Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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XIII.

Mitja entschloß sich wieder, die Stunden zu schwänzen. Er hatte noch für das vorige Mal bei Nasarow ein Blatt aus dem Journal gekauft. Nun galt es nur noch, die Eintragung der Gnädigen: »Krankheitshalber gefehlt« zu fälschen: Aksinja konnte weder lesen noch schreiben, und die Eintragungen und Unterschriften in Mitjas Journal wurden von der Gnädigen gemacht. Nasarow übernahm es, dieses Blatt und Mitjas Journal zu einem seiner Freunde zu tragen, der im Nachahmen von Handschriften sehr geschickt war, und es morgen fertig mit dem Journal zurückzubringen.

Mitja teilte sich den Tag wie folgt ein: morgens wird er spazieren gehen, dann nach Hause zurückzukehren, zu Mittag essen, nach dem Essen der Mutter sagen, daß er wieder zu einer Chorprobe müsse, und statt zur Chorprobe zu Dunja gehen. Morgens begab er sich auf den Friedhof.

In der Friedhofskirche liegen Leichen und herrscht Leichengeruch. Mitja kniet auf den Steinfliesen vor dem Altar und betet. Blaue Weihrauchwolken steigen empor und füllen die Kirche. Am Altar geht Raja, halb durchsichtig und leicht auf und ab. Sie strahlt vor Freude. Sie ist weiß gekleidet, ihre Arme sind entblößt, die Haare fallen in breiten hellen Strähnen bis über den Gürtel herab. Um den Hals trägt sie Perlen, und auch ihr leichter Kopfschmuck ist mit Perlen bestickt. Sie ist so weiß, wie kein lebendes Wesen, und wunderschön.

Sie blickt Mitja mit dunklen, freudigen und zugleich ernsten Augen an, und er fühlt den Wunsch zu sterben. Ist sie nicht der Tod selbst? Der schöne Tod! Wozu soll er dann noch leben?

Rajas Stimme klingt so hell und klar. Mitja hörte nicht, was sie sagt. Er lauscht gespannt dem Widerhall ihrer Worte in seinem Innern, und durch die Qual seines Kopfschmerzes hindurch hörte er ihre leise wehenden milden Worte:

»Fürchte dich nicht!«

Es freut sich, daß alles so dunkel sein wird wie in Rajas Augen, daß alles zur Ruhe kommen wird – die Schmerzen, die Sehnsucht und die Angst. Er muß sterben wie Raja und so sein, wie sie.

Es ist so süß, im Gebet und im Anblick des Altars, des Weihrauchs und Rajas unterzugehen und sich selbst und die Steine und alle schrecklichen Gespenster des trügerischen Lebens zu vergessen.

Raja ist ganz nahe.

»Warum bist du weiß?« fragt Mitja leise.

Und Raja antwortet ebenso leise:

»Nur wir allein sind weiß. Ihr alle seid rot.«

»Warum?«

»Ihr habt Blut.«

Rajas Stimme klingt so hell und leise wie die Kette des Weihrauchfasses vor dem Altar. Raja steigt im blauen Rauch, ganz durchsichtig und blau, zu der Kirchenkuppel empor. Alles kleidet sich vor Mitjas Augen im blauen Nebel. Hinter den Kirchenwänden ist bange Angst, dunkle Gespenster lauern auf ihn, und er kann ihnen nicht entrinnen.


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