Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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XIV.

Auf Dunjas Dachboden gab es kein Lämpchen, aber es duftete nach Lampenöl und Zypressenholz. Gebet und Frieden umwehten die Seele.

Dunja und ihre Mutter saßen wieder auf ihren gewohnten Plätzen, und Dunja las vor. Sie las den Schluß von Zolas »Germinal«. Sie erzählte Mitja kurz den Inhalt des Buches. Dann las sie weiter vom Unglück im Bergwerk. Sie las sehr deutlich und mit viel Gefühl, wenn auch zuweilen mit übertriebenem Ausdruck.

Mitja schloß die Augen. Es schien ihm, daß in der Ecke vor dem Heiligenbilde ein Lämpchen brenne und Dunja mit weißem Licht übergieße . . . Der Vorlesung höre noch jemand zu . . . Es seien ihrer viele, – kniende, lichte Gestalten . . . Mitja schwieg andächtig, den Kopf gesenkt.

Dunja war zu Ende. Sie legte die Hände in den Schoß und saß unbeweglich da. Die Alte schluchzte und schneuzte sich ab und zu die Nase. Mitja lächelte, doch über seine Wangen liefen durchsichtige, große Tränentropfen.

Dunja sagte:

»Wie unglücklich sie doch war! Wozu hätte sie noch leben sollen? Es ist gut, daß sie gestorben ist. Es ist gut, daß es den Tod gibt.«

Und Dunja brach plötzlich in Tränen aus. Sie saß gerade und unbeweglich, die blassen Hände im Schoß gefaltet, ihr Gesicht war nicht verzerrt, sondern ruhig und heiter, aber die Tränen flossen in Strömen aus den plötzlich dunkel gewordenen Augen die schmalen Wangen herab und fielen auf die bloßen Arme.

»Was weinst du denn?« fragte Mitja, und sein Herz krampfte sich vor Trauer und Ratlosigkeit zusammen.

»Sie war so schön,« sagte Dunja leise, die Lippen kaum bewegend, wie geistesabwesend, »und sie hatte die Seele eines Engels. Man hatte sie in das Loch gesteckt, und sie ist da umgekommen wie eine Ratte in der Falle. Was sind das für Menschen: Manchmal tut es einem leid, daß man auf dieser Erde geboren ist!«

»Was gibt es dann Gutes auf dieser Erde?« fragte Mitja.

Dunja schwieg eine Welle. Ihre Tränen waren versiegt. Dann erhob sie sich und sagte:

»Wir wollen zusammen beten, Mitja.«

Sie knieten in der Ecke vor dem Heiligenbilde auf dem staubigen, schmutzigen Fußboden nieder. Dunja sagte die Gebete laut vor, und Mitja sprach einzelne Worte nach, ohne irgendeinen Sinn in sie hineinzulegen, und lächelte verlegen. Sein mageres Gesicht mit der langen Nase schien höhnisch zu lächeln. Dunja weinte vor Rührung, und Mitja fühlte nur Kopfweh und konnte nicht begreifen, warum sie so weinte.

Es kam ihm vor, daß dort auf dem Stuhl am Fenster hinter den Betenden Raja sitze, ihre weißen Hände bewegten sich langsam und wickelten lange weiße Fäden auf. Zwei durchsichtige Wölkchen zitterten über ihren Schultern. Sie fragte die Alte:

»Warum weinst du?«

»Man kann vor Hunger einfach krepieren! An mich denke ich ja nicht, aber um Dunja ist's schade!« erwiderte die Alte weinend.

Raja lächelte heiter und wickelte langsam die langen Fäden auf.


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