Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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IV.

Vor dem Tore standen einige Menschen. Man hörte sie lebhaft sprechen, streiten und lachen.

Ljoscha und die beiden Mädchen liefen wieder vors Tor.

Draußen standen mehrere Bauern und Bäuerinnen und einige einheimische Kleinbürger. Sie sprachen miteinander laut und gereizt. Es klang, wie wenn sie stritten.

Eine ältere, lebhafte Kleinbürgerin mit spitzigem, verschmitztem Gesicht, in einem grellen, steifgestärkten neuen Kattunkleide, mit einem rosa Kopftuch auf den öligen Haaren sprach zu einem großgewachsenen würdigen Bauern:

»Warum sind Sie nicht in einem Gasthof abgestiegen?«

Der alte Bauer antwortete so langsam und bedächtig, als suche er möglichst präzise Worte, um einem sehr wichtigen und tiefen Gedanken den richtigen Ausdruck zu verleihen:

»Eure Gastwirte schinden ja einem die Haut vom Leibe. Wahre Schinder sind sie. Man kann mit ihnen gar nicht reden. Ganz aus Rand und Band sind die Leute. Sie haben wohl alle kein Kreuz am Halse. Ein jeder will jetzt reich werden. Die Haut schinden sie einem vom Leibe!«

Ein gutmütiger Bauernbursche mit weißem Gesicht und heller Stimme, mit sanften hellblauen Augen und einem ewigen Lächeln auf den weichen Lippen sagte:

»Es gibt auch gute Menschen, die einen umsonst aufnehmen.«

Die andern sahen ihn höhnisch an und sagten:

»Ja, es gibt wohl solche Menschen, aber nicht hier!«

»Such mal, wo es solche gibt, und sag es dann uns!«

Die Leute lachten schadenfroh, obwohl für Schadenfreude kein sichtlicher Grund vorlag. Der Bursche grinste, blickte mit unschuldigen Augen um sich und beteuerte:

»Mich hat aber eine aufgenommen. Tatsächlich!«

»Du bist mir zu glatt,« sagte ein rothaariger blatternarbiger Bauer.

Die beiden Schutkin-Mädchen und der ältere Bruder kamen heran. Die Schwestern Jelena und Natalja waren einander in allen Dingen auffallend ähnlich, und es war so seltsam, daß die eine rotes und die andere schwarzes Haar hatte. Sie hörten dem Gespräch der Leute mit verschmitztem Lächeln zu. Ihr Lächeln schien heute furchtbar gemein, und auch sie selbst machten einen schmutzigen Eindruck.

Die ältere Schutkin blinzelte den Udojew-Mädchen zu und fragte:

»Wollt ihr morgen früh aufstehen?«

»Ja,« antwortete Ljoscha hastig, »wir werden vor Sonnenaufgang aufstehen und früher als alle hinkommen.«

Es fiel ihm plötzlich ein, daß es nun ganz unmöglich sei, früher als alle hinzukommen, und das ärgerte ihn.

»So, früh aufstehen wollt ihr? Warum nicht gar!« sagte Schutkin.

Seine Schwestern lachten frech und schlau. Es war unverständlich, warum sie lachten. Der ältere Schutkin sagte:

»Ja, früh aufstehen wollt ihr! Ihr werdet dasselbe erleben wie wir im vorigen Jahr, als wir zur Frühmesse ins Kloster gehen wollten.«

»Das war ein Spaß!« lachte Jelena auf.

Es war ihr und ihrer rothaarigen Schwester offenbar ganz gleich, worüber sie lachten. Sie hielten es wohl auch gar nicht für unpassend, sich über sich selbst lustig zu machen.

