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Drittes Kapitel

»Das Gute such'; doch wolle eitlen Herzens
Nicht, daß der Himmel prüfe deinen Werth
Und Weh dir sende.«

Altes Schauspiel.

Trotz seiner großen unbelasteten Besitzungen, seines hohen Rufs als geschickter Seemann und seiner anerkannten ritterlichen Tapferkeit war Sir Octavius doch ein höchst unglücklicher Mann. Unter seinen vielen Heldenthaten standen im Vordergrunde einige dunkle Handlungen, welche in seinem Innern einen düsteren Schatten auf die ihm ertheilten Ehren warfen oder nach dem Zustande seiner jemaligen Gefühle sie mit Blut färbten. Wie bald läßt ein erreichtes Ziel die Handlungen, die uns verherrlichen, erbleichen! Nach dem Verlaufe der Jahre erinnert man sich ihrer nur zu oft mit Abscheu, oder sie entschwinden für immer aus unserem Gedächtnis. Aber an begangene Unthaten heftet sich der Gedanke mit wahnsinniger Begier und verliert sich nie aus der Erinnerung, sondern steht da mit unsterblicher Lebhaftigkeit, um uns durch die einsamen Spaziergänge des Tages oder durch die schreckhaften Träume der Nacht zu begleiten. Er lebt ewig und kann nur durch ein fortgesetztes Begehen noch größerer Verbrechen zerstört werden. Die Vorsehung hat es wohlthätig so eingeleitet, daß, so lange Gewissensbisse vorhanden sind, noch Hoffnung für den Sünder bleibt. Diese unverwüstliche Zerknirschung trifft bisweilen Handlungen, die unendlich nachtheiliger in ihren Folgen wurden, als der Thäter derselben je beabsichtigte, und dann wird der Widerhaken des Schmerzens über eine nie vergessene finstere That gewöhnlich noch durch die Liebe oder andere reine Empfindungen der Seele geschärft. Ein Gleiches war auch bei dem alten Commodore der Fall.

Ich habe nicht im Sinne, eine ausführliche Lebensbeschreibung unseres Helden zu geben, und will eben so wenig berichten, in welchem von seinen siebenzig Gefechten er sein Auge verloren oder auf welchem Schiffe ihm der Arm abgeschossen wurde. Ueberhaupt war der Körper des Commodore über und über mit Narben besäet, und doch nannte er sich einen glücklichen Mann für das Treffen. Man erlaube mir, nur so viel von seinem Leben zu berichten, als auf unsere gegenwärtige wahre Geschichte Bezug hat. In der Zeit, mit der unsere Erzählung beginnt, hatte Sir Octavius drei lebende Schwestern. Der Leser kennt bereits eine derselben in der Person der Miß Matilda Bacuissart oder (um mich passender auszudrücken) der Miß Bacuissart, da sie, obgleich die jüngste, doch die einzige unvermählte aus dem Kleeblatte war. Sie galt als Haushälterin des Commodore; da man aber mit Haushaltung in der Regel den Begriff verbindet, daß das Haus in Ordnung gehalten oder im Hause Ordnung gehandhabt werde, so müssen wir sagen, daß die gute Lady aller derartigen Mühe überhoben blieb, weil Miß Rebekka eifrig dafür Sorge trug, daß durch alle Gelasse des Landsitzes, vom Keller an bis zu den Dachstübchen hinauf, Unordnung herrschte, das einzige kleine Gemach ausgenommen, welches Mr. Underdown und seinen Büchern angewiesen war.

Die zweite Schwester war eine gewisse Mrs. Oliphant, eine sehr hübsche, wohlgenährte und glückliche Wittwe, obgleich alle Bacuissarts ihr nachsagten, sie habe sich selbst herabgewürdigt, weil sie einen sehr reichen Kaufmann aus den Minories, der mit Specereien en gros handelte, geheirathet hatte. Die Rosinen und Feigen, die er in seinem Geschäfte begünstigte, brachten ihm einen reichlichen Lohn ein, denn er hinterließ bei seinem Tode die Summe von hunderttausend Pfunden. Die Wittwe war nun ungefähr zweiundvierzig und hatte eine ziemlich zahlreiche Familie, deren männliche Mitglieder sich mit einer einzigen Ausnahme sehr eifrig dem Handelsfache zugethan hatten, während die Damen mit einem Eifer, der dem ihrer Brüder nichts nachgab, die Badeorte besuchten, dabei die Hoffnung unterhaltend, so schleunig als möglich die Gebieterinnen über vortreffliche Etablissements zu werden. Der älteste Sohn war Postkapitän und führte, obgleich er kaum sechsundzwanzig Jahre zählte, das Kommando über die Fregatte Monina.

Wenn schon die übrige Familie sehr scheu gegen die gezuckerten Oliphants that, so stand doch der junge Kapitän bei dem alten Commodore ziemlich in Gnaden, obgleich der erstere Sorge dafür trug, sich so weit als möglich von seinem schätzbaren Onkel fern zu halten. Dieser Beweis unbegrenzter Achtung war etwas undankbar von Seite des jungen Kapitäns, sintemal es hauptsächlich dem Einflusse seines Onkels zuzuschreiben war, daß er mit solcher Postgeschwindigkeit seinen Posten erhalten hatte. In den letzten fünf oder sechs Jahren konnte man allerdings dem Commodore nicht viel gute Laune oder auch nur Gutmüthigkeit nachrühmen, und dies mochte wohl der Grund sein, daß der junge Postkapitän weit mehr geneigt zu sein schien, die äußere Architektur von Trestletree-Hall, als die inneren Schönheiten und Bequemlichkeiten desselben zu bewundern, trotz dem, daß daselbst noch ein schönes Mädchen und obendrein eine reiche Erbin zu finden war.

Des Commodore's älteste Schwester jedoch, von der wir jetzt sprechen wollen, war früher eine ausgezeichnete Dame gewesen, und galt jetzt als eine außerordentliche Frau. Einige sagten, sie sei wahnsinnig, aber ihre Schmäher hatten nicht die entfernteste Vorstellung von der wunderbaren Organisation ihres Geistes. Von ihrer Jugend an war sie eine Schwärmerin gewesen, aber nur enthusiastisch in ihrer Liebe für das Schöne und Gute. Wenn je ein Wesen für die Tugend bloß um ihrer Liebenswürdigkeit willen begeistert war, so ließ sich dies von Lady Astell sagen. Ueber jeden Gegenstand sprach sie ihre Ansicht dahin aus: »Ist er in jeder Hinsicht gut, so muß er auch angenehm und sehr schön sein.« Niemand konnte ihr je zum Vorwurf machen, daß sie sich ein hartes Wort oder einen geringschätzigen Blick erlaubt habe; aber dennoch beharrte sie unwandelbar in dem, was ihr Gewissen als den rechten Pfad bezeichnete. Wenn sie irgend einen Fehler hatte, so bestand dieser vielleicht in dem Stolze auf die Vollkommenheit der Seelenbildung, die sie gewonnen zu haben glaubte.

