Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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In der Menge

I.

Die altberühmte Stadt Mstislawl feierte das siebenhundertjährige Jubiläum ihres Bestehens.

Mstislawl war ein reiches Industrie- und Handelszentrum. In der Stadt selbst und in ihrer Umgebung gab es viele Fabriken und Werke, von denen manche in ganz Rußland berühmt waren. Die Bevölkerung wuchs mächtig an und erreichte in den letzten Jahren eine respektable Ziffer. Außer einer starken Garnison beherbergte die Stadt eine Menge Arbeiter, Handelsleute und Beamte, Studenten und Literaten.

Die Stadtverordneten wollten die Feier möglichst glanzvoll gestalten. Sie versandten Einladungen an die höchsten Behörden, an die Stadtvertretungen von Paris und London, ebenso an die von Tschuchloma und Mjedyn und einige andere außergewöhnliche Städte.

»Wissen Sie, wir wollen keine zu bunte Gesellschaft haben,« erklärte der Bürgermeister, ein junger Mann, der vom Kaufmannsstande abstammte, doch europäische Bildung genossen hatte und durch seine feinen Umgangsformen berühmt war.

Nachträglich erinnerte man sich noch, daß man auch die Stadtvertretungen von Moskau und Wien hätte einladen sollen. Man schickte auch diesen beiden Städten Einladungen, aber viel zu spät: als bis zum Feste nur noch vierzehn Tage blieben.

Die Literaten und Studenten warfen dem Bürgermeister sträfliche Vergeßlichkeit vor. Der Bürgermeister rechtfertigte sich verlegen:

»Ich bin vor lauter Arbeit ganz wirr geworden. Sie glauben gar nicht, wieviel es zu tun gibt. Ich nächtige fast nie mehr zu Hause: eine Kommissionssitzung nach der andern.«

Moskau nahm die Verspätung nicht übel: – wir sind ja in der Familie! – und beeilte sich eine Deputation mit einer Glückwunschadresse zu schicken. Das lustige Wien beschränkte sich aber auf eine Ansichtskarte. Die künstlerisch ausgeführte Karte stellte einen nackten Jungen im Zylinder dar, der rittlings auf einem Bierfasse saß und ein Seidel in der erhobenen Hand hielt. Das Bier schäumte üppig, und der Junge lächelte lustig und schelmisch. Er war wohlgenährt und rotbackig, und die Stadtverordneten konstatierten, daß das lustige, gutmütige deutsche Lächeln der Feier durchaus angemessen war. Auch die Zeichnung wurde als sehr stilvoll befunden. In der Beurteilung des Stils gingen aber die Meinungen auseinander: die einen nannten ihn »Sezession« die andern »Rokoko«.

In der ungepflasterten, staubigen, schmutzigen und finstern Stadt, wo es zahllose verwahrloste Gassenjungen und fast keine Schulen gab; wo arme Frauen oft mitten auf der Straße niederkommen mußten; wo man die Mauern der berühmten historischen Festung niederriß, um Ziegelsteine für neue Bauten zu gewinnen; wo nachts im Stadtzentrum das wüsteste Gesindel tobte, während die Wohnungen in den entlegneren Straßen unter der Nase der schlafenden Nachtwächter ausgeraubt wurden, – in dieser halbwilden Stadt veranstaltete man nun für die von überall herbeiströmenden Ehrengäste und Behördenvertreter prunkvolle Festlichkeiten und Bankette, die ebenso sinnlos wie überflüssig waren und all das Geld verschlangen, für das man Schulen und Krankenhäuser hätte errichten können.

Auch für das gemeine Volk, – so muß es ja einmal sein! – wurden Feierlichkeiten vorbereitet. Diese sollten auf der städtischen Viehweide, in der Gegend, die aus irgendeinem Grunde »Brandwiese« hieß, abgehalten werden. Man baute mehrere Bretterbuden: – die eine fürs Volkstheater, die andere für Ausstattungsstücke, die dritte für Zirkusvorstellungen; man stellte Schiffsschaukeln und Rutschbahnen auf und errichtete Masten fürs Preisklettern. Dem alten Hanswurst, der das Volk belustigen sollte, kaufte man einen Flachsbart, der sogar teurer als einer aus Seide zu stehen kam: so kunstvoll war er gearbeitet.

