Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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XXII.

Die Mutter beobachtet Wolodja beim Mittagessen.

»Er ist blaß geworden und hat abgenommen, seit er das unglückselige Heft in die Hand bekommen hat. Er ist ein anderer geworden, sein Charakter und alles hat sich verändert.

Es heißt, daß der Charakter des Menschen sich vor dem Tode ändert . . . Und wenn Wolodja stirbt?

Ach nein, nein, behüte Gott!«

Der Löffel zitterte in ihrer Hand. Sie richtete die erschrockenen Augen auf das Heiligenbild.

»Wolodja, warum ißt du die Suppe nicht?« fragt sie besorgt.

»Ich habe keine Lust, Mutter.«

»Wolodja, mein Schatz, mach keine Geschichten, es ist doch schädlich, keine Suppe zu essen!«

Wolodja lächelt träge und löffelt langsam die Suppe aus. Die Mutter hat ihm diesmal zu viel Suppe in den Teller gegeben. Er lehnt sich zurück und will, um seinem Ärger Luft zu machen, der Mutter sagen, daß die Suppe schlecht geschmeckt habe. Aber die Mutter hat ein so besorgtes Gesicht, daß er es nicht zu sagen wagt und nur schwach lächelt.

»Jetzt bin ich satt,« sagt er.

»Ach nein, Wolodja, heute gibt es ja deine Lieblingsspeisen!«

Wolodja seufzt traurig auf: er weiß, daß, wenn die Mutter von seinen Lieblingsspeisen spricht, er wieder gemästet werden soll. Er ahnt schon, daß die Mutter ihn auch beim Abendtee wie gestern zwingen wird, Fleisch zu essen.


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