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Neununddreißigstes Kapitel.

Ein starker Stier stellt drohend sich entgegen,
Stürzt mit Gebrüll herbei in jähem Lauf
Und wühlt mit scharfem Horn den Boden auf.

Blackmore.

 

Am zweiten Tage nach der Ankunft Seymour's begab sich Emilie, die nicht wußte, daß die Gesellschaft in dem Landhause einen Zuwachs erhalten hatte, zu Fuß durch den Park und die angränzenden Felder, um Susanna einen Besuch abzustatten. Ein Bedienter in Livrée, der einige Bücher trug, welche sich Mrs. M'Elvina zum Lesen erbeten hatte, folgte ihr. Als Emilie bei dem letzten von einem ganz in der Nähe wohnenden Farmer gepachteten Felde ankam, bemerkte sie zu ihrem Erstaunen, daß ein unangenehmer Gast dasselbe in Besitz genommen, nämlich ein großer Stier, der bei ihrer Annäherung den Boden aufzuwühlen anfing und sich überhaupt auf eine höchst feindselige Art geberdete. Sie lief nun schneller, und als das Thier herankam, fand sie sich der vor ihr befindlichen Hecke weit näher, als der, welche sie so eben hinter sich gelassen hatte; sie faßte daher, so erschrocken sie auch war, den Entschluß, weiter zu gehen. Der Bediente, welcher sie begleitete, legte mehr Furcht an den Tag, als seine Gebieterin. Als der Stier sich näherte, wandte Emilie, die gehört hatte, was für Vorsichtsmaßregeln in einem solchen Falle erforderlich wären, ihr Gesicht dem Thiere zu und ging rückwärts nach dem Zaune. Der Bediente schien entschlossen, genau die Stellung zu beobachten, welche Pflicht und Ehrerbietung verlangten und hielt sich hinter seiner jungen Gebieterin. Als aber der Stier vorrückte und zu einem Angriffe geneigt schien, erlaubte es ihm die Furcht nicht, in dieser Stellung zu bleiben. Er warf die Bücher weg, ergriff die Flucht und eilte einem Loche in der Hecke zu. Jetzt konnte Emilie allein gegen das wüthende Thier alle Maßregeln ergreifen, welche ihr gut dünkten.

Der Stier kümmerte sich jedoch nicht um eine in weißen Musselin gekleideten Dame. Er hatte sich nur über die rothen Hosen geärgert, die zu der Rainscourt'schen Familienlivrée gehörte, und sprang daher, ohne von Emilien Notiz zu nehmen, augenblicklich an ihr vorüber und dem Bedienten nach.

Der erschrockene Mann warf sich in seiner Angst in die Zaunlücke, war aber durch die Furcht so gelähmt, daß er nicht Kraft genug hatte, sich einen Durchweg zu erzwingen. Kopf und Schultern auf der andern Seite der Hecke, lag er auf Händen und Knieen und bot dem Stiere eine treffliche Zielscheibe. Letzterer stürzte mit solcher Gewalt darauf los, daß er ihn mehrere Ellen weit auf das jenseitige Feld hinüberwarf. Mehr durch Furcht erschöpft und bewußtlos, als beschädigt, lag er nun da, während der brüllende Stier mit emporgerichtetem Schwanze an der Hecke auf- und absprang und vergeblich den Versuch machte, sich einen Durchgang zu erzwingen und den Gegenstand seines Abscheu's weiter zu verfolgen.

Der Geist einer Frau ist oft kräftiger, als ihr Leib, und erhält sich bisweilen unter Umständen aufrecht, bei welchen der letztere unterliegen würde. So ging es Emilien, welche glücklich die Hecke erreichte, nicht ohne Schwierigkeit hinüber setzte und bald in dem Hause M'Elvina's, das nur wenige Schritte entfernt war, ankam. Jetzt fühlte sie, daß ihre Kräfte schwanden, sobald die Anstrengung derselben nicht länger erforderlich war. Kaum bemerkte sie mit ihren schwimmenden Augen, daß sich ein Herr im Zimmer befand und mit dem schwachen Ausrufe: »O Mr. M'Elvina!« sank sie bewußtlos in William Seymour's Arme.

