Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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XIX.

Eines Nachmittags trafen sie sich wieder am Waldrande. Wanjas Gesicht war furchtbar blaß und stellenweise geschwollen.

»Was bist du so blaß?« fragte Kolja.

»Ich habe heute viel geträumt,« entgegnete Wanja.

Die beiden Knaben schwiegen eine Weile. Wanja sah sich um, ob niemand in der Nähe wäre, und sagte:

»Ich weiß eine tiefe Stelle. Wenn man da hineinfällt, ertrinkt man sofort.«

»Wo ist sie?« fragte Kolja.

Wanja lachte und zeigte ihm die Zunge.

»Nein,« sagte er, »ich will sie dir noch nicht zeigen, sonst gehst du allein fort. Ich will aber mit dir gehen.«

Wanja umarmte Kolja und sagte mit leiser, böser Stimme:

»Nur mit dir, Liebster!«

Kolja sah dicht vor sich die hellen, ausdruckslosen Augen, und sie flößten ihm wie immer dunkles Vergessen ein. Er hatte alles vergessen, er wollte an nichts denken, und vor seinen Augen war ein Abgrund . . .

Die Knaben vereinbarten, in der nächsten Nacht von zu Hause wegzulaufen und zu sterben.

»Meine Mutter spielt heute abend,« sagte Kolja.

»Das ist ja gut!« antwortete Wanja.

Der Gedanke an die Mutter vermochte in Kolja keinerlei Gefühle zu wecken.

Wanja lächelte und sagte:

»Aber wenn du fortgehst, laß dein Kreuz zu Hause, du brauchst es nicht.«

Wanja ging fort. Kolja blieb allein. Er dachte nicht an Wanjas Worte. Er hatte sie aber nicht vergessen. Das von ihnen geweckte Grauen blieb zurück, die giftigen Worte waren tief in die Seele gedrungen.

Sie lebten und wuchsen in ihm ganz von selbst; Kolja aber lebte von seinen gewohnten Eindrücken: von der Mutter, den Spielen, der Schaukel, dem Fluß, den Jungen auf der Straße, – alles war wie sonst.

Alles Frühere war aber furchtbar uninteressant und langweilig. Die Mutter durfte nur nicht merken, wie langweilig ihm das alles war.

Und Kolja blickte die Mutter mit seinem gewohnten süßsauren Lächeln an.


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