Sie machte einmal in einer Periode, in welcher sie sich vielleicht besonders aus ihren rechtlichen Sinn stützen zu können glaubte, einer streitsüchtigen Freundin einen milden Vorwurf, indem sie sagte:

»Meine theure Isabella, ist nicht dieses unablässige Mißvergnügen sündig? Gib dir Mühe, deine Wünsche und Bestrebungen zuordnen. Was mich betrifft, so bin ich in Frieden mit Gott und den Menschen.«

Obgleich dies nicht in pharisäischem Geiste, sondern in der besten Absicht gesprochen war, drang doch die scharfe Spitze des Vorwurfes tief in das Herz der Getadelten, die ihrer Empfindlichkeit durch nachstehende Worte Luft machte:

»Du rühmst dich also, Agnes Bacuissart – du rühmst dich, in Frieden mit Gott und mit den Menschen zu leben – nun es mag sein; aber warte, bis die schlimme Stunde kömmt – warte bis Leiden auf dich hereinbrechen und deinen selbstgefälligen Geist in den Staub drücken. Kein Wunder, wenn die Erbin und die Schönheit, der Alles den Hof macht und schmeichelt, mit Gott und der Welt in Frieden steht. Du hast noch keine Prüfungen erfahren – hast noch kein Wehe kennen lernen – hast nicht gesehen, wie das Herz, das du verschenktest, mit Verachtung bei Seite geworfen wurde. Ja, du hast nichts erfahren – keine Heimsuchung kennen gelernt.«

Damit brach die aufgeregte Freundin in Thränen aus und wollte sich nicht trösten lassen, sondern schied in gereizter Stimmung.

Ehe Agnes Bacuissart selbige Nacht ihr Haupt auf den Pfühl niederlegte, begann sie zu denken, daß sie noch nicht ganz so gut sei, als sie bisher geglaubt, und daß sie erst heute wieder eine Sünde begangen habe. Vergessend jener göttlichen und durch die Liebe eingehauchten Bitte, die uns von dem Erlöser gelehrt wurde: »Führe uns nicht in Versuchung,« flehte sie, ehe sie einschlief, in ihrem Gebete um Prüfungen – verlangte, in Versuchung geführt zu werden. Das vermessene Gebet wurde fruchtbar und in einer schaudervollen Weise erhört.

Schon am nächsten Tage fiel ihr Hofmeister auf die Kniee vor ihr nieder und erklärte ihr, daß er das Opfer einer zum Wahnsinn treibenden, zerstörenden Leidenschaft sei. Nun machte ihr das Gewissen Vorwürfe, und als sie das nur zu sanfte Nein stotterte, weinte sie. Aber im Ganzen benahm sie sich doch edel, denn während sie allmählig jede Hoffnung in dem Busen ihres demüthigen Anbeters zerstörte, gab sie seinen Gefühlen einen Gegenstand, in Verbindung stehend mit der verzweifelten Leidenschaft, die, wie er betheuerte, nie aus seinem Herzen gerissen werden konnte.

Sie wußte ihn erstlich in eine Lage zu versetzen, die ihn über den Mangel erhob, ohne ihn jedoch mehr als argwöhnen zu lassen, woher die Gabe kam; und dann versprach er ihr, um ihretwillen über die Sicherheit und das Ungestüm ihres jüngsten und geliebtesten Bruders, des nunmehrigen Commodore zu wachen, der damals ein wilder und ausschweifender Flottenlieutenant war und sich durch seine Tollheiten in den verschiedenen Hafenstädten nicht den besten Geruch erworben hatte. Der verabschiedete, aber doch geschätzte Liebhaber erfüllte treulich seine Aufgabe, denn er verließ den Commodore nie und ist noch immer bei ihm. Brauche ich zu sagen, daß der Leser diesen Mann in Niemand anders, als in dem ruhigen Mr. Underdown zu suchen hat?

Aber die Wirkungen jenes unbesonnenen Gebetes hatten erst begonnen. Im Laufe dreier kurzen Jahre mußte sie es erleben, daß ihre zweite Schwester eine die Familie herabwürdigende Ehe mit Mr. Oliphant einging. Sie war zu verständig, um dies für eine Heimsuchung zu betrachten; aber da der Vorgang ihren stolzen Verwandten so schmerzlich wurde, so fühlte sie den Kummer gleichfalls mit. Dann kam die eisige Hand des Todes und verrichtete mit ihrem verderblichen Finger rasche Arbeit. In der kurzen Frist dreier Jahre sah sie sieben theure Brüder der Reihe nach zu Grabe tragen, und die Ehre des Hauses beruhte jetzt nur noch auf einem wilden, wie sie fürchtete, ausschweifenden jungen Seemann. Sie begann nun sich mit Hiob zu vergleichen und bemühte sich, noch angelegentlicher Gutes zu wirken, um ihr eigenes Leiden dadurch zu überwinden, daß sie die Noth Anderer erleichterte.

In der Frische ihres Grames, nachdem der Wurm eben erst ihren siebenten Bruder zu seinem ekeln Mahle gemacht hatte, besuchte die vorerwähnte Isabelle, jetzt ein glückliches Weib, die Betrübte und sprach nun ihrerseits, als sie die Spuren der Thränen auf den blassen Wangen der Freundin sah, von der Sünde der Unzufriedenheit, worauf die mit bitteren Verlusten Heimgesuchte mild und sogar in liebevollem Tone antwortete:

»Meine theure Isabelle, ich muß bekennen, daß ich den Schmerz, der unserer Natur inwohnt, empfinde; aber glaube mir, daß ich, trotz dieser hinfälligen Gestalt und dieser hohlen Wangen, dennoch nicht hadere; ich bin noch immer in Frieden mit Gott und mit den Menschen.«

Aber ungeachtet der Kraft ihres wohlgeordneten Geistes bemerkte doch Jedermann, daß ihr Körper erlag, und Miß Bacuissart hätte trotz ihrer frommen Ergebung zu Grunde gehen müssen, wenn nicht ein in jeder Hinsicht ihrer würdiges Wesen vermittelst der Lippen der Liebe tröstenden Balsam in's Herz gegossen hätte. Im Laufe der Zeit vermählte sie sich mit Lord Astell, dem jüngeren Sohne eines englischen Grafen, welcher, obgleich nur ein jüngerer Sohn, ein fast eben so großes Vermögen, als ihr eigenes war, mit in die Ehe brachte.

Hatte Agnes früher das Unglück kennen gelernt, so wurde es jetzt auch ihr Loos, den Segen des Lebens zu erfahren. Früher hatten sie Sorgen heimgesucht, und nun kamen die noch stärkeren Verlockungen der Freude; aber dennoch vergaß sie weder Gott noch ihre Nebenmenschen. Ihre glühende Begeisterung für das Gute und Schöne unter der Würde frauenhafter Ruhe verschleiernd, verbreitete sie eine Atmosphäre des Segens um sich her. Aber das schwarze Buch ihrer Prüfungen stand noch offen und die letzte furchtbarste Seite war ihr noch nicht zu Gesicht gekommen. Lord Astell starb nach vier Jahren eines Glückes, das vielleicht zu groß war für das menschliche Herz, plötzlich dahin.

Sagte wohl die trostlose Wittwe im ersten wilden Ausbruch ihres Grams abermals: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gepriesen?« Wir wissen es nicht. Aber sie schloß sich Tage, Wochen und Monate ein, kaum hinreichend genießend, um ihren Gram zu nähren, denn ihr Körper schwand rasch dahin.

