Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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III.

Ljoscha und seine beiden Schwestern standen vor dem Tore und blickten hinaus. Auf der Straße ging es laut und lebhaft zu. Viele aufgeputzte Menschen, offenbar Fremde, gingen vorbei, zum größten Teile in der Richtung zur Brandwiese. Das dumpfe Tosen der Menge flößte den Kindern eine dunkle Angst ein.

Die Schutkins, die in der Nachbarschaft wohnten – der junge Mann, die beiden jungen Mädchen und der jüngste Bruder – gingen auf sie zu. Sie wechselten einige gleichgültige Worte wie Menschen, die oft zusammenkommen und miteinander gut bekannt sind.

»Geht ihr hin?« fragte der ältere Schutkin.

»Ja, morgen früh!« antwortete Ljoscha.

Nadja und Katja lächelten freudig und etwas verlegen. Die Schutkins lachten aus irgendeinem Grunde auf und wechselten Blicke. Dann gingen sie nach Hause.

»Sie wollen wohl vor uns hinkommen!« riet Nadja.

»Sollen sie nur,« sagte Katja traurig.

Das Haus der Schutkins stand dicht neben dem Udojewschen. Es fiel durch sein unsauberes und verwahrlostes Aussehen auf.

Die jungen Schutkins waren ausgelassen und frech. Sie erlaubten sich oft recht üble Streiche und verleiteten dazu auch die Udojewschen Kinder.

Die Schutkins waren schwarzhaarig und dunkel wie Zigeuner. Der älteste Bruder war als Schreiber beim Friedensrichter angestellt und spielte flott Balalaika. Die Schwestern, Jelena und Natalja, sangen und tanzten mit großer Begeisterung. Der jüngste Bruder, Kostja, war ein echter Gassenjunge. Er besuchte die Volksschule und wäre schon einige Mal um ein Haar hinausgeflogen. Vorläufig hielt er sich noch in der Schule mit Ach und Krach.

Die Udojews kamen nach Hause. Sie fühlten sich irgendwie ungemütlich und unruhig. Es litt sie nicht auf einem Platze.

Sie beschlossen, am frühen Morgen aufzubrechen, machten aber schon am Abend die Vorbereitungen dazu. Je tiefer die müde Sonne sank, um so größer wurde ihre Unruhe und Ungeduld. Jeden Augenblick liefen sie vor das Tor hinaus, um zu schauen und zu horchen, was draußen vorging, oder um einige Worte mit den Nachbarn zu wechseln.

Am unruhigsten war Nadja. Sie fürchtete, zu spät zu kommen, und sagte gereizt zu Bruder und Schwester:

»Ihr werdet verschlafen, ihr werdet ganz bestimmt verschlafen, ich sehe es schon voraus!«

Sie ließ ihre feinen Finger in den Gelenken knacken, was bei ihr stets ein Anzeichen höchster nervöser Erregung war.

Katja lächelte ruhig und antwortete mit großer Sicherheit:

»Nein, wir kommen nicht zu spät.«

»Der Mensch muß ja auch schlafen!« sagte Ljoscha gedehnt.

Er war plötzlich ganz faul geworden und sagte sich, daß es sich gar nicht lohne, so früh aufzustehen. Er hatte beinahe keine Lust mehr hinzugehen. Nadja ereiferte sich:

»Was dir nicht einfällt! Schlafen? Man muß nicht unbedingt schlafen! Ich werde mich heute überhaupt nicht hinlegen.«

»Wirst du auch nicht zum Abend essen?« neckte sie Ljoscha.

Auf einmal hatten sie alle das Gefühl, daß man das Abendessen absichtlich hinausschob. Sie sahen jeden Augenblick auf die Uhr und setzten dem Vater ordentlich zu.

Nadja brummte:

»Unsere Uhr geht heute wie zum Trotz nach. Es ist längst Zeit zum Abendessen. Wie leicht können wir morgen verschlafen, wenn man uns mit dem Abendessen bis Mitternacht warten läßt!«

Der Vater entgegnete mürrisch:

»Was wollt ihr von mir? Erst kommt die eine, dann die andere!«

Und er blickte seine Kinder so gleichgültig an, als sähe er zwischen ihnen keinen Unterschied und wüßte nur, daß es ihrer drei sind. Es war ja noch sehr früh. Um diese Stunde hatte man bei den Udojews noch nie zu Abend gegessen.

Indessen trafen bei den Udojews von allen Seiten Nachrichten ein, daß die Leute schon in hellen Haufen zur Brandwiese gingen und daß dort bereits eine riesige Menge versammelt sei, die draußen übernachten wolle und sogar Zelte mitgebracht habe.

Die Kinder sagten sich nun, daß es morgen zu spät sein würde: wenn sie erst morgen hingingen, würden sie bei der Verteilung der Geschenke nicht mehr drankommen. Die Stimmung im Udojewschen Hause war nun unheimlich gespannt.

Am Hause aber gingen immer mehr Menschen vorbei. Viel Gesindel war darunter. Auch eine Menge Gassenjungen. Die Leute lärmten und waren lustig und festlich gestimmt.


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