Schutkin erzählte:

»Es war im vorigen Jahr. Wir gingen früh zu Bett, als noch kein Licht brannte. Wir schliefen gut aus und standen früh auf. Wir hatten damals nämlich keine Uhr: infolge eines zeitweiligen Übergewichts der Ausgaben über die Einnahmen mußten wir eine innere zwölfprozentige Anleihe aufnehmen, und die Uhr blieb als Sicherheit im Depot. Wir standen also auf und gingen ins Kloster. Wie wir hinkommen, ist alles zu. Wir glauben, daß es noch zu früh ist. Also setzen wir uns auf eine Bank vor dem Klostertore. Der Wächter geht auf uns zu und fragt mit aufrichtigem Erstaunen: ›Was sitzt ihr da? Ist es euch zu Hause langweilig?‹ – ›Wir sind zur Frühmesse gekommen,‹ sagen wir ihm vollkommen ruhig. ›Eure Mönche schlafen wohl noch!‹ Er sagt uns darauf: ›Wie kann man nur so früh kommen? Es hat ja eben elf geschlagen. Wollt ihr denn die ganze Nacht warten? Geht doch lieber nach Hause.‹ Wir hörten auf den vernünftigen Rat und gingen nach Hause. Das war ein Spaß!«

Die Schutkins und Udojews lachten.

In diesem Augenblick kam der jüngste Schutkin, Kostja, verschwitzt und außer Atem herbeigelaufen. Er rief freudig noch aus der Ferne:

»Ich war eben auf der Brandwiese!«

»Nun, wie sieht es dort aus?« fragten ihn seine Geschwister und die Udojews.

Kostja berichtete freudig:

»Eine Unmenge Bauernvolk. Das ganze Feld haben sie besetzt.«

»Diese Narren!« sagte Ljoscha geärgert, doch lachend: »Die Verteilung der Geschenke beginnt ja erst um zehn Uhr, und sie sind schon am Abend hingekommen.«

Der ältere Schutkin blinzelte seinen Schwestern zu und sagte lachend:

»Wer hat euch das gesagt? Die Verteilung beginnt um zwei Uhr, damit auch die ausländischen Gäste dabei sein können. Die Ausländer gehen spät zu Bett und sind nicht gewohnt, früh aufzustehen.«

»Nein, es ist nicht wahr, um zehn fängt es an!« ereiferte sich Ljoscha.

»Nein, um zwei, um zwei!« riefen die Schutkins wie aus einem Munde.

Ihrem frechen Lachen und den Blicken, die sie miteinander wechselten, konnte man anmerken, daß sie logen.

»Ich werde es gleich feststellen,« sagte Ljoscha.

Er lief schnell zum Sekretär des Magistrats hinüber, der im Hause gegenüber wohnte, und kam bald triumphierend zurück. Im Laufen schrie er:

»Um zehn!«

Die Schutkins lächelten und widersprachen nicht mehr.

»Ihr sagt das, weil ihr vor uns hingehen wollt,« sagte Ljoscha. »Ja, so seid ihr!«

Der Gymnasiast Pachomow, ein lebhafter schlanker Junge, kam vorbeigelaufen. Er blieb einen Augenblick stehen und begrüßte die Udojews. Die Schutkins blickten ihn feindselig an.

»Nun, geht ihr auch hin?« fragte er und sagte gleich darauf, ohne eine Antwort abzuwarten:

»Wir gehen schon am Abend hin. Viele gehen am Abend hin.«

Er hatte große Eile und verabschiedete sich. Er blickte die Schutkins an, als wollte er sie begrüßen, überlegte es sich aber und lief weiter. Die Schutkins warfen ihm gehässige Blicke nach und lachten. Dieses Lachen berührte die Udojews höchst unangenehm: was gab es da zu lachen?

»Der Musterknabe!« sagte Kostja verächtlich.

Jelena sagte laut und sehr gehässig:

»Der Prahlhans! Er lügt.«

Der Abend war so still und schön, daß die unnötigen rohen Worte der Schutkins als greller Mißton klangen.

Die Sonne war eben untergegangen. Auf den Wolken ruhte noch der Widerschein ihrer blutigroten Abschiedsstrahlen.

So schön, so friedlich war der Abend . . . Doch das sengende Gift der toten Schlange strömte noch immer über die Erde.


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