Es lag keine Schaustellung in ihrem Schmerze. Sie behängte das Zimmer, welches sie nie verließ, nicht mit schwarzen Draperien, und eben so wenig schloß sie trübsinnig das Licht des Tages aus, obgleich das der Hoffnung in ihrem Innern erloschen war. Wenige gaben sich jedoch die Mühe oder wagten es, sich ihr aufzudringen, und sie blieb fast ganz abgeschieden. Die Leute konnten in ihrer Nähe stehen, ohne daß sie aus dieselben achtete. Wenn Isabella die Freundin ihrer früheren Tage, sich ihr näherte und mit blutendem Herzen, mit von Gram erstickter Stimme sie trösten wollte, konnte die Niedergedrückte nur stöhnend ausrufen: »Er war so gut!« und weinte dann wieder auf's Neue.

So konnte es nicht fortgehen, und ein baldiges Ende hätte die Folge sein müssen, wenn nicht die Erleichterung nahe gewesen wäre. Agnes war nun so schwach geworden, daß ihr sogar das Aufstehen von dem Sopha, auf welchem sie den ganzen Tag über lag, schmerzlich wurde. Sie liebte diesen Ruheplatz mit krankhafter Innigkeit, denn hier war ihr Gatte gestorben. Der Abend brach herein und es waren Leute im Zimmer, ohne daß sie darauf achtete. Sie kamen heran und beugten sich über sie, aber sie hörte ihre Tritte nicht, denn ihr Antlitz war in die Kissen begraben.

Endlich überflog ein heftiger Schauder ihren ganzen Körper, und sie rief außer sich:

»Habe Erbarmen, habe Erbarmen, Herr und Gott! Laß mich sterben. Oh, nimm mich zu ihm.«

Aber eine Hand legte sich schwer auf ihre Schulter, und eine alte vertraute Stimme, klar, mild und rein, redete sie mit den Worten an:

»Lady Astell, blickt auf und thut Eure Pflicht.«

Sie sah nicht auf, zitterte aber heftig und versetzte:

»Wer ruft mir? Ist es eine Stimme vom Himmel?«

Dieselben Töne ließen sich nochmal, obgleich etwas bebender vernehmen –

»Es ist der Aufruf der Schrift an diejenigen, welche an Christus glauben; es ist der Ruf des Kindes zu seiner Mutter – beides heilige Ansprachen, denen man nicht widerstehen darf.«

Und dann hörte sie ein Schluchzen und ein schwaches Stimmchen, dessen Laute ihr tief in's Herz drangen:

»Mama, küsse doch den armen Augustus – er ist jetzt nicht böse.«

Lady Astell sprang wie von einem elektrischen Schlage berührt, auf, schüttelte das wirre Haar ungestüm aus ihren Augen und rief laut hinaus:

»Laßt mich ihn sehen, laßt mich ihn sehen!« Dann umklammerte sie den Kleinen mit ihren Armen und konnte nur die Worte hervorstoßen: »Mein Kind, mein Kind, mein Kind!« anfangs rasch und laut, aber allmälig in sanfterem Tone, bis unter den beschwichtigenden Fittigen des Friedens die Liebesworte kaum mehr hörbar wurden und wie in einem ruhigen Schlummer dahinstarben: denn das Haupt der Mutter, die ihren Augustus in ihrem Arm hielt, war auf das Kissen zurückgesunken, und schlief nach vielen ermüdenden Tagen und thränenreichen Nächten wieder den ersten glücklichen Schlaf. Der zärtliche Knabe, der kaum mehr als drei Jahre zählte, fügte sich so zu sagen mit dem Instinkte der Liebe in die Gefühle der Mutter, und als der Fremde das Zimmer verließ, schliefen sie beide, gegenseitig sich mit ihren Armen umschlingend.

Mr. Underdown saß an demselbigen Abend bei seinem einsamen Mahle; aber man denke sich sein freudiges Erstaunen, als gegen neun Uhr Lady Astell, die ihr Söhnlein an der Hand führte, in sein Zimmer trat. In ihren Tritten lag eine so hohe Würde und in ihrem Antlitze eine so süße Ruhe, daß er daraus entnehmen konnte, sie habe den Kampf ihrer Gefühle überwunden. Ihr Haar war nicht länger zerrauft, ihr Anzug durch keine Spuren der Vernachlässigung bezeichnet. Demungeachtet lag auf ihren Lippen kein Lächeln, als sie sich mit ausgestreckten Händen ihrem früheren Liebhaber näherte; wohl aber sprach sie die süßen Worte des Willkommens, und das milde Licht der Dankbarkeit strahlte aus ihrem Auge. Sie drückte ihren glühenden Dank dafür aus, daß er sie aus einer Betäubung geweckt habe, welchen sie den sündigen Schlaf der Selbstsucht auf dem Posten nannte, den die Vorsehung ihr angewiesen habe. Dann erkundigte sie sich ausführlich nach dem Befinden ihres Bruders, des Postkapitäns, dem sein wagehalsiger Unternehmungsgeist und seine vielen Siege bereits einen nicht unbedeutenden Namen in den Annalen seines Vaterlandes gewonnen hatten.

Mr. Underdown sagte ihr, Tags zuvor sei die Una – die Fregatte, welche Sir Octavius damals kommandirte – von einer Westindienfahrt im Hafen von Portsmouth eingelaufen. Ihr Bruder habe die Briefe, die seiner harrten, gelesen, dann sogleich nach ihm geschickt, mit großer Aufregung, die er vergeblich zu unterdrücken versuchte, über das weibliche Geschlecht zu fluchen angefangen und dann in seiner ungeschlachten Phraseologie plötzlich ausgerufen:

»Da gilt's den Teufel auszuzahlen und ist kein Pfühl zu heiß! Astell hat die Nummer seines Tisches verloren, und Agnes macht sich selbst zur Närrin. Sie muß sich nicht so weich machen, daß ihr am Ende der Wind ausgeht. Beeilt Euch daher und seht zu, was Ihr für sie thun könnt. 's schlägt nicht in mein Fach, wie Ihr seht, sonst würde ich selbst gehen. Ich brauche kaum zu sagen, daß ich so hastig hieher kam, als mir's Geld und Pferde nur möglich machten.«

Sie dankte ihm abermals, trank auf seine Bitte ein halbes Glas Wein und verabschiedete sich bald darauf von ihm, indem sie ihm zugleich betheuerte, er brauche nicht mehr für sie besorgt zu sein, denn sie habe bereits gefunden, daß sie hinreichend Kraft besitze, um ihren Mutterpflichten nachzukommen.

Am andern Abende verfügte sich Mr. Underdown zu Sir Octavius zurück und gab ihm die beruhigende Versicherung von dem Besserbefinden seiner Schwester. Ein paar Tage nachher erhielt Underdown einen Brief von seinem Agenten, worin ihm derselbe mittheilte, daß ihm von unbekannter Hand eine beträchtliche Erhöhung seiner Leibrente zugegangen sei.

Seit jenem Besuche, den Lady Astell von ihrem alten Lehrer erhalten hatte, erholte sie sich wunderbar schnell wieder an Seele und Körper. Sie wurde thätig, ja sogar heiter, und obgleich sie ihren Schmerz nicht ganz zu unterdrücken vermochte, fühlte sie sich doch zu Zeiten beziehungsweise glücklich.

Ihre Lebensbeschreibung gehört nicht zum Zwecke der gegenwärtigen Schrift, weßhalb ich über die erfolgreichen Mittel schweige, die sie einschlug, um ihren mit hohem Geiste beseelten, blühenden Sohn so tugendhaft und wohlwollend, als sie selber war, zu bilden.