Mr. und Mrs. M'Elvina waren nicht zu Hause. Sie hatten einen Spaziergang nach der Pfarrwohnung gemacht, und Seymour, der sich sehr eifrig mit einer für seine Wirthin bestimmten Zeichnung der Aspasia beschäftigte, hatte es abgelehnt, sie zu begleiten. Man kann sich denken, wie erstaunt er war, plötzlich eine junge Dame in seinen Armen zu finden. Allein so groß seine Verwunderung auch sein mochte, war doch seine Verlegenheit bei der völligen Neuheit der Situation noch größer. Allerdings war er weiblicher Gesellschaft nicht ungewohnt; im Gegentheile hatte ihn Kapitän M. in den verschiedenen Häfen der Kolonien überall, wo sie vor Anker gegangen, eingeführt; und vielleicht gibt es nirgends bessere, wenn auch minder zahlreiche Gesellschaft, als an der Tafel eines Koloniegouverneurs. Aber es war ein ganz anderer Fall. Er war daran gewöhnt, dem Kielwasser zu folgen, wenn die Gemahlin des Gouverneurs in den Speisesaal hereinsegelte, die ganze Flotte zwei Linien neben einander in gedrängter Ordnung aufstellte und dabei mit größter Pünktlichkeit den Anker auswarf, um das Diner anzugreifen, welches sich auf Gnade oder Ungnade ergeben mußte. Er war an den Ballsaal gewöhnt, worin die Damen auf dem gekreideten Fußboden wie eben so viele prachtvolle Yachten in Southampton-Water an einem schönen Tage dahin steuerten; er hatte oft den Versuch gemacht, mit einer schönen Tänzerin einen Contretanz abzusegeln und rechts und links zu laviren. Das war alles ein ganz gewöhnliches Segeln; aber hier befand er sich in einem durchaus verschiedenen Falle. Er war ein fremdes Fahrzeug, daß noch nicht einmal seine Nummer gezeigt hatte, back auf dem Ankerplatz liegend und von einer Bö auf die Seite geworfen.

Seymour wußte nichts vom Ohnmächtigwerden. Hie und da hatte ein Mann (was aber, wenn es herauskam, immer Entlassung zur Folge hatte) an Bord des Schiffes einen Zufall bekommen; aber das einzige Mittel, welches auf Kriegsschiffen dagegen angewendet wurde, bestand darin, daß man den Patienten zwischen die Kanonen legte, wo er Muße genug hatte, wieder zu sich zu kommen. Im gegenwärtigen Falle aber ließ sich ein solches Verfahren nicht in Anwendung bringen, und als Seymour sich über das schöne, blasse Gesicht Emiliens hinbeugte, kam es ihm vor, als könnte er nie müde werden, sie in den Armen zu halten. Da indessen Etwas geschehen mußte, so legte er sie auf das Sopha, ergriff die Klingelschnur und zog heftig daran. Der Draht war vorher losgemacht worden und Seymour riß ihn deswegen herunter, ohne die Glocke in Bewegung zu setzen. Er befand sich ganz allein im Zimmer, und da er Emilien nicht verlassen zu dürfen glaubte, so wußte er sich wieder auf seine eigenen Hülfsquellen beschränken. Womit war ihr zu helfen? Mit Wasser? Es war keines im Zimmer, außer demjenigen, dessen er sich beim Malen bedient hatte und das vom Tusche ganz schwarz gefärbt war. Dessen ungeachtet nahm er den großen Pinsel, mit dem er gewöhnlich auf seinem Gemälde die Wolken wusch und fing an ihr Gesicht und ihre Schläfe mit dem trüben Wasser anzustreichen, doch ohne daß dieses die gewünschte Wirkung der Wiederbelebung zur Folge gehabt hätte.

