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Vierundzwanzigstes Kapitel

»Der Liebe Brand gleicht nicht dem Kerzenlicht,
Das ruhig auslöscht, wenn man's kehrt nach unten;
Drum sieh' dich vor und dreh' die Fackel nicht,
Willst ihre Flamme du gebunden;
ES könnte dir zu spät sonst werden klar.
Daß Haß fortlodert, was sonst Liebe war.«

Suip's Vorlesungen über Liebe.

Während der alte Commodore, durch eine falsche Kunde getäuscht, den Feind im Norden sucht, zu gleicher Zeit aber das ganze Geschwader durch seine Menschenfreundlichkeit in Erstaunen setzt und die Schiffe durch seine Weisheit sowohl, als durch seine große Erfahrung in nautischen Angelegenheiten, in guter kampfgerechter Ordnung erhält, müssen wir Mr. Rubasore wieder aufsuchen, der für mich, den alten Seemann, stets ein Gegenstand des Mitleids und Bedauerns gewesen ist. Ich gab ihm einmal einen sehr vortrefflichen Rath, obschon er denselben mit nicht so viel Dankbarkeit hinnahm, als ich Beredsamkeit in meinem Vortrage entwickelt hatte.

»Bemerkt Ihr nicht, mein verständiger Sir,« stellte ich ihm einmal vor, »daß Ihr ein eigentlicher moralischer Skorpion seid – nun zehnmal schlimmer?« Letzteres fügte ich bei, um meine Lektion eindrucksvoller, und den Zuhörer für mein Wohlwollen empfänglicher zu machen.

»Der blos animalische Skorpion häuft nicht, wenn er den Stachel in sein eigenes Herz senkt und so an dem selbsterzeugten Gifte zu Grunde geht, in thörichter Verzweiflung einen Flammenkreis um sich her, wie Ihr, mein theurer Sir, durch Euren bösen Willen, durch Eure schneidende Bemerkungen und durch jeden Akt der Herausforderung thut. Ihr könnt nicht entkommen, und es bleibt Euch nur das Schicksal des armen Skorpions, wenn Ihr nicht in möglichster Bälde und allen Ernstes bereut.« Der Leser wird staunen, wenn er findet, daß dieser wohlgemeinte und, wie ich in der That glaube, nicht übel ausgedrückte Beweis sehr unhöflich entgegengenommen wurde.

»Kapitän Dribble,« sagte er, »Ihr seid ein Narr – ein alter, garstiger Auswuchs, der von dem geselligen Körper abgehauen werden sollte. Ihr laßt Euch Kapitän nennen und habt Niemand in dieser Eigenschaft gedient, als Euch selbst – seid daher ein Pensionär, ein Raupe, ein Krebsschaden, der kein anderes Geschäft hat, als die Früchte eines sauern und ehrlichen Fleißes aufzuzehren. Um des Nutzens willen, den Ihr der Gesellschaft leistet, könnte man Eures Lebens völlig entrathen. Oder könnt Ihr mir vielleicht sagen, was Ihr thut – was Ihr je gethan habt, um das Brod des Staates zu verdienen, von dem Ihr Euch so ungerechterweise mästet?«

Natürlich konnte ich diesem Menschen nichts von den Wunden sagen, die ich erhalten, oder von der Musketenkugel, die durch meine Lungen gedrungen war; ich erhob daher blos meine Augen und blickte ihm mild in's Gesicht. Der Stachel stak in seinem eigenen Herzen – in dem Herzen des Mannes mit der giftigen Zunge, während die Wärme des Glückes mein eigenes erfüllte. Als er mir den gedachten Vorwurf machte, hatte sein Gesicht ganz jenen Schmerzausdruck, den man an einem über Gebühr gepeitschten Matrosen bemerkt. Ja, ich bemitleidete ihn in einem Grade, daß ich ihn fast hätte lieben können, obschon ich mich von Stund an enthielt, durch meinen guten Rath bessernd auf ihn einwirken zu wollen.

