Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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XIX.

Es dämmerte. Mitja saß auf seinem gewohnten Platz am Fenster, blickte in das aufgeschlagene Lehrbuch und sah keine Zeile. Er hatte fürchterliches Kopfweh, und alles drehte sich um ihn im Kreise. Die Gegenstände tauchten wie Gespenster auf und verschwanden gleich wieder. Alles schien zu schwanken und das Gleichgewicht verloren zu haben, und so oft sich der rote Kattunvorhang vor dem Bette seiner Mutter rührte, glaubte Mitja, daß alles gleich zusammenstürzen und untergehen würde. Antlitzlose Ungeheuer schwebten über seinem Kopfe, verhöhnten ihn, und ihre Stimmen dröhnten. Mitja vergoß bittere Tränen.

Plötzlich hörte er den leisen Ruf:

»Mitja!«

Er hob die Augen, – Raja stand vor ihm, weiß, licht und feierlich. Die Diamanten in ihrer Krone funkelten in wunderbaren Farben, sie trug einen langen Purpurmantel, Smaragde und Rubine brannten in ihrem Geschmeide. Ein heller Strahl leuchtete in Rajas Hand. Ihr blasses Gesicht war feierlich, ruhig und licht. Rajas zarter Atem füllte die Luft mit unsagbarer Süße. Raja stand ganz nahe vor ihm und berührte beinahe seine Knie. Wunderbare Worte kamen leise von ihren blassen Lippen. Sie sprach von dem neuen Himmel, der sich hinter dem schrecklichen, vermodernden Himmel ausbreitete.

Mitja erhob sich und berührte mit den Lippen ihre Stirne über den Augen.

Raja wich zurück. Mitja machte einen Schritt auf sie zu, stieß aber mit dem Bein gegen den Koffer.

Wie eng es doch hier ist! Welch ein armseliges Leben! . . .

Und Mitja begriff, daß Raja nicht mit ihm sei und niemals mit ihm sein würde . . .


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