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Vierundfünfzigstes Kapitel.

Du, o Gott dieses unermeßlichen Raumes, bändige die Wogen, welche an Himmel und Hölle schlagen; und du, der du die Winde aus der Tiefe gerufen, lege sie in Fesseln.

Shakespeare.

 

Der Stoß schleuderte die Leute zu Boden und sie erhoben ein Jammergeschrei zum Himmel, mit dem das Heulen des Windes und das Brüllen der Wogen in die Wette tobte. Die Masten wurden aus ihren Hielugen gerissen, wankten einigemale und fielen dann krachend über Bord, während eine ungeheure Welle über dem Schiffe zusammenschlug, es noch näher an den Felsen trieb und alle Balken knacken und knarren machte. Der Fall der Masten und die Woge, welche im nämlichen Augenblicke wie ein ungeheurer Katarakt auf das Fahrzeug hereinbrach, rissen dreißig bis vierzig Matrosen an der Leeseite in die schäumende See hinab. Ein zweiter und dritter Stoß der wüthenden und unerbittlichen Wellen entschieden das Schicksal des muthigen Kapitäns und Schiffers. Die Fregatte ging in der Mitte auseinander. Der vordere Theil saß fest zwischen die Felsen eingekeilt. Das Halbdeck und der hintere Theil gingen in der Brandung unter. Eine ungeheure Woge wälzte sich darüber her und stürzte, gleichsam wüthend, ihre versunkene Beute nimmer ergreifen zu können, gegen das noch festsitzende Wrack, dasselbe noch mehrere Ellen an dem Riff hinaufdrängend.

Zwei Dritttheile der Schiffsmannschaft waren jetzt untergegangen – der Kapitän, der Schiffer und der größere Theil der Offiziere und Matrosen, die sich auf dem Halbdeck befunden hatten, als das Schiff zerschellte. Das Geschrei der Ertrinkenden wurde unter dem Toben der Elemente nicht gehört. Man hat nicht erfahren, wie sich der Kapitän und die Offiziere in diesem schrecklichen Augenblicke benahmen; aber wenn wir nach dem bereits Geschilderten schließen dürfen, so gingen sie wie britische Seeleute in den Tod.

Das Vordertheil des Schiffes hielt noch zusammen und neigte sich, zum Glück für die Ueberlebenden, schräg gegen das Land hin, so daß es einigen Schutz gegen die Gewalt der Wellen bot, die bei jedem neuen Windstoße darüber herstürzten. Der Tag ging zu Ende und die Finsterniß vergrößerte noch die Angst und Verzweiflung von fast hundert Unglücklichen, welche bei jedem Stoße, der die Planken und Balken von einander zu reißen drohte, der Meinung waren, der Tod klopfe laut an, um die noch übrigen, ihm bestimmten Opfer abzuholen. Nicht ein Wort wurde gewechselt, aber mit Tauen an die Belegnägel und andere Theile des Vorderkastells gebunden, wo Bindseile angebracht werden konnten, hielten sie sich fest und drängten sich in einander, in tiefes Nachdenken versunken oder in Verzweiflung jammernd. Hie und da fand Einer von ihnen, der sich in einer schwierigen oder schmerzlichen Stellung hielt, angestachelt durch die schwache Hoffnung auf Rettung des Lebens, an welcher wir Alle so sehr und so thöricht hängen, daß seine Kraft erschöpft war und er sich nicht lange mehr anklammern konnte. Nachdem er vergeblich die ihm zunächst Befindlichen angefleht, durch geringes Opfer von ihrer Seite ihn in die Möglichkeit zu versetzen, seine Stellung zu verbessern – ein Flehen, das nicht erhört wurde – ließ er allmälig seinen Haltpunkt los und stürzte in die Brandung, vom Tode abgesandt, um seine Beute in Empfang zu nehmen.

Es gibt Situationen im menschlichen Leben, die so mächtig aufregen und den ganzen Körperbau dergestalt erschüttern, daß wenige Tage seine ganze Kraft aufreiben. Die peinlichen Gefühle der Unglücklichen auf dem Wrack während der kurzen Zeit, welche sie sich darauf befanden, erschöpften ihre Lebenskraft in weit höherem Grade, als vieljährige Anstrengungen am Lande es vermocht hätten.

Abermals brach der Tag gleichsam widerstrebend an und die Wolken stürmten wild an dem Himmel dahin, der mit seiner schweren Bürde fast das Meer zu berühren schien. Die Wogen thürmten sich noch immer Berge hoch, der Wind brauste mit derselben Gewalt und wie die Sturmvögel über die Wellen dahin flogen und durch ihre Gegenwart verkündeten, daß die Kühlte noch nicht aufhören würde, sahen die unglücklichen Ueberlebenden einander schweigend und voll Verzweiflung an.