In dieser Periode unserer Geschichte war er übrigens guten Rathes sehr benöthigt, und er hätte wahrscheinlich besser sowohl für sein zeitliches, als für sein ewiges Glück gesorgt, wenn er zu dem verabschiedeten Kapitän gekommen wäre, statt daß er sich nach der dunkeln Zelle allen Uebels, nach dem Bureau des Advokaten Mr. Sharpus begab.

Das Einleitungshonorar für den Mann der bösen Anschläge war groß – sehr groß; aber er fühlte das Gewicht der schweren Summe, die er in seiner Hand hielt, nicht, obschon er nur zwei Jahre nachher erfahren mußte, wie schwer sie seine Brust drückte, als er reuig und zitternd auf seinem Sterbebette lag.

Die Konsultation währte bis nach Mitternacht. Die Thüre war verschlossen und doppelt verriegelt; am Morgen fand der schläfrige Diener, daß viel Wein getrunken und verschüttet worden war. Bei der gedachten Konsultation hatten viele böse Geister mitgewirkt – der Teufel der Gelüste, der des Geizes, der des weltlichen Vortheils und der der Prunksucht, obschon der des Stolzes wahrscheinlich der lauteste war und den Vorsitz führte, bis endlich der schnöde Geist, welcher den Segen des Weines in flüssiges Feuer umwandelt, für den Rest jener Sündennacht den Thron usurpirte. Die Resultate sind aus Nachstehendem zu entnehmen.

Am andern Tage wurde in amtlicher Form eine Beschwerde gegen Kapitän Oliphant bei der Admiralität eingereicht; zugleich erhielt der Agent des jungen Mannes die Weisung, daß eine Rechtsklage bei dem Kanzleihofe anhängig gemacht worden sei, des Inhalts u. s. w. u. s. w. Als Termin für die Antwort war eine unmöglich kurze Frist festgesetzt.

Diese Schritte konnten jedoch Mr. Rubasore's Plane nicht fördern, und waren eben reine Ergüsse der Rache. Vor Allem schien es daher nöthig zu sein, sich der Person von Miß Belmont zu bemächtigen, sie von allem Verkehr mit der Welt auszuschließen und in der Abgeschiedenheit ihren romantischen Geist, ihre falschen Grundsätze oder ihren Schrecken dermaßen zu bearbeiten, daß sie gerne darauf einginge, die Trauung ein paar Tage nach dem Antritt ihrer Volljährigkeit stattfinden zu lassen.

Hiezu hatte man noch fünf Monate Zeit – nach der Meinung des Mr. Sharpus eine mehr als zureichende Frist, um alles dies zu bewerkstelligen. Da außerdem der Nebenbuhler zur See war, und die Abgeschiedenheit von Jasper-Hall als zureichend erschien, um einen neuen Angriff auf Rosa's falsche Grundsätze zu versuchen, so benahm sich Mr. Rubasore bei der Sache ruhig genug und benützte seine Zeit hauptsächlich zum Aufsuchen der besten Künstler, welche seinen äußern Mann stattlich herausputzen konnten.

Und nun kam ein höchst lächerlicher, zugleich aber auch sehr wichtiger Punkt in ernste Erwägung. Miß Rosa hatte ihren Widerwillen gegen seinen Zopf laut zu erkennen gegeben. Besaß er wohl hinreichend Beredsamkeit und Verführungskunst, um die Abneigung des Mädchens gegen ihn selbst sowohl, als gegen sein Kopfanhängsel zu überwinden? Es war eine kitzliche Frage und vielleicht eine Tollkühnheit von seiner Seite, wenn er sich mit dieser doppelten Aufgabe befaßte. Um sich darüber Raths zu erholen, verfügte er sich zu einem fashionablen Perückenmacher in St. James.

Jene Epoche war höchst bedeutsam für die Perückenmacherzunft, denn der Kampf zwischen den natürlichen Haaren und den künstlichen Locken der Toupées stand eben in seiner höchsten Höhe. Fast alle jungen Leute hatten sich dafür erklärt, ihr Haar au naturel zu tragen, und verschmähten sogar (besondere Anlässe ausgenommen), sich des Puders zu bedienen. Das mittlere Alter schwankte auf dem Indifferenzpunkte hin und her, während die Bejahrten – wie es in der Regel der Fall ist – an ihren alten Bräuchen festhielten.