Schon vor dieser Zeit, um die Periode, als Augustus in sein zweites Lebensjahr trat, hatte der Commodore seinem Geschäftsleben einen Augenblick abgestohlen, um zu heirathen. Aber nicht nur ein Postkapitän kann sich ein Bischen Zeit stehlen; – es gibt einen noch größeren Dieb, der stets den Vortritt nimmt – ich meine den Tod, und um seine Oberherrlichkeit zu zeigen, gestattete er Lady Bacuissart nur, Rebekka zur Welt zu bringen, um die Mutter plötzlich nach einer anderen zu entführen.

Der Commodore hielt dies für eine gar üble Behandlung und nannte den Tod einen feigen, tückischen Schurken, weil er nur in Damenkammern schleiche, wo man seiner durchaus nicht benöthigt sei, und daselbst seine Grausamkeit an der Jugend und Schönheit übe, dennoch aber ein Bischen falsches Zartgefühl zeige, indem er abziehe, wenn Breitseiten von Kugeln und Kartätschen flögen. Er schwor, er könne die Sache nicht begreifen, und da er sein armes Weibchen wirklich sehr geliebt hatte, so brütete er die ersten vierzehn Tage im Hafen nüchtern und melancholisch; die nächsten paar Wochen betrank er sich ohne Unterlaß und bewältigte in dieser Weise seinen Gram, sich dadurch ein neues Argument zu Gunsten seines geliebten Grogs sichernd.

Wir nähern uns jetzt jener Periode aus dem Leben des Commodore, in welcher Gewissensbisse seine Gefühle zu verdüstern begonnen hatten. Bisher war es ihm ganz gut gegangen, denn daß er seinen linken Arm verloren, einen Hieb in den Schädel erhalten und das eine Auge eingebüßt hatte, betrachtete er nur als Sachen, die sich von selbst verständen und nicht der Rede werth wären; hatten doch die beiden Parlamentshäuser für seine Unerschrockenheit eine Dankadresse votirt, der König und die Königin nach einem siegreichen Treffen einen Besuch an Bord seines Schiffes gemacht, und die Toryminister ihm geschmeichelt, obgleich er selbst ein eingefleischter Whig war. Zu alle dem erfreute er sich in der letzten Zeit stets eines gesonderten Kommandos, und er verließ den Hafen nie, ohne sein breites Commodore-Wimpel aufzuhissen. Da er kein Verschwender war, so steigerte sich der Werth seiner Besitzungen mehr und mehr; auch hielt er sich gerade lang genug am Lande auf, um seine schöne Tochter Rebekka bis zur Verrücktheit lieb zu gewinnen, so daß er den gemessensten Befehl erließ, man solle sie in Allem gewähren und nach Lust und Liebe sich verderben lassen. Wir haben bereits gesehen, wie pünktlich ihm Folge geleistet wurde.

Als Rebekka ungefähr zehn Jahre alt war und alle ihre Gouvernanten und Lehrer entlassen hatte, weil sie der Ueberzeugung lebte, sie sei bereits vollkommen erzogen, entwickelte sich ein sehr inniges vertrauliches Verhältniß zwischen ihr und dem fast dreizehnjährigen Augustus. Dieses währte drei Jahre und wurde von Lady Astell sehr begünstigt. Letztere liebte den jungen Wildfang wegen ihrer wirklich guten Eigenschaften, der Freimüthigkeit ihres Charakters und ihrer Schönheit, wie sie denn überhaupt Allem aufbot, um die Mängel zu verbessern, welche die junge Dame selbst ihre Erziehung zu nennen beliebte. Gegen Lady Astell verhielt sich Rebekka stets sehr lenksam und wollte ihrem Vetter Augustus zu Gefallen Alles thun und lernen, da dieser, obgleich einem anderen Geschlechte angehörig, in den meisten Dingen ein schönes Musterbild war, nach dem sie ihren Charakter bilden konnte. Die gedachten drei Jahre hatten aus Rebekka fast eine Dame gemacht, und in den kurzen Zwischenräumen, welche der Commodore am Lande zubringen konnte, fühlte sich dieser ganz entzückt über die Fortschritte, welche seine Tochter gemacht hatte. Er ermuthigte die wachsende Vertraulichkeit der beiden jungen Verwandten und pflegte sie stets den kleinen Mann und die kleine Frau zu nennen.

Lady Astell, die nächste Schwester an dem Commodore, hatte trotz der Rauhheit seiner Außenseite und seiner zahlreichen Ausschweifungen doch stets mit unbegrenzter Liebe an ihm gehangen und ihn, soweit es ihre Gewissenhaftigkeit gestattete, in ihrem Innern gegen ihre Ueberzeugung allen ihren übrigen Geschwistern vorgezogen. Nun er aber nur noch der einzige Bruder war, den ihr der Tod gelassen hatte, klammerte sie sich um so inniger und zärtlicher an ihn an, wie sie denn auch gleichfalls der Vereinigung ihrer Kinder als der Vollendung ihres irdischen Glückes entgegensah.

Allerdings war es auch allerliebst, die Bewunderung und Verehrung mitanzusehen, welche die bisher noch unerzogene Rebekka ihrem schönen und sanften Vetter Augustus zollte. Sem Teint war fast weiblich zart, und er trug alle die edeln Züge seines Vaters, nach einem griechischen Modell gebildet. Sein Bäschen liebte er mit jener Tiefe des Gefühls, welche nur ein sinniges Gemüth besitzt, aber doch trotz aller Innigkeit bis jetzt noch leidenschaftslos. Um sie zu etwas zu bewegen, was ihr nicht anstund, und natürlich stund ihr nichts an, wodurch sie sich überhaupt gebunden fühlte, brauchte Augustus nur zu sagen: »um meinetwillen,« und es geschah. Wenn man sie so miteinander sah, hätte man glauben mögen, der Engel des Glücks führe und leite die Schritte des Geistes jugendlicher Freude.

Aber trotz der so vollkommenen Außenseite des jungen Astell hatte doch der heilige und unermüdete Unterricht der Mutter seinen Geist noch weit liebenswürdiger gemacht, da er die schönsten Hoffnungen in sich barg und von Wohlwollen gegen das ganze Menschen-Geschlecht überströmte. Augustus hatte von seiner Mutter gelernt, in allen Dingen das Gute um der ihm inwohnenden Schönheit willen zu lieben. Der Gedankenlose mochte vielleicht den noch nicht sechszehnjährigen Knaben für zu gesetzt halten; aber dennoch war es eine Wonne, sein süßes Lachen der Freude, obgleich es nie laut war, mitanzusehen, und wenn er irgend eine edle That erzählen hörte, so erglühete sein Antlitz bis zu den Schläfen, und seine Augen leuchteten, als schauten sie in eine jenseitige Welt. Trotz aller dieser äußeren Gefügigkeit besaß er übrigens eine Willenskraft, die nichts zu überwältigen vermochte, obgleich sie nur bei wichtigen Gelegenheiten in Anwendung kam. Sein Herz war offen für alle schönen Regungen und barg nur einen einzigen Haß – einen tödtlichen Haß gegen Unterdrückung. Wenn er Rebekka wie ein Schutzengel nahe stand, war sie völlig umgewandelt. Sie wurde dann gelehrig, gehorsam und sanft. Statt die Blumen in den Erdgeschoßen zu zerstören, pflegte sie dieselben gerade so zärtlich, als ob sie die Eigenschaft der Dankbarkeit besäßen; sie liebkoste Tante Matilda's Vögel, statt sie zu quälen, lernte jede Aufgabe, die Mr. Underdown mit ihr vornahm, und hielt ihre Kleider gewissenhaft rein. Wir wollen damit nicht sagen, daß Augustus ihre Natur umwandeln konnte; er hatte nur das Unkraut weggerissen, das über dieser reichen und schönen Blume der Schöpfung aufgeschossen war und sie verbarg – eine Blüthe, die er schon damals durch's ganze Leben an seinem Busen zu hegen beabsichtigte.

