Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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XI.

Die Mutter nahm das Heft mit den Schatten zu sich ins Zimmer, schlug es auf und wurde nachdenklich.

»Was ist denn Verlockendes darin?« dachte sie. »Er ist doch ein vernünftiger, lieber Junge und gibt sich mit solchem Unsinn ab!«

»Nein, es wird wohl kein Unsinn sein!«

»Was mag denn dahinterstecken?« fragte sie sich beharrlich.

Eine seltsame Furcht stieg in ihr auf: die schwarzen Bilder flößten ihr ein feindseliges, ängstliches Gefühl ein.

Sie stand auf und zündete eine Kerze an. Sie trat mit dem grauen Heft vor die Wand und blieb, von einer bangen Furcht ergriffen, stehen.

»Ich muß doch endlich erfahren, was daran ist!« sagte sie sich und begann die Schatten, einen nach dem andern nachzubilden.

Sie legte die Finger aufmerksam und gewissenhaft zusammen und drehte die Hände so lange, bis sie die Figur erhielt, die sie brauchte. Eine unklare Angst regte sich in ihr. Sie versuchte, sie niederzukämpfen. Die Angst wurde aber immer größer und ließ sie nicht aus ihrem Bann. Ihre Hände zitterten, und die durch die Dämmerung des Lebens eingeschüchterten Gedanken eilten drohenden Qualen entgegen . . .

Plötzlich hörte sie die Schritte ihres Sohnes. Sie fuhr zusammen, versteckte das Heft und blies die Kerze aus.

Wolodja blieb an der Schwelle stehen. Der strenge Blick der Mutter und ihre ungeschickte, sonderbare Stellung vor der Wand verwirrten ihn.

»Was willst du?« fragte die Mutter mit strenger, unnatürlich gespannter Stimme.

Eine dunkle Ahnung durchzuckte Wolodja. Er wollte sie von sich abschütteln und begann mit der Mutter irgendein Gespräch.


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