Der König hatte mit dem ganzen Hof die Partie der Beutelperücken ergriffen, die mehr oder weniger gekräuselt waren; aber dennoch konnte sich eine derartige Frisur nur im Glanze der königlichen Sonne wärmen. Die jungen Prinzen hatten bereits begonnen, ihr eigenes Haar zu tragen, ohne für dasselbe einen weiteren Schmuck zu verlangen, als wie ihn die Natur gegeben hatte. Dies war eine schreckliche Neuerung, und durch das weite Reich schüttelten Millionen bedenklich ihre Perückenköpfe. Die Zunft der Barbiere warf verzweifelt ihre Hände in die Höhe, jede derselben mit einer Puderquaste bewaffnet. Kräuseleisen wurden trotzig in der Luft geschwungen, und die Perückenstöcke fielen in entsetztem Grausen um.

Aber das Fiat war ergangen und die Majestät der bartscheerenden Herrschaft fühlte sich bis in's Herz erschüttert – eine Erschütterung, von der sich das Perückensystem seitdem nie wieder erholt hatte. Wie waren die Gewaltigen gefallen! Die Parfümerie- und Rasirbuden haben sich in die Trümmer des Reiches getheilt, aber die kunstgerechte Würde der Wissenschaft ist für immer dahin. Mag ein derartiger Laden noch so ausgedehnt, die Waare noch so kostbar und der Preis noch so übermäßig sein – und wie wir wissen, fehlt es an alledem durchaus nicht – so ist doch ein Parfümeur weiter nichts als ein Krämer; er hat aufgehört, ein Künstler zu sein. Vermöge der inwohnenden Kraft der Wissenschaft ist der Barbier, der für einen Penny rasirt und für zwei Pence (bei Kindern mit beträchtlicher Preisermäßigung) die Haare schneidet, in Wirklichkeit mehr ein Fachmann, als der Parfümeur von Bond-Street, obgleich Letzterer seine Equipage hat, ein Landhaus besitzt und seine Familie auf sechszehn Fuß breite und zehn Fuß hohe Leinwand malen ließ.

Nur mit sich selbst zu Rathe gehend, machte sich Mr. Rubasore auf den Weg und blickte in viele elegante, gut besuchte Perückenmacherläden, um ein ermutigendes Gesicht und reines Feld aufzufinden. Die fashionabeln Stadttheile konnten ihm jedoch keinen derartigen doppelten Vortheil bieten. Endlich gelangte er in eine unnennbare Straße, wo es von Gewürzkrämern, rußigen Kohlenhändlern und Austernverkäufern wimmelte. An Barbierbuden war hier kein Mangel, indem es höchstens an Leuten fehlte, welche ihre Zuflucht zu denselben nahmen. In einer derselben entdeckte er eine schmächtige, ziemlich imponirend aussehende Person von etwas gebeugter Haltung (vielleicht die Wirkung des Alters, möglich aber auch die seines Gewerbes), welche ein ungeheures Rasirmesser auf einem ellenlangen, fettaussehenden Riemen strich.

Mr. Rubasore fühlte mit einemmale, daß er hier keinen gewöhnlichen Menschen vor sich hatte. Mit der anmuthigen Leichtigkeit eines Höflings ließ der Barbier seinen Streichriemen fallen, machte eine Verbeugung, in der viel Höflichkeit, aber auch keine Spur von Demuth zu lesen war, stäubte mit einem weißen Nesseltuch den Sitz seines besten Stuhles ab und bot ihn dem Besuche an.

Mr. Rubasore fühlte sich jedoch in diesem bequemsten aller Stühle nicht sehr gemächlich. Der reinlich gekleidete, ältliche Barbier stand ein wenig bei Seite und hatte die Arme über der Brust gekreuzt, während sein mildes Auge Wohlwollen von sich strahlte, und der Mann selbst geduldig wartete, bis er angeredet wurde – allerdings eine schwere Geduldprobe, die übrigens endlich dennoch den Sieg davon trug.

»Ich bin gekommen,« begann Mr. Rubasore, brach aber wieder ab und machte eine lange Pause. Die Verbeugung des Künstlers war im entsprechenden Grade tief, wenn sich anders Raum mit Zeit vergleichen läßt.