Alle diese lieblichsten Aussichten sollten jedoch bald dahin schwinden und nur als ein einzelner vorübergehender Sonnenstrahl, der durch ein Ungewitter gekämpft hatte und verschwunden war, in der Erinnerung leben. In dem stürmischen denkwürdigen November des Jahres 1799 war das Geschwader, welches Sir Octavius kommandirte, nach Portsmouth oder vielmehr nach dem Ankergrunde von Spithead getrieben worden, wo nun die höchst nöthigen Ausbesserungen in Anwendung kommen sollten. Da der Commodore in den letzten fünf Jahren für den Kanaldienst verwendet wurde, so hatte er oft Gelegenheit gefunden, nach Trestletree-Hall zu kommen und sein Herz sowohl durch die raschen Fortschritte seiner Tochter, als durch den Umgang mit seiner geliebten Schwester, der Lady Astell, und ihrem Sohne, die fast in seinem Hauswesen heimisch geworden waren, zu erfrischen. In jenem verhängnißvollen November kam er nach Hause und fand wie gewöhnlich die, welche er auf Erden am meisten liebte, versammelt, um ihn willkommen zu heißen. Dennoch beging der finstere alte Mann die Grausamkeit, jenen Liebeskreis zu zerreißen. Drei Tage war er ungewöhnlich freundlich, was er stets dadurch zeigte, daß er sich des Tabakkauens, des Rauchens oder des lauten Fluchens enthielt; auch zeigte er sich ganz besonders ruhig und weihte seinem Neffen große Aufmerksamkeit.

Am Abende des dritten Tags glänzten die Flaschen im hellen Lichte des Kaminfeuers und die Familie hatte sich mit dem behaglichsten Gefühle um den lodernden Herd versammelt. Der Commodore trug bereits jenes volle Maaß von Verstümmelungen zur Schau, das wir beim Eingange der Geschichte geschildert haben. Mit dem unverwundeten rechten Arme hielt er seine Tochter umschlungen, und nachdem er sie einige Male zärtlich an sich gedrückt, durchspähete er mit seinem einzigen Auge die glückliche Familie, bald den Gegenstand seines Suchens, Augustus, der neben seiner Mutter saß, auffindend. Er packte ihn mit dem Haken, der ihm statt einer Hand diente, am Kragen und riß ihn an seine Seite. Dann blickte er freundlich nach rechts und links, und machte seinen Gefühlen durch den Ausruf Luft:

»Beim Zeus, eine schöne Gruppe, Schwester Astell! Welch' einen schönen Figurenkopf würden wir für die Victory machen!«

»Ja,« versetzte Lady Astell, »die Mittelfigur wäre besonders schlagend.«

»Hast Recht, Schwester – hast Recht. Ich bin mein ganzes Leben über schlagend gewesen und 's blieb nicht ohne Erfolg – aber noch nie geschlagen, und soll auch nicht so weit kommen, so lange noch eine Patrone im Magazin ist. Nun, Gust, wie kommst du mit deinem kleinen Weibe vorwärts? He, lauter ebenes Gesegel? Wahrhaftig, sie wird eine ganze Hofdame und läßt doch jetzt ihres Vaters Zopf in Ruhe. Vor einem Jahre noch mußte ich scharfen Lugaus halten auf die hintere Handhabe meines Kopfes, wenn ich nicht wollte, daß mir die Katze oder etwas Anderes daran gesplißt wurde, ehe Einer die Matrosen zum Marssegelreffen heraufrufen konnte. Bist auch viel hübscher geworden, he? Oh, du liebe kleine Hexe!«

Und dann striegelte er sehr zärtlich ihre Wange mit seinem rauhen Barte, bis er fast das zarte Gewebe ihrer Haut zerstört hatte.

Nachdem sich diese kleine Aufwallung väterlicher Zärtlichkeit gelegt hatte, welche durch die junge Dame selbst wesentlich abgekürzt wurde, da sie mit aller Macht an dem so oft verfolgten Zopfe zerrte, drehte sich der Commodore, um einen Theil seiner neuen Aufmerksamkeit dem Neffen zu bescheeren.

»Nun, Gust,« sagte er, ihn mit seinem einzigen Auge fest durchbohrend und ihn noch tüchtiger mit einem Stoße des Hakens in die Rippen treffend, welcher den armen Jungen fast des Athems beraubte, »Gust, du bist so groß und gerade geworden, wie eine Stenge, und siehst so schön in deinen Oberwerken aus, wie seiner Majestät Yacht. Bei den Tugenden des Salpeters, ich liebe diesen Jungen wie mein eigenes Kind und will etwas aus ihm machen, Lady Astell. Ich sage dir, ich will etwas aus ihm machen. Gust, wie steht's mit deiner Erziehung? Vermuthlich fast beendigt, soweit die Löffler auf dem Lande etwas für dich thun konnten?«

»Doktor Pertinax meint, ich sei in meinen Humanioribus hinreichend vorgerückt, um ein College beziehen zu können.«

»Hum! vorgerückt in Humanioribus! College beziehen! Wahrscheinlich will er als Hofmeister mit – er ist nicht dumm und scheint einen langen Gang voraus zu haben. College beziehen! Nein, du mußt an Bord des Terrifick gehen – das ist der Ort, wo du Humanioribus lernen kannst.«

»Bruder,« entgegnete Lady Astell schaudernd und erblassend, »hast du diesen Windstoß gehört, der das ganze Haus zu erschüttern schien?«

»Ja wohl, Schwester, und ich glaube, wir hätten ihm nicht mehr Tuch zeigen können, als dicht gereffte Mars- und untere Segel. Im Grunde aber doch nur eine Kappe voll – eine bloße Kappe voll. Na, laß hören, Gust – wie steht's mit deiner Erziehung?«

»Ich habe angefangen, die griechischen Tragödien zu lesen,« sagte der Neffe mit bescheidenem Erröthen.

So oft der Commodore unwillig zu werden anfing, begann er auch stets zu gleicher Zeit seinen Respekt vor jenen Konventionalitäten zu verliren, welche die Außenwerke der Achtung bilden, mit denen wir stets unsere weibliche Gesellschaften umgeben sollten. Bei der Erwähnung der griechischen Tragödien nahm er aus seiner Westentasche jenen Graus für alle Damen, eine Rolle dünn gesponnenen Tabak, biß ärgerlich eine große Portion davon ab, trieb diesen ungeheuren Pflock in den linken Backen, und drehte ihn sammt seinem einzelnen Auge mit einem verhängnißvollen Schielen des Mißvergnügens nach dem klassischen Schüler.

