Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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Raja

I.

An einem heiteren Herbstnachmittag gingen zwei Jungen durch eine belebte Straße aus der Schule heim. Der eine von ihnen, Dimitrij Darmostuk, war tief betrübt, weil in seinem »Journal« ein Vierer stand. Trauer und Angst waren deutlich in seinem mageren Gesicht mit der großen Nase und den feinen, immer lächelnden Lippen geschrieben.

Darmostuk war der Sohn einer Köchin, aber immer sauber gekleidet und sorgfältig gewaschen. Für seine dreizehn Jahre war er auffallend groß.

Der andere, Nasarow, ein echter Galgenstrick, war zerzaust und abgerissen und trug schiefgetretene ungeputzte Stiefel und eine von der Sonne ausgebleichte Mütze. Er war unproportioniert gebaut, hager und ausgemergelt. Sein blasses, gleichsam ausgetrocknetes Gesicht wurde oft von einem Krampfe verzerrt; wenn er aber aufgeregt war, zitterte er am ganzen Leibe, zwinkerte mit den Augen und stotterte.

»Nicht umsonst juckte mir heute früh das rechte Auge,« sagte Darmostuk, die schmächtigen Schultern wie vor Kälte zuckend. »Ich wußte ja, daß ich heute etwas Böses erlebe.«

»Ein Narr bist du! Wer traut solchem Aberglauben?« erwiderte Nasarow, bei jedem »r« stotternd. »Weißt du was? Trenne dein Journal auf!«

»Wie?« fragte Darmostuk mit scheuer Neugierde.

»Weißt du es denn nicht?« sagte Nasarow erregt, das Gesicht verzerrend und sonderbar die Hände bewegend. »Du nimmst das Blatt mit dem Vierer heraus und nähst ein sauberes Blatt hinein, das du aus einem anderen Journal herausnimmst. Du zeigst das Journal der Mutter und nähst dann wieder das alte Blatt hinein.«

Nasarow lachte, hob ein Knie und klatschte darauf mit der Hand.

»Wo soll ich aber ein sauberes Blatt hernehmen?« fragte Mitja zweifelnd.

»Ich will dir eines aus meinem Journal verkaufen,« flüsterte Nasarow, ängstlich nach allen Seiten schielend. »Ich werde zu Hause sagen, daß ich mein Journal verloren habe, und mir ein neues kaufen. Verstehst du das?«

»Man wird ja sehen, daß ich das Journal aufgetrennt habe,« entgegnete Mitja.

»Man kann das Blatt herausnehmen auch ohne das Journal aufzutrennen,« sagte Nasarow mit dem sichern Lächeln eines erfahrenen Fachmanns.

»Ist's wahr?« fragte Mitja ungläubig.

Das Lächeln einer schwachen Hoffnung huschte über seine blassen Lippen.

»Bei Gott!« sagte Nasarow überzeugt: »Man braucht das Heft nur oben und unten einzureißen. Ich will es dir gleich zeigen. Gib dein Journal her. Wollen wir hier in diesen Torweg hineingehen?«

»Ich habe Angst,« sagte Mitja unentschlossen, die Augen vor dem Winde schließend, der vom Pflaster Staubwolken aufwirbelte.

Nasarow hatte aber schon aus seinem Ranzen das »Journal« herausgezogen, – ein für alle Schultage des Jahres eingeteiltes und zum Eintragen von Hausaufgaben, Zensuren und Mitteilungen an die Eltern bestimmtes Heft. Die Freunde traten in die Einfahrt eines großen Hauses und blieben stehen. Darmostuk mußte diesen Hof passieren, um nach Hause zu gelangen; Nasarow ging ihm aber nach und bot ihm immer ein Blatt aus seinem Journal zum Kaufe an. Ihre Stimmen hallten laut unter der Wölbung der Einfahrt, und der Widerhall jagte Mitja Angst ein.

»Gib mir fünfzehn Kopeken dafür!« sagte Nasarow. »Das Journal kostet ja zwanzig, und ich kann mit einem aufgetrennten nichts mehr anfangen. Ich lasse es dir so billig, weil ich es vielleicht einmal selbst brauchen kann. Für jeden Fall, weißt du!«

»Es ist zu teuer,« sagte Darmostuk, neidisch auf Nasarows Journal blickend.

»Zu teuer? Dummkopf! Geh, such dir eines, das billiger ist!« rief Nasarow ärgerlich und zeigte Mitja seine lange dünne Zunge.

»Ich brauch' es ja gar nicht.«

Mitja wandte sich weg und bemühte sich, den verbrecherischen Wunsch zu unterdrücken.

»Nun, gib wenigstens zehn Kopeken her!« begann Nasarow von neuem mit freundlicher Stimme. »Fünf Kopeken? Schlage schnell ein, morgen werde ich wieder zwanzig verlangen!«

Nasarow umklammerte Darmostuks Hände mit seinen kalten Fingern und schnitt furchtbare Fratzen.

