Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII.

Der Abend rückte heran, und Kolja war noch immer nicht zu Hause. Seine Mutter wurde unruhig und schickte das Dienstmädchen zu den Nachbarn. Das Dienstmädchen kam zurück und berichtete:

»Wanja Selenjew ist auch noch nicht heimgekommen.«

»Sie treiben sich wohl zusammen herum. Ich werde es ihm schon zeigen!« sagte Koljas Mutter zornig.

Sie war sehr erschrocken. Ihrem Jungen konnte ja verschiedenes zugestoßen sein. Sie malte sich schon schreckliche Bilder von Koljas Tode.

Sie stand vor der Gartenpforte und blickte besorgt auf die Straße hinaus, plötzlich hörte sie hinter ihrem Rücken leise und schnelle Schritte. Sie wandte sich um. Es war Kolja: er war durch die Hinterhöfe heimgekommen. Die Mutter schrie entsetzt auf:

»Kolja! Wie siehst du denn aus? Der Ärmel ist abgerissen. Wo sind deine Schuhe?«

Kolja lachte lustig, winkte mit der Hand und sagte:

»Die Schuhe sind fortgeschwommen . . . Weit weg sind die Schuhe!«

Die Mutter erschrak vor seiner veränderten heiseren Stimme. Kolja bewegte mit Mühe die Zunge, war ganz blaß, aber sehr lustig. Er begann schnell, doch zusammenhanglos und unverständlich von seinen Abenteuern zu erzählen. Er wunderte sich, daß seine Mutter nicht auch über die lustige Geschichte lachte.

»Du riechst ja nach Wein!« rief die Mutter entsetzt aus.

Ihr betrunkener Sohn erschien ihr so schrecklich, daß sie ihren Augen nicht traute. Kolja aber berichtete vergnügt:

»Mama, wir haben im Graben Madeira getrunken. Er schmeckte wunderbar. Wir haben auch Schiffchen schwimmen lassen, zwei Schiffchen. Das war so schön, so lustig!«

Die Mutter war entsetzt, Kolja aber schwatzte immer weiter.

Die Mutter brachte ihn schließlich zu Bett, und er schlief schnell ein. Dann begab sie sich zu den Selenjews.


 << zurück weiter >>