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Achtunddreißigstes Kapitel

»Du, der du mich lies'st mit Gefallen,
Leb' wohl; segne Gott deine Tage.
Du, der du führst über mich Klage,
Auch dir ein Lebewohl – ja, euch Allen!
Der Poet ist ein glückliches Wesen,
Wird er überhaupt nur gelesen.«

John Dory's Gedichte.

Es folgten nun zwei Tage eines fast ungetrübten Glücks. Augustus sprach jedoch viel von seiner Mutter und beschäftigte sich noch weit mehr mit ihr in seinen Gedanken; man erwog, wie man ihr's wohl am zweckmäßigsten beibringen könne, daß ihr Sohn noch am Leben sei. Der alte Commodore weigerte sich hartnäckig, den jungen Grafen abreisen zu lassen, indem er behauptete, da er ihn gerettet habe, stehe ihm auch das gute Recht zu, ihn festzuhalten. Am dritten Tage übrigens vereinigte man sich, daß Horace Underdown, welcher so oft den Stifter und Boten des Friedens gemacht hatte, die frohe Post überbringen sollte; da man wußte, wie vorsichtig er zu Werke zu gehen pflegte, so wurden keine weiteren Vorschriften für nöthig erachtet. Diese Liebespost wurde ihm jedoch erspart.

Die arme verlassene Lady Astell hatte sich in einem kläglichen Gemüthszustande befunden und unter der Maske der Frömmigkeit in unablässiger Rebellion gegen die Vorsehung gelebt. Mit jedem Monate wurde sie düsterer und strenger gegen sich selbst, keinen andern Verkehr unterhaltend, als mit ihren geistlichen Rathgebern, welche sie noch obendrein aus den finstersten und – ich darf wohl beifügen, ohne einen Vorwurf befahren zu müssen – den abergläubischsten des ganzen Priesterstandes auslas.

Aber auch in ihre Abgeschiedenheit war die Kunde von dem glorreichen Siege ihres Bruders gedrungen. Ein ehrwürdiger Sektirer theilte ihr mit, welch' eitler Saus und Braus täglich zu Trestletree-Hall vorging, weßhalb sie ihre Leichenequipage vorfahren ließ, um zu Rettung der Seele ihres Bruders, wie sie meinte, den Sünder von dem Lager seines geträumten Glückes herunterzuschleudern.

Mr. Underdown hatte eben seine Vorbereitungen zur Abreise getroffen, als der Hüter des Parkthors ankündigte, daß die schwarze Equipage heranziehe. Dies erregte große Bestürzung. Augustus fühlte sich so ergriffen, daß er Platz nehmen mußte. Der Commodore machte eine ernste Miene, ohne übrigens eine Spur von Unruhe zu zeigen, da im Gegentheil ein Zug von religiöser Heiterkeit aus seinem Antlitze leuchtete.

Der alte Held versammelte seine ganze Familie ohne Ausnahme um sich, nahm in ihrer Mitte Platz, indem er Augustus rechts, Rebekka aber links neben sich setzte, und erwartete stumm das unheimliche Wiedersehen. Die jungen Liebenden zitterten ungemein, und Augustus mußte seinem Onkel versprechen, erst dann zu reden, wenn er aufgefordert würde. Der schwerfällige schwarze Wagen langte an der Thüre an. Das sämmtliche Gesinde des Haushaltes stand in der Halle, um ihre Ehrfurcht zu bezeugen, und der Kammerdiener hätte nicht mit größerer Achtung vor ihr hergehen können, selbst wenn sie eine Königin gewesen wäre. Wie früher in das tiefste Schwarz gekleidet, da nur ein weißer Spitzenstrich ihre Stirne säumte, trat sie mit ihrem gewöhnlichen stattlichen Schritt in die Mitte des Zimmers und vor den alten Commodore hin, der von seinem Stuhle aufstand und sich feierlich vor ihr verbeugte. Viele Herzen pochten ungestüm. Sie sprach nicht, bis sie den Brief aus ihrem Busen genommen hatte. Als sie dies that, traf ihr Blick auf Augustus, aus dessen Augen reichliche Thränen strömten. Sie preßte die Hand auf ihr Herz, und stieß einen scharfen Schrei aus; dann rieb sie sich die Augen, wie Jemand, der aus einem Traume erwacht, schüttelte wehmüthig den Kopf und begann:

»Ich bin hier – die Wittwe, die du kinderlos gemacht hast.«

»Schwester, du bist willkommen,« entgegnete der Commodore ernst.