»Es ist eine Sünde,« stammelte Mitja errötend.

»Was? Eine Sünde?« ereiferte sich Nasarow: »Und ist es vielleicht keine Sünde, einem so mir nichts, dir nichts einen Vierer ins Journal zu schreiben?«

Mitja konnte man leicht ansehen, daß er der Versuchung nicht mehr lange wiederstehen würde. Nasarow war aber schon wieder böse geworden und machte eine Grimasse, die die bitterste Verachtung ausdrücken sollte.

»Hol dich der Teufel!« schrie er, vor Ärger wie ein Hampelmann zappelnd. Dann steckte er das Journal wieder in den Ranzen und lief fort.

Mitja ging langsam und nachdenklich durch den Hof. Der Hof war langgestreckt, schmal und schlecht gepflastert. Im Rückgebäude gähnte finster ein Tor, – der Durchgang in die andere Straße. Mitten durch den Hof ging ein schmaler von Steinplatten gebildeter Fußsteig. Rechts und links erhoben sich dreistöckige Seitengebäude mit schmutziggelben Mauern und braunen, zur besseren Lüftung durchlochten hölzernen Vorratskisten vor den Küchenfenstern. Einfache Frauen in Kopftüchern und Handwerker gingen vorbei. Hie und da lag noch Kehricht umher. Mitten im Hofe stand ein zerbrochenes Faß, und daneben spielten lustig lachend schmutzige, barfüßige Kinder. Es roch dumpf und widerlich.

Ach, wenn er sein Journal nur der Mutter zu zeigen brauchte! Er muß es aber auch der Gnädigen zeigen . . . Vor der Gnädigen, die furchtbar viel redet, sehr wichtig tut, mit ihrem seidenen Kleid rauscht und stark nach Parfüm riecht, hat er eine namenlose Angst.

Er muß auch an seine Mutter denken. Mitja weiß, daß sie schimpfen und weinen wird. Sie ist so erbittert und so arm. Sie arbeitet, – und Mitja weiß, daß er etwas lernen muß, um ihr, wenn sie einmal alt ist, ein Obdach geben zu können.

Auf der Straße dröhnten Fuhrwerke. Mitja fühlte in allen seinen Knochen, wie die Pflastersteine erzitterten, und dieses Zittern erschreckte ihn ebenso wie das dumpfe Dröhnen.

Plötzlich hörte er irgendwo in der Höhe ein feines Lachen und eine helle, lallende Kinderstimme. Mitja hob die Augen. Im dritten Stock des Rückgebäudes sah er im Fenster ein etwa vierjähriges Mädchen, und das Mädchen gefiel ihm auf den ersten Blick. Von der Sonne beleuchtet, lag es auf dem Fensterbrett, hielt sich mit den dicken Händchen am roten Eisenblech fest und blickte mit leuchtenden Augen auf die kleinen Mädchen hinunter, die lachend im Hofe herumliefen. Das Mädchen oben freute sich über die unten spielenden Kinder. Es beugte sich hinab, lachte und schrie etwas, was man unten nicht verstehen konnte.

Mitja krampfte sich plötzlich das Herz zusammen. Im ersten Augenblick konnte er gar nicht begreifen, was ihm solche Angst machte. Dann kam ihm der Gedanke, daß das Kind herunterfallen könne, daß es gleich herunterfallen werde. Mitja erbleichte und blieb wie angewurzelt stehen. Ein ihm wohlbekannter Kopfschmerz preßte ihm die Schläfen zusammen.

Das Fenster ist so hoch, – und das Mädchen beugt sich hinaus, schreit und lacht. Es ist so hoch, und nur ein schmaler abschüssiger Blechstreifen trennt das Kind vom gähnenden Abgrund. Mitja denkt, daß es dem Mädchen schwindeln müsse. Es wird sich nicht halten können, – sagte er sich entsetzt. Und da scheint es ihm schon, daß das Mädchen nicht mehr lache, daß es auch schon Angst habe.

Ein böser Gedanke bemächtigte sich seiner für einen kurzen Augenblick und ließ ihn erzittern: er fühlte das brennende Verlangen, daß das Mädchen doch schneller herunterfallen möchte, damit er nicht mehr diese Angst auszustehen brauchte. Kaum hatte er aber diesen Wunsch in sich wahrgenommen, als er auch sah oder vielmehr fühlte, wie das Kind das Gleichgewicht verlor, wie es sich mit seinen schwachen Händchen am schmalen Fensterblech nicht mehr festhalten konnte, – und er lief mit hocherhobenen Armen auf das Haus zu. Im gleichen Augenblick schrie das Mädchen auf, überschlug sich in der Luft und flog wie ein vom Dachboden heruntergeworfener Pack Wäsche an den Fenstern vorbei.