Für das Volk wurden auch Geschenke vorbereitet. Ein jeder sollte einen mit dem Stadtwappen geschmückten Blechbecher und eine Portion Pfefferkuchen und Nüsse, in ein Schnupftuch mit Ansicht der Stadt Mstislawl eingewickelt, bekommen. Solche Blechbecher und Schnupftücher mit Lebkuchen und Nüssen wurden für viele Tausende Rubel angeschafft. Man bereitete die Geschenke so rechtzeitig vor, daß die Lebkuchen bis zum Fest altbacken und die Nüsse faul wurden.

Acht Tage vor dem Jubeltage stellte man auf der Brandwiese Tische und Bierbüffets auf, ebenso zwei Tribünen: eine fürs zahlende Publikum und eine für die geladenen Ehrengäste.

Zwischen den Büffets wurden ganz schmale Durchgänge freigelassen, damit die Leute bei der Verteilung der Geschenke einzeln und der Reihe nach antreten konnten. Diese Anordnung hatte der Bürgermeister selbst erdacht. Er war ja ein klugberechnender junger Mann.

Am Tage vor dem Feste brachte man die Geschenke auf die Brandwiese, verstaute sie in einen Schuppen und sperrte diesen zu.

Als das Volk von den Festlichkeiten und Geschenken erfuhr, strömte es in hellen Haufen zu der altberühmten Stadt Mstislawl zusammen, sich schon von der Ferne beim Anblick der zahlreichen goldenen Kirchenkuppeln bekreuzend. Man erzählte sich, daß außer den bewußten Geschenken noch eine weitere Überraschung beabsichtigt sei: auf der Brandwiese würden Schnapsfontänen springen, und jeder dürfe so viel trinken, als er wolle:

»Bis du zerspringst!«

Viele kamen von sehr weit her. Am Tage vor dem Fest trieb sich in den Straßen der Stadt schon eine Menge auswärtiger Gäste umher. Meistens waren es Bauern; es gab auch viele Fabrikarbeiter und Kleinbürger aus den Nachbarstädten. Die meisten kamen zu Fuß, einzelne auch gefahren.

Seit einigen Tagen schon herrschte in der Stadt eine festliche Stimmung. Die Häuser waren mit Fahnen und Tannengirlanden geschmückt. Dankgottesdienste wurden abgehalten. Eine große Truppenrevue fand statt. Nach dieser eine Besichtigung der Feuerwehr. Auf dem Marktplatze ging es lustig und laut zu.

Es kamen viele vornehme Gäste wie aus dem Reiche so auch aus dem Auslande, hohe Beamten und Würdenträger und eine Menge neugieriger Touristen. Die Ortsbewohner standen haufenweise in den Straßen und starrten die fremden Gäste an. Sie blickten auf die vornehmen Ausländer mit besonderem Interesse, wenn auch nicht mit gerade freundschaftlichen Gefühlen. Ein jeder bemühte sich, an der Sache möglich viel zu verdienen. Die Preise für die Wohnungen, Nahrungsmittel und alle Waren wurden mächtig in die Höhe getrieben.

Der Vorabend des Volksfestes rückte heran. Die Stadt war wie an jedem Abend festlich beleuchtet. Im Stadttheater fand eine Galavorstellung statt. Nach dem Theater gab es einen großen Ball beim Gouverneur.

Die Menschen strömten aber schon zur Brandwiese zusammen. Niemand beaufsichtigte die Volksmenge. Die Verteilung der Geschenke war für zehn Uhr morgens angesetzt, und die Stadtverwaltung hatte geglaubt, daß vor Tagesanbruch kein Mensch auf die Brandwiese kommen würde. Vor Tagesanbruch gab es aber eine Nacht, und vor der Nacht einen Abend. Die Menge versammelte sich schon am Abend auf der Brandwiese, so daß es vor den Schuppen, die den eigentlichen Festplatz von der städtischen Viehweide trennten, schon um Mitternacht sehr eng und unruhig war.

Man schätzte die Menge auf einige Hunderttausend. Viele sprachen sogar von einer halben Million.


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