Was war jetzt anzufangen? – Essenzen und verbrannte Federn – er hatte davon in einem Romane gelesen. Essenzen hatte er keine; aber verbrannte Federn konnte er schon bekommen. Zwei, Mrs. M'Elvina gehörende lebendige Vögel, Cardinäle genannt, befanden sich in einem Käfig am Fenster und in einem Glasgehäuse auch ein ausgestopfter grüner Papagei. Seymour beurkundete auch diesmal bei seiner Wahl die bei ihm gewöhnliche Geistesgegenwart. Die Schwänze der lebendigen Vögel würden, wie er dachte, höchst wahrscheinlichst wieder wachsen, was bei dem ausgestopften Papagei nicht der Fall sein konnte. Er steckte seine Hand in den Käfig, packte die flatternden Bewohner derselben und riß beiden ihre langen Schwänze aus. Dann verschloß er das Käfig wieder, hielt die Spitzen der Federn über das Feuer und gleich daraus Emilien unter die Nase. Allein er brachte sie zu wiederholtem Male über das Feuer, bis sie gar keinen Rauch mehr gaben, und immer noch befand sich Emilie in einem Zustande der Bewußtlosigkeit. Es ließ sich nichts anders machen – der Papagei mußte geopfert werden, obwohl, wie er wußte, Mrs. M'Elvina eine große Freude an demselben hatte. Ein Schlag mit dem Schüreisen zertrümmerte das Glas; er nahm nun das Thier aus seinem Behältnisse und steckte den Schwanz desselben durch die Querstäbe des Kaminrostes. Allein verbrannte Federn wollten nichts helfen, und nachdem Seymour den Papageischwanz bis auf den Rumpf abgebrannt hatte, legte er ihn voll Verzweiflung auf den Tisch.

Jetzt fing er an, ernstlich in Unruhe zu gerathen, und die Schönheit der Patientin vergrößerte sein Mitleid. Seine Angst nahm in dem Grade zu, daß er die Geistesgegenwart verlor und nun seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Er redete die leblose Gestalt an, warf sich, wie eine Mutter über die Leiche ihres Kindes, auf sie hin und küßte endlich, als ein letztes Hülfsmittel, Emiliens Lippen in fast wahnsinniger Angst zu wiederholtenmalen. Während er gerade am eifrigsten mit diesem Mittel beschäftigt war, traten M'Elvina und Susanne in das Zimmer, ohne daß er sie kommen hörte.

Der auf dem Tische liegende Papagei, dessen Schwanz noch immer wie eine Lunte glühte, fesselte zuerst die Blicke, und als sie weiter schritten, sahen sie zu ihrem Erstaunen, wie Seymour eine junge Dame küßte, bei der man ihn noch nicht eingeführt hatte und die gegen seine Zärtlichkeiten völlig unempfindlich zu sein schien.

»Seymour!« rief M'Elvina, »was soll das heißen?«

»Ich bin froh, daß Sie kommen; ich kann sie nicht mehr zu sich bringen; ich habe Alles versucht.«

»So scheint es. Wahrhaftig, Sie haben sie erstickt; sie ist ganz schwarz im Gesichte,« erwiederte M'Elvina, als er auf Emiliens Wangen die Tuschzeichnungen wahrnahm.

Susanna, welche sogleich den Zustand Emiliens begriff, holte ihre Essenzen herbei und ersuchte M'Elvina, die Dienstmädchen zu rufen. Nach wenigen Minuten öffnete Emilie, sei es nun, daß diese Mittel wirksamer waren, oder daß die Natur selbst ihre Kräfte wieder erlangte, die Augen und wurde alsdann die Treppe hinauf in Susannens Zimmer getragen.

