Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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IX.

Kolja konnte lange nicht einschlafen. Er war seltsam erregt. Er dachte daran, was ihm Wanja von seinen Tagträumen erzählt hatte, und sie verlockten ihn, dasselbe zu träumen. Wie macht man es nur!

Am Morgen bat Kolja seine Mutter um Erlaubnis, heute nichts essen zu dürfen. Die Mutter war im ersten Augenblick sehr erschrocken.

»Was fehlt dir denn?« fragte sie ihn.

Als sie aber erfuhr, daß ihm nichts fehlte, und daß er einfach hungern wollte, wurde sie böse und erlaubte es ihm nicht.

»Das sind Wanjas Einfälle,« sagte sie. »Von diesem Gassenjungen kommt nichts Gutes.«

Kolja gestand, daß er mit Wanja ausgemacht hatte, heute den ganzen Tag nichts zu essen.

»Wie kann ich essen, wenn er hungert?« fragte er verlegen.

Aber die Mutter sagte sehr entschieden:

»Du darfst daran nicht einmal denken.«

Kolja fühlte sich tief unglücklich. Er versuchte zu fasten, aber die Mutter befahl ihm so streng zu essen, daß er ihr folgen mußte. Er aß und fühlte sich dabei schuldbeladen. Die Mutter runzelte die Stirne und lächelte.

Wanja aber hungerte den ganzen Tag. Seine Mutter sagte ihm vollkommen ruhig:

»Wenn du nicht fressen willst, so friß eben nicht. Du wirst daran nicht krepieren. Und wenn du auch krepierst, so ist der Verlust nicht schwer.«

Am Abend trafen sich die Jungen wieder im Graben. Kolja fiel es auf, wie Wanjas Augen vor Hunger brannten, und wie mager sein Gesicht geworden war. Er blickte ihn mit zärtlichem Mitleid und tiefer Ehrfurcht an. Von dieser Stunde an war er Wanjas Sklave.

»Hast du gefressen?« fragte ihn Wanja.

Kolja machte eine schuldbewußte, süßsaure Miene.

»Man hat mich gezwungen,« sagte er schüchtern.

»Ach du!« sagte Wanja verächtlich.


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