»Hier ist meine Vollmacht! – Mörder mein Kind!«

»Agnes, ich habe dich des einen beraubt – und gebe dir nun dafür zwei zurück. Knieet vor ihr nieder, meine Kinder.«

»Wer ist dies – wer ist dieser Jüngling?« rief sie, denn Augustus war vor ihr niedergeknieet, hatte ihre Hand ergriffen, drückte sie an seine Stirne und benetzte sie mit seinen Thränen.

»Agnes, es ist Augustus, den ich dir wieder zurückgebe.«

»Ist es wirklich so? Bist du – bist du wirklich mein Sohn? –«

»Mutter!«

Dieses Wort drang wie ein Blitzstrahl durch ihren Busen. Sie sank in seine Arme und weinte.

»Wir wollen sie für eine Weile allein lassen,« sagte der Bruder.

Und sie entfernten sich mit jener Ehrfurcht, mit der wir stets den geweihten Boden des Allerheiligsten – das Innerste des Tabernakels betreten sollten. Und war nicht wirklich der Geist des Ewigen hier gegenwärtig, der sein wohlwollendes Werk übte an der lange beraubten Mutter und an dem ihr zurückgegebenen Kinde?

An demselben Tage gab es in dem Park von Trestletree-Hall einen seltsamen Anblick. Die in Trauer gekleideten Vorreiter und Bedienten trugen weiße Binden um ihre Hüte und große Blumensträuße auf ihrer Brust. Die Pferde und die leichenartige Equipage fuhren in vollem Galopp nach Astellhouse zurück, wobei die Männer jubelten, wie eben so viele vor der Zeit aus der Schule entlassene Knaben. Der Wagen, die schwarzen Pferde und die Livree verschwanden wie durch einen Zauberschlag – sie wurden nie wieder in der Grafschaft gesehen.

Lady Astell hatte sich nach einem Gemache zurückgezogen und schrieb an den alten Commodore einen schwesterlichen Brief, in welchem sie ihre Absicht ausdrückte, einige Zeit bei ihm zu wohnen. Erst um die Zeit des Diners kam sie wieder zum Vorschein – und dann, wie verändert! Sie war in das reinste Weiß gekleidet und trug auf ihrer matronenhaften Haube Rosen. Auf der einen Seite von ihrem Sohne, auf der anderen von ihrer Nichte unterstützt, trat sie in den Salon, ging, ohne ein Wort zu sprechen, auf ihren Bruder zu und umarmte ihn.

Was soll ich noch weiter sagen? Ihre krankhaften Selbsttäuschungen waren zerstreut und sie fühlte sich überschwenglich glücklich – vielleicht glücklicher als alle Anderen.

Nach dem Diner erbat sich der Commodore als Gunst, bei dem Wein und Nachtisch eine einzige Pfeife rauchen zu dürfen. Die Pfeife wurde gebracht, gefüllt und der Tabak mit dem Stopfer an dem Ende seines Armes gebührend hinuntergerammt. Die Wachskerze brannte auf dem Tische, aber er machte keinen Gebrauch davon. Endlich begann er mit einer Stimme, die fast von der inneren Aufregung erstickt war:

»Theuerste Agnes, hast du nicht einen Fetzen überflüssigen Papiers, den du deinem armen, alten Bruder geben kannst, um seine Pfeife damit anzuzünden?«

»Ich hatte es vergessen – ich hatte es vergessen,« versetzte Lady Agnes mit beklommener Stimme, indem sie aus dem Busen den sonst so furchtbaren Brief ihres Sohnes hervorzog.

Sie drehte das Blatt sorgfältig zusammen, stand dann von ihrem Sitze auf, beugte sich zu dem alten Commodore nieder, küßte seine Stirne und brachte das Papier an's Licht.

Er nahm es aus ihrer Hand, zündete seine Pfeife damit an und trug die größte Sorge, daß jedes Fetzchen davon verbrannte. Aber dies war noch nicht genug; er zerrieb die Asche zu seinem Staube, bat Rebekka, sie auf seiner Handfläche zusammenzukehren, trat dann in den Hof hinaus und blies sie in die Winde.

Sodann kehrte er zu seiner Pfeife zurück, die er mit der innigsten Seelenruhe ausrauchte.

Von dem späteren Leben dieser neuvereinigten glücklichen Familie habe ich nur noch wenig zu berichten. Es stand einige Tage an, ehe Peter Drivel es wagte, sich vor dem alten Commodore sehen zu lassen. Endlich wurde er von seinem Gebieter, Kapitän Oliphant, dazu gezwungen, und zwar bei einer Gelegenheit, als die ganze Familie, der sich auch sonst noch eine große Gesellschaft angeschlossen hatte, versammelt war.