Ich weiß nicht, ob alle Seeleute so denken, wie ich; aber ich habe so viele wunderbare Rettungen, so viele plötzliche Wechsel erlebt, welche so gänzlich gegen alle Hoffnung und Muthmaßung eintrafen, daß ich mich vertrauensvoll auf die Vorsehung und die menschliche Kraft verlasse und auch in der hoffnungslosesten Lage nie den Muth ganz aufgeben würde. Wenn ich im atlantischen Oceane, wo weit und breit kein Schiff zu erblicken wäre, mit dem wüthendsten Sturme kämpfte, die letzte Kraft mich verließe und ich unter die Wogen sänke; ja, wenn Bewußtsein und Leben schon zu weichen anfingen, würde ich doch, so lange das Leben nicht ganz entflohen, so lange nur ein Schein von Bewußtsein übrig wäre, die Hoffnung nimmer aufgeben, nimmer glauben, daß es durchaus um mich geschehen sei, als bis ich in der andern Welt erwachte und es bestätigt fände.

Wie hoch hätten wohl diese Leute ihr Leben am Morgen angeschlagen? Und doch trat gegen Mittag eine Veränderung ein; das Wetter milderte augenscheinlich; das Schweigen, welches so viele Stunden geherrscht hatte, wurde nun gebrochen und sie begannen über die etwa möglichen Rettungsversuche sich zu berathen. Eine Reihe von Felsen, von denen mehrere über das Wasser hervorragten, jedoch von der Brandung noch gepeitscht wurden, lagen zwischen dem Wrack und dem Ufer; aber wegen der Gewißheit, zerschmettert zu werden, mußten alle Versuche so lange aufgeschoben werden, bis das Wetter und die See ruhig sein würden. Doch wann war dieß der Fall? Und wie lange vermochten sie wohl den vereinigten Angriffen des Hungers und der Ermüdung Widerstand zu leisten?

Die Zahl der Ueberlebenden betrug ungefähr siebenzig. Viele hingen erschöpft und verwundet, in einem Zustande der Bewußtlosigkeit, an den Tauen, die sie um ihren Leib gebunden hatten. Daß unser Held unter den Ueberlebenden sich befand, ist kaum nöthig zu bemerken; denn sonst hätte die Erzählung hier ein Ende. Er war auf der Wetterseite der Fockmastbetingen, theils von dem Hochbootsmanne, theils von Price, dem zweiten Lieutenant, unterstützt, dem zunächst sich der Vorderkastell-Kapitän befand, einer der wackersten Seeleute, welcher aus einem Westindienfahrer, wo er in der Eigenschaft eines zweiten Gehülfen gedient hatte, gepreßt worden war.

Unser Held hatte sich öfters umgewendet, in der Absicht, mit Price zu sprechen; da er ihn aber zusammengekauert, das Gesicht auf seine Hände und Kniee gestützt, dasitzen sah, so wartete er, bis sein Tischgenoß, den er in andächtigem Gebete vertieft wähnte, sich erheben würde. Als dieser jedoch immer in der gleichen Stellung blieb, so rief ihm Seymour mehrere Male zu. Da er keine Antwort erhielt, so streckte er seinen Arm aus und schüttelte Price am Rockkragen, indem er fürchtete, es möchte derselbe vor Kälte und Erschöpfung ohnmächtig geworden sein.

Price erhob langsam seinen Kopf, blickte Seymour an und gab keine Antwort. Sein unsteter und wilder Blick that sogleich kund, laß er den Verstand verloren habe. Doch war, wie es sich bald darauf zeigte, seine herrschende Leidenschaft geblieben und nach jener unbegreiflichen Beschaffenheit unseres Organismus, welche schließen läßt, daß die Seele des Menschen ein noch weit wunderbareres Wesen ist, als sein Körper, hatte der Verlust einer Geistesgabe die Rückkehr einer andern zur Folge. Er hatte jetzt sein Gedächtniß völlig wieder erlangt. Im Kreise herumblickend, begann er unter so vielen theatralischen Actionen, als die Taue, womit er sich befestigt, erlauben wollten, Stellen aus seinem Lieblingsautor zu deklamiren.

»Blast, Wind' und sprengt die Backen – wüthet – blast
Ihr Katarakt und Wolkenbrüche speit!«

»Den armen Tom friert.« Alsdann bedeckte er schaudernd sein Gesicht und nahm seine vorige Stellung wieder ein.