Jetzt müssen wir zu dem Bedienten zurückkehren, der, ohne einen andern Schaden, als den einer tüchtigen Quetschung am Hintern von den Hörnern des Stiers, gleich wieder zu Sinnen und auf die Beine kam, welch' letztere er so lange in vollen Lauf setzte, bis er das Schloß erreicht hatte. Hier berichtete er, was er wirklich selbst glaubte, daß Miß Emilie von dem Stier zu Tode gestoßen worden sei. Dabei fügte er noch hinzu, was ebenfalls nicht richtig war, er sei bei dem Versuche, sie zu retten, beinahe selbst um's Leben gekommen. Als diese Nachricht Mrs. Rainscourt überbracht wurde, so lief sie fast wahnsinnig vor Schrecken, ohne Haube oder Shawl, in den Park hinunter und den Feldern zu, begleitet von ihren sämmtlichen Dienern, die mit Schießgewehren, Heugabeln und allen möglichen Waffen versehen waren, welche sie in der Angst und Eile erwischen konnten. Sie kamen auf dem Felde an – der Stier war noch dort und erwartete sie an der Hecke. Er hatte sie bereits schon von Weitem wahrgenommen, und sein Zorn nahm in dem Maße zu, als er nun statt Einer ein halbes Dutzend rothe Hosen auf sich anrücken sah. Er wühlte den Boden auf, brüllte und machte verschiedene Versuche, über die Hecke zu springen, worauf er, wenn es ihm gelungen wäre, höchst wahrscheinlich ein beträchtlicheres Unheil angerichtet hätte. Gelähmt von Schrecken stand die ganze Schaar stille, während Mrs. Rainscourt laut nach ihrem Kinde schrie und sich aus den Armen Derer, die sie hielten, loszumachen suchte, um zu ihrem Verderben auf das Feld hineinzustürzen.

Der Pächter, dem das Thier gehörte, hatte das Brüllen schon bei dem ersten Vorfalle gehört und war herausgekommen, um den Grund desselben zu erfahren. Er sah gerade noch, wie der rothbehoste Lakai durch die Hecke geschleudert wurde und Emilie in das Haus M'Elvina's entfloh. In der Absicht, sich des Thieres zu entledigen, kehrte er zu seinem Mittagessen zurück, als das wiederholte Brüllen ihn abermals hinausrief. Als er die Ursache davon wahrgenommen, ging er zu der Gesellschaft hin und sagte zu Mrs. Rainscourt: »Die junge Dame ist in Sicherheit, Madame: sie befindet sich in des Herrn Hause dort drüben. Das Thier ist sonst ganz fromm; es ärgert sich nur über die rothen Hosen. Ein Stier kann keine rothen Hosen leiden, Madame.«

»In Sicherheit, sagen Sie? Gott sei Dank! O führt mich zu ihr.«

»Diesen Weg, Madame,« sagte der Pächter und führte sie um die Hecke herum auf einem Umwege nach M'Elvina's Landhause.

Susanne hatte so eben M'Elvina hinaufgerufen, und Seymour war wieder allein im Zimmer, als Mrs. Rainscourt, die sich von ihren Führern losgemacht hatte, hereinwankte und erschöpft auf das Sopha sank. Seymour, dem die ganze Begebenheit unerklärlich vorkam, und der über dieselbe, so wie über die süßen Lippen, die er an die seinigen gedrückt, gerade nachsann, rief außer sich vor Erstaunen: »Wie! noch Eine?«

Da er aber diesesmal nicht für räthlich hielt, zu seinen eigenen Hilfsquellen seine Zuflucht zu nehmen, so steckte er wieder den Papageischwanz in den Kaminrost, und rief, indem er ihn der Patientin unter die Nase hielt, laut nach M'Elvina, der sogleich mit mehreren Andern in das Zimmer hereinkam und ihn von seiner Last befreite. Mrs. Rainscourt kam bald wieder zu sich und begab sich die Treppe hinaus zu ihrer Tochter.

Sie hatte ihren Wagen kommen lassen, um Emilien nach Hause zu bringen. Als sie vor ihrer Abfahrt noch in das Wohnzimmer kamen, wurde Seymour förmlich vorgestellt. Mrs. Rainscourt dankte ihm für die Aufmerksamkeit, die er ihrer Tochter erwiesen, und lud ihn zu einem Besuche auf dem Schlosse ein.

Emilie, der Susanne die Panacee mitgetheilt, zu welcher Seymour endlich seine Zuflucht genommen hatte, wurde über und über roth, als sie ihm ihr Lebewohl zulächelte, und unser Held empfand, während der Wagen davonrollte, ein eben so neues Gefühl, wie Cymon, da er durch die Strahlen der Schönheit entflammt wurde, die von der schlafenden Iphigenia herblitzten.


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