Sobald Sir Octavius seiner ansichtig wurde, that er dergleichen, als geriethe er in seine gewöhnte Leidenschaft und sähe sich um, ob er nichts finden könne, um es ihm an den Kopf zu werfen.

»Da ist der schurkische Wortspieler!« brüllte er; »und ich habe nichts zur Hand, um ihn damit niederzuschlagen.«

Peter suchte die Thüre, denn er erwartete nichts weniger, als daß das Schüreisen die Weise »Dun derri dun« auf seinem Schädel spielen werde. Kapitän Oliphant hinderte jedoch seine Flucht, während der alte Seemann, als könne er nichts Anderes finden, eine gut mit Gold gefüllte Börse aus seiner Westentasche zog und sie, absichtlich schlecht zielend, nach ihm hinwarf.

»Lies es auf!« brüllte Sir Octavius.

Peter gehorchte zitternd.

»Stecke den Schimpf ein und überbiete dieses praktische Wortspiel, wenn du kannst, du grinsender Schuft.«

Peter räumte seine Unfähigkeit ein und wurde von Stund an des Baronets eifrigster Leibdiener.

Von Peter kann ich nicht weiter sagen, als daß er sich bemühte, seine Liebhaberei für Wortspiele in ein System zu bringen. Da er nicht sehr viel zu thun hatte, so griff er zu Ainsworths englischem Wörterbuche und trug alle nur erdenklichen Wortspiele zusammen, die mit jedem Wort von A bis zu Z gemacht werden konnten. Er wollte sein Werk herausgeben; aber ich redete ihm sein Vorhaben aus, weil er dadurch nur das Mittel werde, um drei Viertheile der Londoner Witzlinge dem Hungertode preiszugeben. Ich habe ihm das Manuscript abgekauft, obschon ich mit meinem Ehrenworte betheuern kann, daß ich nie einen Gebrauch davon machte. Wenn übrigens ein kleiner Autor bei irgend einem Buchhändler speisen will, so kann er dieses Witzwörterbuch zu dem wohlfeilen Preise einer Guinee für die Stünde gemiethet erhalten – gewiß, er vermag sein Geld nicht besser anzulegen. Schauspielfabrikanten steht das Werk für den doppelten Preis zu Dienste. Notabene: Die Schreiber von Schnurrenbüchern brauchen sich nicht mit einer Meldung zu bemühen.

Ich habe seltsame Umwälzungen erlebt. Monsieur Florentin und seine Tochter kehrten mit dem Bourbonen nach Frankreich zurück: der Eine ist ein Graf, die Andere wurde nachher eine Fürstin. Sie wurde nie sehr vertraut mit dem Grafen und der Gräfin von Osmondale – an ersterem lag, glaube ich, die Schuld nicht.

Mr. Rubasore erlitt in Folge des Fluges, den ihn der alte Commodore hatte machen lassen, eine bedeutende innerliche Beschädigung. Er klagte gegen den alten Seemann vor den Civil- und Kriminal-Gerichtshöfen. In dem Civilprozeß wurde Sir Octavius zu fünf Pfunden und etlichen Schillingen verurtheilt, welche er sehr bereitwillig bezahlte, während ihn der Kriminalhof um einen einzigen Schilling büßte, der, zu Rubasores großem Aerger dem Fiskus anheimfiel. Der boshafte Mensch verkaufte sein Haus in Hertfordshire. Da sein körperlicher Zustand jedoch immer schlimmer und er selbst von Jedermann vernachlässigt wurde, so ging er Mrs. Dregely um ihren Beistand an, welche den an Geist und Körper geschwächten Mann durch Schmeicheleien bald so weit brachte, daß er sie heirathete. Es wurde nachher immer schlimmer mit ihm, und ihrem Gelübde gemäß fand sie ihre Rache, welche in Wirklichkeit ein Leben zu einem schnellen Schlusse brachte, das ohnehin schon auf die Neige ging. In einer Hammelsbrühe gab sie ihm die verhängnißvolle Einpfundnote ein, über welche sie ihm Rache geschworen hatte, und sagte es ihm dann. Er ist dahin. In trage seinem Andenken keinen Groll nach, obschon er mich einen Narren, einen Faseler und einen Pensionär nannte; auch hoffe ich, daß der große Richter des Alls ihn nur nach seinen Gaben richten wird. Die Natur hatte ihm in der That nicht viel verliehen, was gute Früchte hätte bringen können.

