. Donnerwetter, deutsche Damen – was es hier alles gibt in diesem verschneiten Nest hundert Werst von der Bahn.
Dann gehe ich zur »Jause«. Der lange Dragoner gibt mir eine Begrüssungsjause. Ich bin ganz weg. Ehe ich mir noch recht ein Bild gemacht habe, bin ich eingerichtet worden. Bald bin ich mit allem bekannt: den Kameraden, der Hausordnung, den Verpflegungsverhältnissen, dem geselligen Leben, dem Blick auf den Marktplatz, dem halbstündigen Gang auf dem winzigen Hof.
Das Komischste ist die Badeanstalt. Ein kleines Blockhaus mit einem Zimmer, aber wir nennen es grossartig »Badeanstalt«. Bei uns muss der Name eben vieles ersetzen. Nirgends besteht das Leben so aus Illusionen, Phantasien, Namen – wie in Gefangenschaft. Das Bad ist eine putzige Sache. In einem winzigen, eiskalten Vorraum zieht man sich aus und spaziert durch eine Filztür in einen fast finsteren Raum. Hier ist ein Ofen und zwei grosse Kübel mit kaltem und warmem Wasser, dazu mehrere kleine Bottiche. In einer Hitzewelle, die der Ofen, untermischt mit Rauch, in das Zimmer pustet, stehen krebsrote, nackte Gestalten, die mit Wasser und Seife eifrig hantieren.
Ich kann nur auf den Knien durch die Tür hineinkriechen, weil die Hitze mich im Stehen umwirft. Das macht den Herren grossen Spass, wenn ich so zwischen den Kübeln herumkrieche und nach Luft schnappe.
Der Marktplatz ist unser Potsdamer Platz, unsere grosse Welt. Wir hauchen uns Gucklöcher in die Eisblumen der Fenster und schauen wie neugierige Kinder in das Getriebe. Kolossal, was es da alles gibt. Mehrere Buden mit Kaufständen, Holzschlitten mit vereisten Pferden, dick verpackte Marktweiber in grossen Filzstiefeln, zwei Schutzleute, halbe Ochsen, die gefroren im Schnee liegen. Am Sonntag ist etwas ganz Besonderes –, da fahren wir Karussell. Draussen steht nämlich auch ein Karussell mitten im Schnee und dreht sich erst langsam, dann immer toller. Eine quietschende Orgel dröhnt ihre Lieder. Wir hören sie oben – es sind manche deutsche 5tücke darunter. Die Russen hocken in ihren dicken Schafpelzen auf den Holzpferdchen, haben rote Gesichter vor Vergnügen und Kälte und sausen so lange herum, bis uns oben ganz schwindlig wird.
Die ersten Nächte sind fürchterlich. Heimweh ist eine schlimme Krankheit, die alles zernagt, einen langsam auflöst. Diese Krankheit hatte ich die ersten Wochen im Lager. Nirgends kann man eine Minute allein sein, überall stösst man auf jemand, der einen etwas fragt, einen ansieht. Überall trifft man auf Menschen in den engen Räumen und möchte doch allein sein, ganz allein liegen draussen im Schnee mit dem Heimweh. Die Nächte sind eine Erholung. Da schläft man nicht, hockt stundenlang auf dem Bettrande, starrt über die Schläfer hinweg grosse Löcher ins Leere. Dann schleicht man ins Esszimmer, schaut über den Platz, auf dem im Mondschein das Karussell schläft – nach Westen. Die Gedanken wandern über die stillen Wälder, irren durch Deutschland, bis sie in einem Zimmer an einem Bett sind. Dann ist die Sehnsucht da, die zerrt und saugt.
Wenn der Polizist im Morgengrauen über den Platz geht, schleiche ich ins Bett und schlafe. So gehen die ersten Nächte, die ersten Wochen, bis das Heimwehfieber in mir alles ausgelöscht, verwischt hat. Unter der Erinnerung ist wieder ein dicker Strich. Einige Tage quäle ich mich noch nach Gesichtern, Augen, Stimmen – es sind immer die falschen. Dann gebe ich es auf, schlafe wieder in den Nächten, verdöse die Tage.
Stundenlang fahre ich jetzt täglich mit dem Finger über eine Wandkarte von Russland und suche Wege nach Hause. Es muss gehen, es wird gehen; wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Die Herren lachen, wenn sie das hören. »Unmöglich«, heisst es, »auf den zwei einzigen Wegen zur Bahn werden Sie sofort gehoppt, wenn Sie nicht von den Wölfen gefressen werden oder erfrieren«. Ich rede nicht mehr davon und lerne Russisch, Petroff, eine schlechte Grammatik, aber es ist keine andere da. Wenn ich sechs Stunden gebüffelt habe, dass mir ganz schwindlig ist, habe ich eine halbe Stunde wirklich gelernt. So matsch bin ich, so auseinander, Ich lerne auch Vokabeln, zwanzig täglich, und behalte zwei.
Langsam rückt Weihnachten heran; die Herren sind ganz still geworden, noch stiller als sonst, auch die lauten. Sie laufen alle herum, als suchen sie etwas, das sie nicht finden können.
Ich denke viel an Weihnachten 1914 im Felde. Da sass ich in Frankreich in meinem Quartier allein vor dem Kamin, trank Rotwein und war mit den Gedanken zu Hause.
Der Heilige Abend ist da. Wir haben uns alle gefürchtet, aber er kam doch. Einige Herren versuchen Stimmung zu machen. Es gelingt nicht und wirkt lächerlich.
Wir haben einen Weihnachtsbaum; eine grosse, schlanke Tanne mit weissen Lichtern. Die Lampen sind ausgelöscht. Die weissen Kerzen strahlen, strahlen viel zu hell für unser Weihnachten. Wir sehen alle aneinander vorbei in den Baum und suchen dort jeder, wen er Liebes hat zu Hause. Über bleiche, harte, kampferprobte Männergesichter läuft ein Zucken. Es ist aus mit der Beherrschung, die Lichter, das deutsche Weihnachten wühlen alles herauf, was weich ist im Menschen. Neben mir in braunen Jungensaugen, die zu früh alt werden mussten, glitzert es feucht, auch in anderen Männeraugen. Oder ist es nur der Widerschein der Kerzen? Dürfen Männer weinen?