»Ist's jetzt Zeit, weltliche Schauspiele herzuplappern, Mr. Price?« rief der bigotte Hochbootsmann, welcher nicht wußte, daß der Unglückliche von Sinnen gekommen sei. »Schweigen Sie stille und rufen Sie nicht das Gericht des Himmels über unsere Häupter; denn ich prophezeihe es Euch, wir werden gerettet werden. Die Wogen des Meeres sind mächtig und brausen schrecklich; aber der Herr, der über ihnen wohnt, ist noch mächtiger.«

Das hierauf eintretende Stillschweigen wurde nach einigen Minuten von Seymour unterbrochen, der über den Tod Kapitän M.'s und der übrigen Mannschaft zu wehklagen anfing.

»Nun, ich hoffe, sie werden bereits im Himmel sein,« bemerkte Robinson, der Kapitän des Vorderkastells.

»Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt,« fiel der Hochbootsmann ein, dessen blitzendes Auge seine gewaltige Aufregung verrieth. »Sie sind eben so wenig im Himmel, als Ihr es sein würdet, wenn es dem Allmächtigen gefiele, Euch in seinem Zorne abzurufen.«

»Wo sonst, Mr. Hardsett?« fragte Robinson; »doch gewiß nicht –«

»Ich weiß, ich weiß,« rief Price, der seinen Kopf wieder emporhob und mit tollem Gelächter zu singen anfing.

»Nichts an ihm, daß soll verfallen,
Das nicht wandelt Meeresfluth
In ein reich' und selt'nes Gut,
Nymphen läuten stündlich ihm,
Da horch! Ihr Glöcklein! Bim! bim! bim!« Shakespear's Sturm, Act 1, Scene 2, Ariel's Gesang.

»Schämen Sie sich doch, Mr. Price!« schrie der Hochbootsmann dazwischen.

»Bim! bim! – Bim! bim! bim!«

»Mr. Price, was sagt die Bibel? Dem Spötter steht das Gericht bevor,« fuhr der Hochbootsmann mit Heftigkeit fort.

Price hatte seine vorige Stellung wieder eingenommen und antwortete nichts. Robinson wiederholte nun seine Frage an den Hochbootsmann: »Wo sonst? – doch hoffentlich nicht in der Hölle?«

»Gewiß,« entgegnete der letztere, »und zwar in dem Feuer, das für alle Ewigkeiten nie erlöscht.«

»Ich glaube das nicht,« erwiederte Robinson; es mag sein, daß ich Strafe verdiene und ich gebe es auch zu. Ich habe mein Logbuch durchblättert, während die Wogen über mein Bug stürzten und mein Bugbild bespülten; es waren einige Dinge darin, die ich zu vergessen wünschte; – sie werden beim jüngsten Gericht sich gegen mich erheben, aber gewiß nicht auf ewig?«

»Mein lieber Kamerad, das hätten Sie früher bedenken sollen. Ich bin besorgt um Sie, besorgt um alle Umgekommenen, denn es waren treffliche Seeleute, die im weltlichen Dienste das Ihrige gethan haben. Dieser Tage sann ich darüber nach, ob es wohl möglich wäre, aus der ganzen Flotte eine Schiffsmannschaft zusammenzubringen, die für den Himmel taugte.«

»Mr. Hardsett, ich bin der festen Ueberzeugung, daß, wenn die Matrosen in der andern Welt vor Gericht gerufen werden, wir unsern Lohn oder Strafe empfangen, nach dem, was ein jeder verdient hat. Das ist meine Ansicht; und ich würde ihn nicht um die Ihrige hingeben, Mr. Hardsett; denn die meinige ist, wie es mir scheint, viel tröstlicher.«

»Damit ist nichts gewonnen, Robinson; Sie müssen Glauben haben.«

»Ich glaube an Gottes Barmherzigkeit, Hochbootsmann.«

»Damit ist nichts gewonnen; Sie haben nicht den wahren Glauben.«

»Das mag sein; aber ich hoffe, dessenungeachtet damit auskommen zu können; denn ich habe meinen Glauben gut mit Hoffnung gestützt; und wenn ich auch noch immer unstät umhertreibe,« – sagte Robinson, ein Weilchen in Nachdenken verloren, »nun, so habe ich die Liebe als meinen Nothanker, der mir wieder heraushilft. Es muß sonderbar zugehen, wenn die Sturzwellen unsere Leiber nicht bald zerschmettern, und dann werden wir erfahren, wer Recht oder Unrecht hat. Es ist nur wenig Hoffnung zu unserer Rettung vorhanden, außer wir könnten auf dem Meere wandeln, was nur Einer thun konnte.«

»Hätte der Apostel Glauben gehabt, er wäre nicht untergesunken,« entgegnete der Hochbootsmann.