»Ihr seid sehr höflich gegen Eure Kunden.«

»Ich habe nur wenige, und Ihr seid heut der erste, obschon es bereits zwölf Uhr vorüber ist – vorausgesetzt, Sir, daß Ihr mich soweit beehrt, meine Kunst in Nahrung zu setzen.«

Der Barbier sprach dies in möglichst süßem Tone und in starkem französischem Accente. Mr. Rubasore sah ihn aufmerksam an und konnte nicht länger zweifeln, daß er es hier mit einem Gentleman zu thun hatte.

»Wie kömmt es,« fuhr er fort, indem er sich im Laden umsah, daß ein so höflicher, aufmerksamer Haarkräusler und ein so reinliches, gutgeordnetes Lokal keine Kunden an sich zieht?«

»Der Grund liegt einfach darin, Sir, weil ich ein Ausländer und refugié bin. Unter den Klassen, welche diese Gegend frequentiren, gilt dies als ein Nachtheil, obschon es in andern Quartieren als Empfehlung betrachtet werden würde.«

»Aber warum wendet Ihr Euch überhaupt diesem Geschäfte zu? Unsere Regierung ist doch so freigebig gegen die französischen Flüchtlinge.«

»Leider, mein guter Sir, habe ich durch die zu großmüthige Sinnesart des einzigen Restes meiner Familie höchst unschuldigerweise ihre guten Dienste verwirkt. Wir wurden beschuldigt, einem Spion Herberge gegeben zu haben.«

»War dem wirklich so, mein guter Freund?« entgegnete Rubasore neugierig.

» Mon Dieu! wie können Sie dies nur glauben? Es war ein junger Mann, der sich unschuldigerweise verstrickt fand, denn Niemand hätte seinem Vaterlande treuer sein können. Die Ungelegenheiten, die ihm bereitet wurden, waren übrigens so verwickelt, und er wünscht so entschieden, die Gefühle einer sehr ehrenwerthen und ausgezeichneten Familie zu schonen, daß er es vorzieht, als ein unstäter Verstoßener zu erscheinen, und lieber Alles über sich ergehen läßt, ehe er seine Angehörigen durch die Angaben, die ihn vor seinem Vaterlande rechtfertigen können, bloßstellen will.

»Sein Name – darf ich nach seinem Namen fragen?«

»Ich wage es nicht, ihn zu nennen, obschon ich bei seinen Handlungen nur wenig betheiligt bin. Wie dem übrigens sein mag, er ist jetzt in Sicherheit.«

»Wenn er unschuldig ist, so freue ich mich darüber.«

Plait-il, daß ich etwas für Monsieur thue?«

»Ich weiß in der That nicht. Ich kam eigentlich herein, um die ungemeine Zierlichkeit des Platzes zu bewundern, vielleicht auch um eine oder die andere Frage zu stellen, wenn es nicht etwa noch obendrein der Wunsch war, einem unglücklichen Manne Dienste zu leisten.«

»Ihr erweist mir zu viele Ehre. Ich wunderte mich über Eure Entrée. Eure Chevelure ist tout comme il faut. Ah, ich kann mir jetzt denken, Sir, Ihr seid der gute Arzt. Ihr habt von der Krankheit von ma pauvre Rosalie gehört. Ich will Wochen und Monate lang Euern Kopf bedienen und des Dankes nicht satt werden – ja und werde es Euch besonders eingedenk sein, wenn, le bon temps reviendra.

»Ist diese Rosalie die Dame, welche dem jungen Gentleman zur Flucht behülflich war?«

Diese Frage verblüffte den Franzosen ein wenig. Er begann zu argwöhnen, der achtbar aussehende Mr. Rubasore sei ein geheimer Agent der Polizei, denn er brauchte augenscheinlich den Beistand seiner Kunst nicht, benahm sich im Allgemeinen sehr neugierig und hatte nun seine Fragen viel weiter ausgedehnt, als gerade angenehm war.

