Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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Schatten

I.

Wolodja Lowljew, ein schmächtiger, blasser Junge von etwa zwölf Jahren, war soeben aus dem Gymnasium heimgekommen. In Erwartung des Mittagessens stand er im Eßzimmer am Klavier und blätterte im neuesten Hefte der ›Niwa‹, das heute früh mit der Post gekommen war.

Aus der Zeitung, die neben der ›Niwa‹ lag und eine ihrer Seiten zudeckte, fiel ein kleines Heft aus dünnem grauem Papier heraus, – der Prospekt irgendeiner illustrierten Zeitschrift. Der Herausgeber zählte darin die zukünftigen Mitarbeiter auf – es waren an die fünfzig bekannte literarische Namen – pries in schönen Worten die Zeitschrift als Ganzes wie auch jede ihrer Abteilungen für sich und gab auch einige Illustrationen als Probe. Wolodja sah sich das graue Heft und die kleinen Bildchen näher an. Seine großen Augen im blassen Gesicht mit der breit entwickelten Stirne blickten müde.

Eine Seite des Prospekts zog seine Aufmerksamkeit besonders an, und seine großen Augen wurden noch größer. Neben den Lobhymnen auf eine der Abteilungen der Zeitschrift waren auf dieser Seite sechs Abbildungen, untereinander angeordnet, abgedruckt. Sie stellten auf verschiedene Art zusammengelegte Hände dar, die schwarze Silhouetten auf eine weiße Wand warfen: das Köpfchen eines jungen Mädchens in komischem gehörnten Hut, einen Eselskopf, einen Ochsenkopf, ein sitzendes Eichhörnchen und noch etwas von der gleichen Art.

Wolodja vertiefte sich lächelnd in die Betrachtung der Bilder. Er kannte diesen Zeitvertreib und verstand, die Hände so zusammenzulegen, daß an der Wand ein Hasenkopf erschien. Hier war aber etwas, was er noch nie gesehen hatte; vor allem waren es sehr komplizierte Figuren, zu denen man immer beide Hände brauchte.

Wolodja bekam Lust, diese Schatten nachzubilden. Aber um diese Stunde, im zerstreuten Lichte des sterbenden Herbsttages würde natürlich nichts gelingen.

»Ich werde das Heft mit auf mein Zimmer nehmen, niemand braucht es ja!« sagte er sich.

Plötzlich hörte er die Schritte und die Stimme seiner Mutter, die sich aus dem Nebenzimmer näherte. Er errötete, steckte das Heft schnell in die Tasche, wandte sich vom Klavier weg und ging auf seine Mutter zu, die ihm mild lächelnd entgegen kam. Sie sah ihm sehr ähnlich und hatte dieselben großen Augen im blassen, schönen Gesicht.

Die Mutter fragte ihn wie jedesmal.

»Was gibt's Neues in der Schule?«

»Es gibt nichts Neues,« sagte Wolodja etwas unwirsch.

Es kam ihm aber gleich zum Bewußtsein, daß er mit seiner Mutter nicht höflich genug sprach, und er schämte sich. Nun lächelte er ihr freundlich zu und versuchte sich zu besinnen, was es in der Schule gegeben hatte; er fühlte aber dabei einen neuen Ärger in sich aufsteigen.

»Der Pruschinin hat sich wieder einmal ausgezeichnet,« begann er von einem Lehrer zu erzählen, der wegen seiner Grobheit bei den Schülern höchst unbeliebt war. »Unser Leontjew sagte die Aufgabe auf und kam etwas aus dem Konzept. Und der Pruschinin sagte ihm: Genug, setzen Sie sich, Holz falle auf Holz!«

»Und ihr merkt euch alles gleich!« sagte die Mutter lächelnd.

»Er ist überhaupt furchtbar grob!«

Wolodja schwieg eine Weile, seufzte und fügte mit klagender Stimme hinzu:

»Und sie haben immer solche Eile!«

»Wer denn?« fragte die Mutter.

»Ach, die Lehrer . . . Ein jeder will den ganzen Lehrstoff so schnell als möglich erledigen und vor den Prüfungen alles noch wiederholen. Und wenn man sie irgendwas fragt, so glauben sie gleich, man wolle sie ablenken, damit die Stunde schneller vergeht und der Lehrer nicht mehr Zeit hat, die Aufgaben abzuhören.«

»Kommt dann mit euren Fragen nach der Stunde!«

»Ja, nach der Stunde haben sie auch immer Eile: da müssen sie nach Hause oder ins Mädchengymnasium. Und alles geht so schnell: erst Geometrie und dann gleich Griechisch.«

»Man muß eben aufpassen!«

»Ja, aufpassen! Wie ein Eichhörnchen im Rad . . . Es regt mich wirklich furchtbar auf!«

Die Mutter verzog den Mund zu einem leisen Lächeln.


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