Mitja blieb im Laufen wie angewurzelt stehen und ließ die Hände kraftlos sinken. Das Mädchen schlug mit dem Nacken auf den Pflastersteinen auf. Mitja hörte deutlich, wie ihr Schädel krachte: es klang so leise wie wenn es eine Eierschale wäre. Dann fiel es weich auf den Rücken und blieb, die Arme nach beiden Seiten ausgespreizt, in seltsam gekrümmter Haltung vor Mitjas Füßen liegen; die Augen waren halbgeschlossen und die Lippen schmerzlich verzerrt.

Zwei Jungen, die den Sturz nicht gesehen hatten, liefen noch immer lachend über den Hof, und ihre Stimmen klangen so sonderbar und gemein. Die Mädchen standen aber zitternd vor Schreck und stumm da und glotzten das Kind an, das so unerwartet ihnen vor die Füße gefallen war. Es war noch hell, auf dem Hofe lag der blasse Widerschein der Sonnenstrahlen, die sich in den Fenstern der oberen Stockwerke spiegelten, – und das Blut rieselte langsam unter den blonden Haaren des Mädchens hervor und vermischte sich mit dem Staub und dem Kehricht.

Eines der Mädchen, das sehr schwach und zerbrechlich schien, schlug plötzlich die kleinen Händchen über dem Kopf zusammen und stieß einen durchdringenden Schrei ohne Worte aus. Sein Gesicht war rot und verzerrt, und kleine Tränentropfen spritzten aus den zusammengekniffenen Augen hervor und flossen über die schmalen Wangen. Unaufhörlich schreiend, die Arme vorstreckend, wich es, von Angst gepackt, zur Seite. Es stieß auf Mitja, taumelte zurück und lief schreiend und weinend weiter.

Jemand begann leise und scheu zu wimmern. Die Jungen, die eben noch gespielt hatten, standen neben Mitja und blickten das verunglückte Kind mit stumpfer Neugier an. In einem der Fenster erschien eine dicke Frau mit weißer Schürze und begann schnell und aufgeregt zu sprechen. Auch aus den anderen Fenstern blickten die Leute heraus. Der Hausmeistersgehilfe, ein Bursche mit weißem Gesicht, in roter gestrickter Jacke, kam langsam und gleichgültig herbei, blickte das Mädchen mit seinen großen leeren Augen an, stützte sich mit beiden Händen auf den Besen und ließ seine Blicke über die Fensterreihen schweifen. Als er den Kopf langsam hebend, mit dem Blick die obere Fensterreihe erreicht hatte, huschte über sein aufgedunsenes Gesicht der trübe Ausdruck irgendeiner unklaren Empfindung.

Um das Kind herum sammelten sich schon schreiende Leute. Ein Handwerker in Hausschuhen, mit einem Riemen um die Stirne, fuchtelte mit den Händen und schrie:

»Einen Schutzmann her!«

»Diese Sünde, dieses Unglück!« jammerte ein kleines Großmütterchen, über seine Schulter blickend.

»Die Mutter hat nicht acht gegeben!« meinte irgendeine böse Frau mit grauem Kopftuch.

Der Ober-Hausmeister in schwarzem Röckchen mit schwarzem Vollbart und vor Schreck blassem Gesicht kam langsam herbei.

»Lauf schnell hin!« sagte er zu seinem Gehilfen.

Der Bursche mit dem weißen Gesicht ging langsam auf das Tor zu.

»Man hat schon auf die Polizei geschickt!« flüsterte jemand hinter Mitjas Rücken.

»Was nützt's? Das Kind ist ja schon kaput!« sagte eine derbe Männerstimme.

Mitja staunte darüber, daß das Kind tot dalag, wie über etwas Unmögliches.

Plötzlich erklang von der Höhe ein wildes, immer anwachsendes Geheul. Es kam immer näher. Aus dem Hauseingang an der Ecke stürzte wild schreiend eine zerzauste, blasse Frau. Sie hielt die zitternden Arme vorgestreckt und fiel ungestüm über das tote Mädchen her.

»Rajetschka! Rajetschka!« schrie sie und fing an, mit den bebenden Lippen auf die Händchen des Kindes zu blasen. Als sie die Kälte dieser Händchen fühlte, fuhr sie zusammen, packte Rajetschka an den Schultern und versuchte sie in die Höhe zu heben. Rajetschkas Kopf fiel aber leblos zurück. Die Mutter schrie verzweifelt auf und wurde ebenso rot wie das kleine Mädchen vorhin.

»Die Mutter!« flüsterte das Großmütterchen hinter Mitjas Rücken.

Die Pflastersteine erzitterten, – auf der Straße fuhren Wagen mit Eisen vorbei. Mitja bekam plötzlich Angst und lief davon.


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