Im Laufe der Zeit heirathete der Graf von Osmondale die Erbin von Trestletree-Hall und Kapitän Oliphant die Herrin von Jaspar-Hall. Ich weiß darüber nicht mehr zu berichten, als daß sie kaum hätten glücklicher sein können, denn sie kamen in den Besitz schöner Kinder, die nun zum Theil erwachsen sind, und die Damen führten stets die Herrschaft über ihre Gatten.

Der Commodore zog wieder und wieder im Dienste aus und er holte sich stets große Ehre, bis er endlich in hohem Alter als Admiral starb. Trotz seiner guten Eigenschaften war er in der letzten Zeit bei manchen Mitgliedern der Regierung nicht sehr beliebt, denn er bestand darauf, die Mannschaft seiner Schiffe dadurch zu der besten in der Flotte zu erziehen, daß er auf die Grundsätze der Matrosen einwirkte und durch sein wohlwollendes Benehmen ihre schlimmen Eigenschaften möglichst zum Einschlummern brachte. Dies war freilich ein schlimmer Vorwurf für viele andere Leute.

Demungeachtet verderbte der Admiral einen einzigen Mann, und dieser war kein anderer, als Daniel O'Sullivan. Er schlenderte ohne Unterlaß um die Halle herum, wollte nicht arbeiten, erregte die Eifersucht der Männer, machte die Weiber keck und war überhaupt zu nichts nütze, als zum Bauen kleiner Schiffe, auf denen er breite Commodorewimpel aufsteckte. Dabei zeigte er sich als einen abscheulichen und unverbesserlichen Lügner.

Gegen den Schluß seines Lebens ergab sich Sir Octavius selbst auch einem ziemlichen Uebermaß von übertriebenen Schilderungen, namentlich nach dem Diner, wenn er große Gesellschaft bei sich hatte, und liebte es besonders, bei jedem lustigen Gelage den Kampf mit Monsieur Fresnoy und der Magnefique unter beliebigen Erweiterungen aufs Neue durchzufechten. Anfangs, etwa für die Dauer zweier Jahre nach dem Ereignisse begnügte er sich damit, daß er sagte, er habe Dan befohlen, den Admiral in seinen eigenen Weinkasten zu sperren; dann that es Sir Octavius mit eigenen Händen, und nach Ablauf eines weiteren Jahrs hatte er mit seiner einzigen Hand nicht nur den Admiral, sondern auch dessen Kapitän in gedachte Haft gesteckt. Wenn er bei diesem Theile seiner Geschichte anlangte, wurde stets O'Sullivan herbeigerufen, um die Richtigkeit der Angabe zu bezeugen. Welch' ein Zeuge!

Wie es oft kömmt, wußte Sir Octavius zuletzt selbst nicht mehr, wie sich der eigentliche Thatbestand verhalten hatte. Seine Geschichte ging am Ende darauf hinaus, daß er den Admiral und fünfzehn Offiziere in den Kupferkesseln des Schiffs untergebracht habe, und Peter Drivel pflegte dann zu sagen, der Commodore habe da hübsch Kraut und Rüben unter einander gebracht.

Der wackere alte Mann ist nun heimgegangen – geehrt, geliebt und betrauert. Seine letzten Jahre verbrachte er glücklich im Kreise seiner Enkel. Er ist jetzt im Himmel – ich glaube, es wäre eine große Lieblosigkeit, dies nicht anzunehmen. Seine ausgedehnten Besitzungen gingen an seinen Schwiegersohn über, der von seinem ererbten und errungenen Reichthum einen edlen Gebrauch macht. Lady Astell und Miß Matilda weilen nicht mehr unter den Glücklichen der Erde; sie schieden aus der Sterblichkeit wie süß duftende Lichter, die ihren Weihrauch nach oben senden.

Ich hin nun fast allein, Underdown, der demüthige, gute, wohlwollende Underdown ist mir noch übrig geblieben. Kann ich da in Anbetracht aller Umstände nicht von vielem Glücke sprechen?