»Die griechischen Tragödien? Wenn ich dich also recht verstehe, Neffe, so hast du's endlich so weit gebracht, ein griechisches Trauerspiel lesen zu können?«

»Aber nur sehr unvollkommen, Sir Octavius.«

»Unvollkommen?« entgegnete der Frager, das Wort ›unvollkommen‹ so bestimmt aussprechend, daß Jedermann bemerken konnte, es sei ein Wort von vier Sylben. Und als er damit fertig geworden war, spritzte er verächtlich einen übel gerichteten Strahl Tabakssaft von sich, der sich voll auf dem Schooße des reichen seidenen Gewandes der ruhigen Matilda niederließ. »Bitte um Verzeihung, Matty – ein Fehlschuß. Doch ein feuchter Lappen und ein bischen Pfeifenthon wird Alles wieder zurechtbringen.«

»Mein Kleid ist unwiederbringlich zu Grunde gerichtet,« sagte Matilda mit demüthiger Stimme, worauf sie aufstand und das Zimmer verließ.

Der Commodore fuhr eine Weile fort, mit immer größerem Eifer seine Tabakrolle zu kauen, und wandte sich endlich an seinen Neffen, dem er abgebrochen zurief:

»Siehst du, Bursche, was du mit deinem verdammten Griechisch angerichtet hast?«

»Die falsche Citation kam aus Eurem eigenen Munde,« bemerkte Mr. Underdown, von seinem Buche aufblickend.

»Sag' an,« fuhr der Commodore in strengem Tone gegen Augustus fort, ohne auf die Unterbrechung zu achten, »wie lange lernst du schon Griechisch?«

»Er begann das Griechische und Lateinische gleichzeitig, als er sieben Jahre alt war, Bruder,« sagte Lady Astell, »und obgleich mir gerade kein Urtheil zusteht, so höre ich doch von allen Seiten, daß er in diesen für Gentlemen so notwendigen Sprachen erstaunliche Fortschritte gemacht hat.«

»Darf ich dich fragen, Augustus, ob du so weit in der Arithmetik vorgerückt bist, daß du mir sagen kannst, wie viel übrig bleibt, wenn sieben von sechszehn abgezogen wird?«

»Neun, Onkel.«

»Ah, der Knabe kann doch wenigstens etwas Brauchbares. Nun, Junge, welche praktischen Kenntnisse hast du in diesen neun Jahren, während welcher Zeit du Lateinisch und Griechisch studirtest, außer deiner Fertigkeit, ein griechisches Trauerspiel unvollkommen lesen zu können, erworben?«

Bei dieser Frage machten die drei Fürsprecher des jungen Gentlemans gleichzeitig betroffene, fragende Mienen.

»Ausbildung des Geistes,« sagte die Mutter.

»Classisches Wissen,« erklärte Mr. Underdown.

»Niemand kann das Lustboot besser rudern,« sagte Rebekka, die dafür einen Kuß von ihrem Vater erhielt.

»Das Mädchen ist die einzige verständige Person unter euch,« bemerkte der Commodore. »Nun, Augustus, richte deinen Kopf keck auf und komm mit einem Male zur Sache. Kennst du den Unterschied zwischen dem Meridiansegeln und dem Segeln auf mittlerer Breite?«

»Nein, Onkel,« antwortete der Jüngling in gedämpftem Tone.

»Kannst du eine Meridianbeobachtung der Sonne aufnehmen?«

»Nein,« entgegnete er noch demüthiger.

»Verstehst du dich auf den Kompaß?«

»Nein,« sagte der Neffe völlig verdutzt.

»Da haben wir's!« rief der Commodore, mit der Miene absoluten Triumphes umherschauend. »Das heißt man am Lande junge Gentlemen erziehen. Sechszehn – und versteht nicht einmal einen Kompaß! Das ist sauber.«

»Warum sollte er auch? Du hättest ihn ebensogut fragen können, warum er nicht im Stande sei, einem Pferd das Hufeisen aufzuschlagen. Leute von Gust's Stellung im Leben haben nicht nöthig, sich mit mechanischen Künsten zu befassen. Wenn er's braucht, so hat er für eine halbe Krone Jemand, der ihm die Compaßfrage löst,« sagte Lady Astell zur Vertheidigung ihres Sohnes.

»Einfalt der Weiber!« rief der alte Seemann mit spöttischem Lachen; dann nahm er einen strengen Blick an und fuhr fort: »Laß dir sagen, Frau Schwester, daß die Erziehung dieses jungen Menschen erbärmlich vernachlässigt ist. Nach dem Willen seines verstorbenen Vaters bin ich sein Vormund, und ich hätte meine Pflicht besser in Acht nehmen sollen. Ja, ich muß nach der Sache sehen. Komme ich da nach Hause, examinire ihn, frage ihn, was er weiß, und erhalte zur Antwort, er habe Humanioribus gelernt. Wenn ich dann zur Sache komme, so finde ich, daß er von einem Kompaß nicht mehr versteht als eine Kuh. Sollen das Humanioribus sein, Madame? Ich sehe meinen Irrthum ein, muß mich seiner Erziehung annehmen und sie zu Ende bringen. Bei dem nächsten Ausfluge muß er mit auf die See.«

Bei dieser Ankündigung erscholl ein Ruf des Schreckens aus dem Munde aller Zuhörer, Augustus selbst ausgenommen. Diese Lamentation wurde noch bedeutend vermehrt durch den Eintritt der Miß Matilda in einem andern Kleide, welche ihren Neffen wie einen Abgott liebte. Die bestürzte Mutter schwang sich in ihrem Stuhle hin und her, rang kläglich ihre Hände und rief, sobald sie ihre Sprache wieder gefunden hatte, mit ergreifender Stimme:

»Bruder, Bruder, du kannst nicht so grausam sein!«

»Grausam, Lady Astell? Bei meinem Leben, ich kann nicht einsehen, was hierin Grausames liegen soll. Es ist die größte Wohlthat, die ich dem Knaben erweisen kann. Was fürchtest du denn, Frau Schwester?«

»Octavius, sicherlich darf eine Mutter bei den Gefahren der See zittern.«

»Gefahren? Was meinst du damit, Schwester? Die See ist der einzige sichere Ort, den ich kenne. Wie kannst du nur von Gefahren der See sprechen, wenn du zugleich deine eigene Familie betrachtest. Wo sind meine sieben älteren Brüder? Keiner davon ist zur See gegangen und doch sind sie Alle todt. Ja, das Land hat sie getödtet. Sie mästeten sich am Lande in ihrem Ueberfluß, wie eingestallte Ochsen, und fielen lange vor ihrer Zeit von dem Baume des Lebens, wie überreife Feigen. Betrachte dagegen mich – ich habe siebenzig Schlachten mitgemacht, habe jedes Klima gesehen und kenne jedes Wetter, von der glühenden Windstille an, die Einem das Gehirn unter dem Schädel kochen macht, bis zu dem bitterkalten Sturme, auf welchem der Tod reitet und seine Frostlanze schwingt – und hole mich der Teufel, da bin ich in vollkommen guter Gesundheit und mit vortrefflichem Winde!«

Von dem letzteren Theile seiner Behauptung gab er die unzweifelhaftesten Proben, denn keine andere Lunge, als die seinige oder die des griechischen Stentors, hätte den anständigen Wunsch, den er in Damengesellschaft laut werden ließ, mit gleichem Nachdrucke kund geben können.

»Aber sage mir, Pa,« tönte jetzt die Stimme von Fräulein Keck, die nun mit einem Male den Zwang ganz beseitigte, den sie sich in Gegenwart der Lady Astell und ihres gehätschelten Augustus aufzulegen pflegte, »wie kannst du dich einen gesunden Mann nennen, wenn du ein schwarzes Pflaster statt eines Auges, Holz und Eisen statt einer Hand, und regelmäßig im Frühling die Gicht hast; dazu noch Kerben überall, wie – wie –«

»Wie, was, du vorlaute Hexe?« entgegnete der Commodore, wild sein einziges, glutsprühendes, dunkles Auge auf sie heftend.

