Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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IV.

Am nächsten Abend vor der Teestunde erinnerte sich Wolodja wieder an die Schatten und machte sich wieder an diesen Zeitvertreib. Ein bestimmtes Bild wollte ihm immer nicht gelingen, was er mit seinen Fingern auch anfangen mochte.

Wolodja war in diese Beschäftigung so vertieft, daß er gar nicht merkte, wie die Mutter ins Zimmer trat. Als er die Türe knarren hörte, steckte er das Heft schnell in die Tasche und wandte sich verlegen von der Wand weg. Die Mutter blickte aber schon auf seine Hände, und ein leiser Argwohn durchzuckte ihre großen Augen.

»Was treibst du hier, Wolodja? Was hast du eben versteckt?«

»Es ist nichts!« stammelte Wolodja errötend und verlegen.

Die Mutter glaubte, daß Wolodja eben rauchen wollte und die Zigarette versteckt habe.

»Wolodja, zeig mir sofort, was du eben in die Tasche gesteckt hast!« sagte sie erschrocken.

»Wirklich, Mutter . . .«

Die Mutter faßte ihn am Ellbogen.

»Soll ich vielleicht selbst in deiner Tasche nachsehen?«

Wolodja errötete noch mehr und zog aus der Tasche das Heftchen heraus.

»Hier!« sagte er, es der Mutter reichend.

»Was ist das?«

»Es sind Bildchen darin,« erklärte Wolodja, »siehst du, Schatten. Ich wollte sie auf die Wand werfen, aber sie gerieten mir nicht recht.«

»Nun, was gibt's denn da zu verstecken?« sagte die Mutter beruhigt. »Was sind's für Schatten? Zeig sie mir einmal!«

Wolodja schämte sich, gehorchte aber der Mutter und begann die Schatten vorzuführen.

»Siehst du, das ist der Kopf eines Herrn mit einer Glatze, und das da – ein Hasenkopf!«

»Ach du!« sagte die Mutter. »So machst du also deine Aufgaben!«

»Ich habe mich nur ein wenig damit abgegeben, Mutter.«

»Ja, ein wenig! Warum bist du aber so rot geworden, mein Lieber? Ich weiß zwar, daß du alles, was du mußt, gewissenhaft machst.«

Die Mutter fuhr ihm mit der Hand in seine kurzen Haare. Wolodja lachte und barg sein glühendes Gesicht zwischen ihren Armen.

Die Mutter ging hinaus, und Wolodja fühlte sich noch immer beschämt und etwas ungemütlich. Die Mutter hatte ihn bei einem Zeitvertreib erwischt, über den er wohl selbst lachen würde, wenn einer seiner Schulkameraden sich damit abgegeben hätte.

Wolodja wußte, daß er ein kluger Junge war, und hielt sich selbst für sehr ernst. Und doch gab er sich mit einer Sache ab, die für ein Mädchenkränzchen passen würde.

Er steckte das Heft mit den Schatten tief in die Schublade seines Tisches und nahm es mehr als acht Tage nicht heraus. Acht Tage dachte er sogar fast nie an die Schatten. Höchstens ab und zu am Abend, wenn er seine Aufgaben machte und von einem Gegenstand zum andern überging, lächelte er beim Gedanken an den gehörnten Mädchenkopf, wollte sogar das Heft wieder herausholen, erinnerte sich aber gleich daran, wie ihn die Mutter neulich ertappt hatte, schämte sich und lernte weiter.


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