* * *

Meine Aufgabe ist vollendet und meine an Ereignissen reiche Geschichte erzählt. Wenn ich darauf zurückblicke, bin ich nicht unzufrieden. Ohne Zweifel hat meine Erzählung viele Mängel, obschon ich deren nur wenige aufzufinden im Stande bin. Möge man sie mit dem Mantel meines guten Willens bedecken. Ich weiß, daß meine Daten unrichtig sind, aber ein Anachronismus hebt nicht nothwendig eine Thatsache auf. Ich habe versucht, diese Verwirrung zu berichtigen. Ich verglich Dokumente, berieth mich mit kundigen Personen, holte Auskunft bei den noch lebenden Hauptpersonen, und als mein Geschäft beendigt war, mußte ich fühlen, daß die Daten nicht weniger, mein Kopf aber noch mehr verwirrt war. Was kann bei einer so verwickelten Beschaffenheit der Dinge von einem Manne in meinen Jahren erwartet werden? Es ist nur ein einziges Datum da, das ich, so richtig es auch sein wird, nie lesen werde – nur zu bald wird man es tief in den Stein einhauen. Doch dies ist eine Salbaderei des überfließenden Greisenthums – das tropfenweise Ausgießen der Neige aus dem Weinbecher, wenn der Wein fort ist und der Becher von Leere wiederhallt.

Ich kam in folgender Weise zu der Erzählung meiner Geschichte.

Wenn wir uns mehr und mehr der anderen und besseren Welt nähern, brechen ihre Lichtstrahlen zu uns herüber. In derartigen hehren Heimsuchungen reinigt eine Vergeistigung die Seele, und wir sehen dunkel die Bilder großer Wahrheiten. Erst als die Sonne der Unsterblichkeit, obgleich sie noch weit unter dem Horizont liegt, mit ihrem gesegneten Zwielicht die Wolken dieser meiner sterblichen Welt vergoldete, entdeckte ich aus ihren matten Strahlen das, was ich als sittliche Wahrheit betrachte. Darüber brütete ich nun Tage und Nächte, Monate und Jahre. Meinen Betrachtungen kam das Gedächtniß zu Hülfe, welches mir seine bis dahin vernachlässigten Schätze aufschloß. Sie dienten als Beleg für meine Hypothese und ich schrieb diese wahre Geschichte auf die Grundlage einiger Züge aus dem Leben des alten Commodore.

Wenn vielleicht Jemand der Ansicht ist, daß ein mehr als gewöhnlicher Grad von Eitelkeit oder Gewinnsucht den alten Seemann veranlaßt habe, diese Blätter zusammenzutragen, so verzeihe ich ihm, bemerke aber zugleich, daß ich sie zu einem edleren Zwecke abfaßte. Meine Absicht war, zu zeigen, wie wir uns selbst und Andere bessern können, wenn wir das Gute in unserer Brust zur Entwicklung bringen und nicht das Böse. Wohlwollen und Nachsicht müssen das Unkraut, das in unserer Natur wuchern will, ersticken, damit es keinen Raum gewinnt, um Früchte zu tragen oder auch nur sich zu zeigen. Welche großartigen Fähigkeiten des Besserwerdens liegen nicht auch in dem Allerschlechtesten, und wie hoch stehen wir nicht in diesem Betrachte über den Engeln! Sie sind vollkommen in ihrer Wesenheit – ihre Gränzen sind ihnen festgesetzt; aber wir, wir Würmer hienieden – was können wir nicht dort oben werden!

Mögen wir ja nicht die üblen Eigenschaften unserer Natur in Thätigkeit setzen durch Furcht, übelwollende Beschämung oder körperliche Qual. Der Mensch, der vermessen Furcht in Andern weckt, ist ein weit gemeineres Geschöpf, als die Memme selbst.

Welch' ein trauriges Bild der verkehrten Menschheit bietet nicht der alte Commodore, ehe sich das Wohlwollen zu seinem Herzen Bahn brach; aber diese edle Regung seines Innern bekehrte ihn, und mit ihr besserte er Andere. Aber schon in früher Jugend müssen wir anfangen, diesen Grundsatz auszubilden – nie durch körperliche oder geistige Folter zu strafen.

Ich war Willens, vor meinem Tode eine umfassende Abhandlung über dieses nicht zu erschöpfende Thema zu schreiben, aber mein guter Underdown hat mich beinahe überzeugt, daß mein Talent dieser Aufgabe nicht gewachsen ist. Ich entschloß mich daher, eine Art Novelle abzufassen, in welcher ich zu zeigen wünschte, wie unaussprechlich schön das Streben nach wahrem Christenthum ist, wie es aber nicht blos in dem Bekenntniß liegen darf, sondern sich in der That äußern muß, die sich vornehmlich in Ausübung des göttlichen Gebotes kund gibt: »Thut Anderen, wie ihr wünschet, daß euch geschehe.«

 

Druck von C. Hoffmann in Stuttgart.


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