»Ein räudiges Schwein,« kreischte die junge Dame und versteckte sich dann hinter Augustus.

»Ha!« rief der Commodore, mit Mühe seinen Zorn verschluckend; »wenn sie nicht so ganz ihrer Mutter ähnlich wäre – doch gleichviel. Heute ist Mittwoch Abend – am Montag breche ich auf. Ich befehle dir daher, Master Augustus, dich bereit zu halten, mit mir in die Chaise zu steigen. Matilda, wenn Lady Astell keine Lust dazu hat, so sieh du nach der Leinwand des Jungen. Ich bin sein Vormund, und, bei Gott, er soll mit!«

»Er soll nicht!« sagte das schöne Gesichtchen, das in hoher Aufregung hinter den Schultern ihres Vetters hervorglühte.

»Das wollen wir sehen, Miß; und wenn du deine unverschämte Zunge nicht zügelst, so will ich dich bald zu Bett gebracht haben.«

»Dann zünde ich das Haus an,« sagte das gehorsame Töchterlein sehr ruhig.

Da der Commodore aus verhängnißvollen Vorgängen wußte, daß sie eine Person war, welche in einem solchen Falle nur zu wahrscheinlich Wort hielt, so schüttelte er sehr feierlich den Kopf und gab, so weit die Verbannung der Fräulein Tochter zur Sprache kam, sein Vorhaben auf.

Bisher war die Mutter so bestürzt gewesen über diese unerwartete Ankündigung der ihr bevorstehenden schrecklichen Beraubung, daß sie außer Stand war, ihre Thatkraft aufzubieten, und als sie sich so weit gesammelt hatte, um für die Erhaltung ihres Kindes das Wort zu nehmen, konnte sie nur mit gedämpfter Stimme, aber mit einem Nachdruck, der aus dem innersten Herzen kam, ausrufen, indem sie flehentlich nach Mr. Underdown hinblickte:

»O Horace, Horace, mein bester Freund, Freund der Familie, rettet mich, rettet meinen Augustus!«

Für einen einzigen Augenblick überstrahlte eine hohe Glut sein ruhiges, blasses Gesicht bis zur Stirne, entschwand aber plötzlich wieder. Die Erinnerung hatte für einen Moment das glühende Banner seiner früheren Liebe entfaltet. Er stand auf und verbeugte sich tief gegen Lady Astell, welche aus seinem süßen, melancholischen Lächeln Trost zu sammeln schien; aber dann wandte er sich achtungsvoll gegen den Commodore und sagte:

»Ich bin überzeugt, Sir, daß Ihr Alles zum Besten einzuleiten gedenkt, und daß nichts Euren Gedanken ferner liegt, als die Lady Astell unglücklich zu machen.«

»Gewiß; es dient sowohl zu ihrem, als zu des Knaben Besten. Er muß aus die See gehen.«

»Aber sie hält dies für das größte Uebel, das ihr oder ihrem Sohne zustoßen kann. Haben wir übrigens nicht vergessen, Sir Octavius, die am meisten dabei betheiligte Person zu befragen? Was sagt Augustus zu dem Vorschlage?«

Der junge Mensch stand noch immer vor seinem Onkel und sein Büschen hatte sich, den einen Arm auf seine Schulter gelegt, zärtlich über ihn hingebeugt. Bei dieser Frage stellte sie sich auf die Zehen und brachte ihre glühende Wange gegen die seinige. Sie war freilich erst dreizehn, aber dennoch stand das Wahrscheinlichkeitsverhältniß sehr zu Ungunsten des Commodore, und Augustus, der dem finstern Auge seines Onkels nicht begegnen wollte, wandte sich gegen seine Mutter. Sie wechselten nur einen einzigen Blick – es war genug.

»Ich habe noch nie wissentlich oder mit Absicht meiner Mutter in irgend etwas den Gehorsam versagt,« entgegnete der Sohn mit Festigkeit, »und werde es auch nie thun.«

Ein Kuß von Rebekka und ein »Gott segne dich, mein Sohn!« von Seiten seiner Mutter wurden ihm dafür zum Danke; aber etwas weniger Süßes blieb ihm noch vorbehalten. Mr. Underdown wurde ängstlich und Miß Matilda suchte unbemerkt aus dem Zimmer zu kommen, ein unzweifelhafter Beweis, daß der Commodore in Leidenschaft gerieth; noch mehr erhellte dies übrigens aus der eigenthümlichen Sympathie, die zwischen dem Vater und der Tochter stattfand, denn wie sich sein Zorn hob, steigerte sich auch ihr Widerspruchsgeist und ihr Ungestüm. Beide schienen, obschon aus verschiedenen Beweggründen und wegen anderer Zwecke, stets von denselben Gefühlen geleitet zu werden. Sie stand nicht länger halb hinter ihrem Vetter, um Schutz zu suchen, sondern trat, Angesicht gegen Angesicht, vor ihren Vater und übernahm für ihren Gespielen die Rolle eines Beschützers. Sir Octavius war jenen Abend nicht von der Gicht geplagt, aber aus der tiefen Purpurfarbe seines Gesichtes hätte man schließen mögen, daß ein Schlagfluß in Aussicht stand, während er sich langsam von seinem Stuhle erhob und in der vollen Höhe seiner gebieterischen Gestalt aufrichtete. Das Ungewitter begann damit, daß er mit unnatürlicher und gezwungener Ruhe sagte:

»Schwester Matilda sei so gut, deinen Stuhl wieder einzunehmen. Mr. Underdown, Ihr werdet mich sehr verbinden, wenn Ihr die Thüre verriegelt, denn, Sir,« – seine Stimme steigerte sich rasch, »wenn eine Familie von glorreicher Abkunft und bisher unbefleckter Ehre im Begriff ist, sich selbst herabzuwürdigen, so muß man ihr wenigstens die Demüthigung ersparen, Sir, daß die Dienstboten sich als Zeugen betheiligen. So hört mich jetzt – ihr Alle sammt und sonders – denn ihr Alle seid gegen das Haupt der Familie verschworen und gedenkt Eure Rebellion mit einem Akt des feigsten Ungehorsams zu beginnen. Ja, schlage nur aus, junger Sir, ich sage des feigsten Ungehorsams. Hörst du? Fühlst du die volle Bitterkeit des Ausdrucks? Nun dir dieser schnöde Makel in's Herz frißt, glaubst du noch so aufrecht stehen zu können, wie vor einer Stunde? Wagst du es, unterstehst du dich, die im Krieg verstümmelte Gestalt und das Gesicht von deiner Mutter Bruder anzusehen, nachdem du deine Weigerung zu erkennen gegeben hast, mit ihm zur Vertheidigung eines Landes zu ziehen, das jetzt, Gott besser's! nichts hat, auf das es sich verlassen kann, als auf die Tapferkeit seiner Söhne?«

»Schont mich – schont meine Mutter!«

»Wisse, entarteter Mensch, daß ich, als dein einziger Vormund, das Recht hätte, dich mit Gewalt an Bord zu nehmen; aber sowohl das Leben als der Tod zur See – beides ist jedenfalls zu edel für eine Memme!«

»Pa,« kreischte Rebekka mit gluthrothem Gesichte, und ihre Augen schoßen Blitze – »Gust ist keine Memme – hörst du dies?«

Der Commodore, nicht im mindesten beleidigt über ihren wilden Ausbruch, pätschelte sie zärtlich auf den Kopf und sagte blos:

»Wollte Gott, daß dein Vetter nur einen Theil deines Muths hätte, wie eigensinnig und irre geleitet du auch sein magst. Wehe einem Lande, wenn die Söhne seines Adels im Herzen Weiben sind.«

Augustus wandte sich flehend an Lady Astell und eine Leichenblässe breitete sich über sein Gesicht.