Nach einer Pause, die für den einen Theil sehr peinlich und für den andern sehr drückend war, krümmte sich der Refugié zu einer Verbeugung zusammen, die sich wohl als ein lebendiges Fragezeichen deuten ließ, und so klar, als eine Verbeugung nur sprechen konnte, die Worte ausdrückte: »Was kommt nun zunächst?« Dann pflanzte sich der alte Friseur feierlich in seiner vollen Höhe auf, als wollte er erklären: »Ich bin auf meiner Hut.« Da jedoch dieses Geberdenspiel keine direkte Antwort auf Mr. Rubasore's Frage war, so wiederholte er dieselbe mit der zugäblichen Versicherung, daß er sich nicht aus feindseliger Absicht erkundige, sondern ein Mann von makellosem Ehrgefühle sei.

Dies stellte den guten Perrückenmacher zufrieden, und er antwortete unverhohlen mit Ja. Dieses Zugeständniß erhöhte nur Mr. Rubasore's Wunsch, die Person zu sehen, welche eine so abenteuerliche Rolle gespielt hatte, und der »Mann von makellosem Ehrgefühl« erklärte sofort, er wünsche dem jungen Frauenzimmer Beistand zu leisten, durch die Aeußerung, daß er ihr den Puls fühlen und ein Recept verschreiben wolle, trügerischerweise andeutend, daß er ein Arzt sei.

Monsieur Florentin, denn dies war der Name des Emigré, drückte seine Dankgefühle aus und ging nach einer langen, dunkeln Treppe voran. Er öffnete die Thüre eines Zimmers im ersten Stock und stellte den sogenannten Arzt seiner Tochter, einem liebenswürdigen Wesen vor, dessen Schönheit aber leider sehr verblichen war.

Mr. Rubasore war gewissermaßen an die Wirkungen der Schönheit gewöhnt – denn er hatte in stundenlangen Betrachtungen seine Seele mit den Reizen von Miß Belmont genährt, alle Anmuth in ihrer Haltung beobachtet, jedes Grübchen und Lächeln ihres leuchtenden Gesichtes studirt und bisweilen es sogar gewagt, zitternd in den dunkeln Tiefen ihrer schwärmerischen Augen zu schwelgen. Aber nun stand eine Schönheit von ganz verschiedener Art vor ihm – eine Schönheit, gegen welche das Herz im Nu erwärmte und in Sehnsucht verging – eine Schönheit, welche den Geist unwillkürlich den Erdenfreuden entriß und den Beschauer mit Gedanken an die Auferstehung der Geister und an einen Zustand des Daseins erfüllte, wo der Wurm der Krankheit keine Stelle finden kann.

Rosalie war groß und im Stehen etwas gebeugt – eine Haltung, die ihr jedoch nicht natürlich war, sondern theilweise von dem Sitzen über dem Strickrahmen, theilweise auch von Unwohlsein, am meisten aber von jenem erdrückenden Gefühl des Herzwehs herrührte, welches, wenn die Hoffnung entschwunden ist, uns der Erde zuzieht, unter der wir zu ruhen wünschen, um im kühlen Grabe unser Elend zu vergessen.

Rosaliens Antlitz war blaß, ihre Lippe blutlos, und tiefe Furchen, jene Gräber der Hoffnung, hatten sich in ihren Schläfen eingedrückt – dem Anschein nach Wirkungen eines nicht ersterbenden, fressenden Kummers. Aber ungeachtet dieser Todtenblässe war ihr Gesicht keineswegs abgemagert, sondern vollkommen oval gebildet. Ihr großes, braunes Auge trug den Ausdruck tiefer Schwermuth, und ihr Antlitz erschien fast wie ein edles Monument stillen, wandellosen Grames, hätte nicht ein unaufhörliches krampfhaftes Zucken der Oberlippe auf ein unaussprechliches Weh hingedeutet. Auf diesem kleinen Raum befand sich das Schlachtfeld, auf welchem der Heroismus stummen, unausgesetzten Leidens gegen das Schluchzen des Schmerzes und den Schrei der Verzweiflung ankämpften.

»Rosalie, mein Kind,« sagte der Vater, »hier ist der freundliche Doktor, der gekommen ist, um dich zu heilen.«

Er verbeugte sich und verließ das Zimmer.


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