Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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XXI.

Die Mutter kann aber ihre abergläubische Angst vor den Schatten noch immer nicht niederkämpfen. Oft kommt ihr der Gedanke, daß auch sie einmal in den Bann der Schatten geraten wird, und sie versucht sich zu trösten.

»Was für Dummheiten mir doch in den Sinn kommen!« sagt sie sich. »So Gott will, wird alles gut enden. Wolodja wird sich so lange mit ihnen abgeben, bis er sie einmal selbst satt hat!«

Doch ihr Herz ist von einem heimlichen Schrecken gelähmt, und ihre Gedanken, die vor dem Leben solche Angst haben, eilen voraus, um die künftigen Qualen zu erfassen.

In den bangen Morgenstunden prüft sie ihre Seele, läßt ihr ganzes Leben an sich vorüberziehen und sieht, wie leer, unbrauchbar und zwecklos es ist . . . Es ist nur ein sinnloses Dahingleiten von Schatten, die in der sich verdichtenden Dämmerung zusammenfließen.

»Wozu habe ich gelebt?« fragt sie sich. »Für den Sohn? Wozu? Damit auch er der Gewalt der Schatten verfällt, ein Besessener mit engem Horizont, an Illusionen, an sinnlose Spiegelbilder auf der leblosen Wand gekettet?

Auch er wird ins Leben treten, auch er wird neuen Wesen das Leben schenken, unnütz und schattenhaft wie ein Traum.«

Sie setzt sich ln den Sessel am Fenster und denkt und denkt.

Bitter und endlos sind ihre Gedanken.

Sie ringt verzweifelnd die blassen schönen Hände.

Die Gedanken zerrinnen. Sie blickt auf ihre zurückgebogenen Hände und versucht zu erraten, was für Schatten sie auf die Wand werfen würden. Sie ertappt sich dabei und fährt erschrocken auf.

»Gott, Gott,« ruft sie aus, »das ist ja Wahnsinn!«


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