»Mutter, Mutter,« sagte er; »sprich du für mich. Das ist eine zu schwere Probe – du weißt, daß ich keine Memme bin.«

Die also aufgerufene Mutter erhob sich von ihrem Stuhle, legte, ohne auf die finstere Stirne Rücksicht zu nehmen, ihre Rechte vertraulich auf die Schulter ihres Bruders und ergriff mit ihrer Linken seine einzige Hand.

»Beruhige dich, mein Bruder,« sagte sie nach einem wehmüthigen Lächeln. »Du weißt, daß wir noch nie Streit mit einander hatten, daß wir uns durch unsere Geburt am nächsten stehen, daß wir kleine Kinder mit einander waren und daß du kaum dem Mutterbusen entwöhnt warst, als deine kleine Schwester deinen Platz einnahm – du kannst dies nicht vergessen. Wir haben in einem Bettchen geschlafen und du weißt, wie lange wir unser Spielzeug gemeinschaftlich hatten. Diese Erinnerungen sind freilich nur Thorheiten; aber ach, wie glücklich machten sie uns!«

»Ja, du hast in der That Recht,« versetzte der alte Mann und seine Augen glänzten.

»Ach! fühlst du's noch? Ich freue mich darüber. Und du wirst dich erinnern, Bruder, wie wir beide am Scharlachfieber krank lagen, wie wir litten und wie wir doch einander so sehr liebten. Wenn deine Zunge am Gaumen klebte im brennenden Durst, wolltest du die Schaale nicht annehmen und sagtest: ›Gebt zuerst der armen kleinen Agnes.‹ Du mußt dich deß noch entsinnen, Bruder.«

»Ja – ja.«

»Und weißt du noch, wie wir eines Tages in der Kirche mit einander in dem Gebetbuche lasen; wir blickten auf, weinten über unsere Mutter, als der Geistliche las: › und er war das einzige Kind seiner Mutter, und sie war eine Wittwe?‹«

Bei dieser letzten Berufung fühlte sich der eherne Seemann sehr erschüttert, aber er sprach kein Wort.

»O Bruder,« fuhr sie mit steigendem Nachdrucke fort, »warum willst du also dein Herz gegen mich verschließen und dergleichen thun, als verstündest du mich nicht? Soll ich dir noch mehr sagen? Muß ich dich daran erinnern, wie oft ich zwischen dich und den Zorn deines Vaters und deiner Brüder trat – wie oft ich deine Börse füllte, wenn du dich durch deinen Leichtsinn arm gemacht hattest – wie ich stets dein Fürsprecher war und deine Schwester? Und was verlange ich für alle diese Jahre der Liebe und der Aufopferung? Nur, daß du mir mein Kind lassest – mein einziges

Diese feierliche Anrede wirkte ergreifend – sehr ergreifend auf den Commodore. Aber noch immer gab er keine Antwort, sondern führte mit der ganzen achtungsvollen Galanterie der alten Schule ihre Hand an seine Lippen und geleitete sie nach ihrem Stuhle zurück. Nachdem er den seinigen wieder eingenommen, begann er schweigend und mit so verzweifeltem Eifer zu rauchen, daß man hätte glauben mögen, er halte es für die Rettung sämmtlicher Anwesenden durchaus nöthig, das Gemach ohne Verzug mit Qualm zu erfüllen. Niemand schien geneigt zu sein, das tiefe Schweigen zu unterbrechen; aber Lady Astell zog ihren Sohn dichter und dichter an ihre Seite und liebkoste ihn mit der Innigkeit einer Mutter, welche eben ihr Kind einer großen Gefahr entrissen hat.

Wir verweilen so umständlich bei dieser ereignißvollen Scene, um den Leser voll die furchtbare Verantwortung fühlen zu lassen, welche der Onkel so hartnäckig und fast wahnsinnig auf seinen Kopf herunter beschworen hatte. Schon stellte sich das ruhige Gemurmel einer glücklichen und vertraulichen Unterhaltung unter den Familiengliedern wieder her, als nach Beendigung der zweiten Pfeife seine rauhe Stimme abermals das Ohr der Anwesenden mit dem Ausrufe verletzte: »Es kann nicht sein!« Diese Worte trafen die Familie wie die Verkündigung eines Todesurtheils, und es sollte sich herausstellen, daß es kaum etwas Besseres war! Er blickte fast grimmig umher, als suche er Streit, aber Niemand unterbrach ihn. Dann fuhr er fort:

»Von einer Mutter kann ich nichts Anderes als Mutterschwäche erwarten, die ich, trotz meiner Liebe, beklagen muß, ohne daß ich mich jedoch durch dieselbe leiten lassen dürfte. Wenn ich auch meiner Schwester innig zugethan bin, so darf ich nicht vergessen, daß sie nicht die einzige Mutter in diesen Königreichen ist. Ich muß im Gedächtniß behalten, daß die Herrscherin gleichfalls Mutter ist und daß in diesem Augenblicke, während der rauhe Wind wild um die Ecken dieses Hauses heult, ihr Sohn, der tapfere Prinz Heinrich, gleich dem Geringsten von den Unterthanen seines königlichen Vaters, ohne Furcht, Murren oder Klage auf der stürmischen See Dienste thut.«

»Sie hat viele Söhne,« stöhnte die trostlose Lady Astell hervor.

Aber der Commodore achtete nicht auf diese Unterbrechung und fügte bei:

»Wenn dieses großartige, dieses patriotische Beispiel nicht beachtet wird, wo man es doch am besten sollte würdigen können, so führt der Bruder keine Beschwerde, obgleich der alte Diener seines Königs nicht aufhören kann, es zu bedauern. Aber von der Schwäche der Mutter appellirt er an den Stolz und an den Muth des Sohnes. Sollte dieser Aufruf an ihm verloren gehen und er sich als Memme erweisen – Gott helfe ihm – ich habe nichts weiter zu sagen; 's ist dann nur um so besser, je eher mich eine feindliche Kanonenkugel wegrafft. Ich bin jetzt nur noch ein geknicktes Rohr, das sich vor dem unwiderstehlichen Sturme beugt, welcher mich bald in das Meer der Vergessenheit hinausführen wird. Ich hoffte, durch den nächsten Sieg, den ich gewinne, oder an dem ich mich betheilige, in den Stand gesetzt zu werden, mich mit diesem Jüngling an der Hand dem Fuß des Thrones zu nahen und zu sagen: ›Möge Eure Majestät geruhen, mir meinen Platz unter den Edlen des Landes anzuweisen und diesem Jünglinge, dem künftigen Gatten meines einzigen Kindes, der an meiner Seite für sein Land und seinen König kämpfen gelernt hat, zu gestatten, daß er meine Titel und meinen Namen erbe.‹ Tritt vor Augustus und sprich! