Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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XI.

Die Menge geriet wieder in Bewegung. Die dumpfen Stöße taten den Körpern furchtbar weh. Schwere Stiefel traten auf die zarten leichtbeschuhten Kinderfüße.

Nun konnten sie nicht mehr länger bei der Bretterwand bleiben. Die Menge riß sie fort und schloß sie in einen engen Ring ein. Und wieder umfing sie das Grauen der schwülen Enge.

Die Kinder hoben die Köpfe in die Höhe, und ihre Lippen haschten gierig nach der himmlischen Kühle, während ihre Lungen im schweren, sinnlosen Gedränge beinahe erstickten.

Sie wußten nicht mehr, ob sie sich fortbewegten oder unbeweglich auf einem Fleck standen. Sie wußten auch nicht mehr, wieviel Zeit vergangen war.

Die Kinder vergingen vor Sehnsucht nach freiem Raum.

Und vor Durst.

Der Durst war ganz langsam herangeschlichen. Schließlich meldete er sich in klagenden Worten:

»Ich möchte trinken!« sagte Ljoscha.

Als er das sagte, fühlte er, daß seine Lippen schon längst trocken waren und daß sein Gaumen verschmachtete.

»Auch ich möchte trinken,« sagte Katja, die bleichen, ausgetrockneten Lippen mit Mühe bewegend.

Nadja schwieg. Aber ihrem blassen, plötzlich eingefallenen Gesicht und den trockenen glänzenden Augen konnte man ansehen, daß auch sie vor Durst verging.

Trinken! Wenigstens einen Schluck Wasser! Heiliges, liebes, kühles, frisches Wasser . . .

Es war aber unmöglich, auch nur einen Schluck Wasser zu bekommen.

Der kühle Hauch vom fernen Himmel kam jetzt nur noch ruckweise und immer seltener. Er verbrannte, sobald er nur die gierig aufgerissenen Münder berührte.

Nadja schluchzte auf. Sie fuhr zusammen und schluchzte wieder. Und dann kam das Schluchzen jeden Augenblick.

Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. So quälend war das Schluchzen in der schwülen Enge.

Ljoscha blickte ängstlich auf Nadja. Wie blaß sie plötzlich geworden war!

»Mein Gott,« sagte Nadja, wieder schluchzend. »Diese Qual! Was brauchten wir auch herzukommen!«

Katja begann leise zu weinen. Kleine Tränentropfen rollten ihr schnell die Wangen herab, und sie konnte sie nicht abwischen: man hatte sie so furchtbar zusammengedrückt, daß sie keine Hand rühren konnte.

»Was drängen Sie so?« wimmerte irgendwo in der Nähe ein dünnes Stimmchen. »Sie zerdrücken mich ja!«

Eine heisere, trunkene Baßstimme erwiderte böse:

»Was? Ich zerdrücke dich? Paßt dir das nicht? Du kannst mich ja auch drücken. Hier sind alle gleich, hol's der Teufel!«

»Ach, ach, man zerdrückt mich ja ganz!« klagte wieder das gleiche dünne Stimmchen.

»Jammere nicht so, Rotznase!« dröhnte die wütende Baßstimme. »Kommst schon einmal nach Hause, oder man trägt dich hin. Man wird dir schon die Gedärme herausdrücken, du Hundesohn!«

Nach wenigen Augenblicken hörte man ein feines, durchdringendes Wimmern ohne Worte. Und die wütende Stimme fuhr wieder dazwischen:

»Jammere nicht!«

Und dann kam wieder ein ersticktes Klagen.

Jemand schrie auf:

»Ein kleines Kind hat man erdrückt! Die Knochen krachen nur so. Heilige Himmelskönigin!«

»Ja, hört ihr, wie die Knochen krachen?« jammerte irgendeine Frau.

Ihre Stimme klang irgendwo in der nächsten Nähe, aber ihr Gesicht war nicht zu sehen.

Einen Augenblick später schien die Stimme schon aus weiter Ferne zu kommen. Hatte sie der Menschenstrom plötzlich fortgetragen?

Die Kinder waren von der Menge so sehr zusammengedrückt, daß sie kaum noch atmen konnten. In heiserem Flüsterton sprachen sie miteinander. Sie konnten die Köpfe nicht mehr wenden, um einander anzublicken.

Es war auch zu schrecklich, einander anzublicken und die Todesangst auf den lieben, im bleigrauen Dämmerlicht so unheimlich düsteren Gesichtern zu sehen.

Nadja hatte noch immer das Schluchzen. Nun begann auch Katja zu schluchzen.

Die ganze so schrecklich und so sinnlos zusammengedrückte Menge hatte wohl nur das eine noch unbewußte und darum doppelt qualvolle Bestreben: sich aus dem furchtbaren Schraubstock zu befreien.

Es gab aber keinen Ausgang mehr, und die wahnsinnige Menge, die auf diesem weiten Felde, unter dem weiten Himmel aus freiem Willen zusammengepreßt war, geriet allmählich in Raserei.

Die Menschen wurden zu Tieren und sahen die Kinder mit tierischer Bosheit an.

Man hörte heisere, entsetzliche Worte.

In der Nähe berichtete jemand seltsam gleichgültig, daß es in der Menge schon Erdrückte gäbe.

»Der Tote steht noch da, so furchtbar hat man ihn zusammengedrückt,« flüsterte jemand in der Nähe. »Er ist ganz blau, und der Kopf wackelt hin und her.«

»Hörst du es, Nadja?« sagte Katja leise: »Man sagt, daß da ein Toter steht.«

»Es ist wohl nicht wahr,« antwortete Nadja ebenso leise. »Er wird wohl bloß ohnmächtig sein.«

»Vielleicht ist es doch wahr?« sagte Ljoscha.

Seine heisere Stimme bebte vor Angst.

»Es kann nicht sein,« meinte Nadja, »ein Toter würde doch umfallen!«

»Wohin sollte er fallen?« entgegnete Ljoscha.

Nadja sagte darauf nichts. Sie mußte schon wieder schluchzen.

Ein altes Weib mit zerzaustem grauem Haar bewegte sich, die Hände über dem Kopfe schwingend, gleichsam durch die Menge schwimmend, auf die Udojews zu. Mit wahnsinnigen Schreien drängte sie sich an ihnen vorbei, und er war so schmerzvoll, wie wenn ein Nagel durch die Menge getrieben würde.

Ihr rasendes Schreien und ihr Auftauchen im trüben Dämmerlichte erschien als ein schwerer gespenstischer Traum. Von diesem Augenblick an war alles, was die Sinne der erstickenden Kinder erfaßten, wie ein Alpdruck, wie ein Delirium.


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