»Haben Sie denn einen noch festern Glauben, als der Apostel?«

»Ich habe, Dank sei es Jehovah, den wahren Glauben,« rief der Hochbootsmann, indem er Augen und Hände zum Himmel erhob.

»Dann gehen Sie an das Land,« sagte der Vorderkastell-Kapitän, während er ihm fest in's Gesicht schaute.

Angespornt durch eine Aufforderung, welche offenbar seinen Muth als Mann und seinen Glauben als Christ in Versuchung brachte, erhob sich der Hochbootsmann, in diesem Augenblicke bis zum Wahnsinn fanatisch, löste die Taue, welche er um seinen Leib gebunden hatte, und schickte sich an, Robinson's Aufforderung Folge zu leisten.

Noch wenige Augenblicke und die wüthende See würde ihn in Empfang genommen haben, hätte nicht unser Held und der Kapitän des Vorderkastells ihn mit all' ihrer Kraft zurückgehalten.

»Wir setzten keinen Zweifel in Ihren Glauben, Mr. Hardsett,« sagte Seymour; »aber wir leben jetzt nimmer in einer Zeit der Wunder. Ihr Beginnen wäre nichts als Selbstmord. Der, welcher den Sturm kommen hieß, wird, wenn er es für gut hält, uns auch retten.«

Price, welcher dem Gespräch zugehört und alle Bewegungen des Hochbootsmanns beobachtet hatte, machte sich ebenfalls, aber ganz unbemerkt, von den Tauen los, sprang auf, packte den bestürzten Hochbootsmann am Kragen und schrie mit lauter Stimme –

»Beim Element! sag', was du thun willst;
Willst weinen? fechten? fasten? dich zerreißen?«

»Ach, er ist toll!« rief der erschrockene Hochbootsmann, der ebenfalls nicht weit vom Wahnsinne entfernt war.

»Toll?« erwiederte Price.

– – – Keine Seele,
Die nicht ein Fieber, gleich den Tollen fühlte,
Und Streiche der Verzweiflung übte. –

Der Sohn des Königs, Ferdinand, sein Haar
Emporgesträubt, wie Binsen, nicht wie Haar,
Sprang vor den Andern, schrie: schrie: die Höll' ist ledig,
Und alle Teufel hier

Als der Wahnsinnige die letzten Worte gesprochen hatte, sprang er, ehe man seine Absicht errathen konnte, von dem Decke über die Brüstung hinaus und verschwand unter den Wogen. Der Hochbootsmann, welcher mehr durch Price's unerwarteten Angriff, als durch die Vorstellungen seiner Kameraden von seinem tollen Versuche sich abbringen ließ, nahm seine vorige Stellung wieder ein, faltete die Hände und blickte zum Himmel auf. Der Vorderkastells-Kapitän und unser Held schwiegen stille. Beider Gedanken richteten sich auf den nämlichen Gegenstand – die Ewigkeit.

Ewigkeit! – Dieses einzige Wort verwirrt, demüthigt und schreckt den stolzen Sinn des Menschen. Was ist sie? Der menschliche Geist kann jeden bestimmten Raum, jede bestimmte Zeit, so unermeßlich sie auch sein mag, begreifen. Die Ewigkeit aber ist über der Zeit, und zu groß für den menschlichen Verstand. Sie hat keinen Anfang und kann kein Ende nehmen. Sie kann nicht multiplicirt, nicht dividirt, nicht addirt werden – versucht etwas von ihr zu subtrahiren – es ist umsonst. Zieht Millionen und abermals Millionen Jahre von ihr ab. Nehmt eine so lange Zeit, als ihr euch nur vorzustellen vermöget, und die Ewigkeit ist dennoch ganz und unvermindert, wie zuvor – alle eure Rechnungen sind vergeblich. Denkt darüber nach – und es schwindelt euch; euer Hirn scheint von einem zu schweren Gewichte belastet zu sein. Die Vernunft wankt und die Ueberzeugung drängt sich euch unwiderstehlich auf, daß das Geschöpf den Schöpfer gar nicht zu ergründen vermöge – das Gefühl eurer eigenen Nichtigkeit drückt euch zu Boden und ihr zittert vor der furchtbaren Majestät der Gottheit.

Die Zeit ist der Mensch – die Ewigkeit ist Gott!


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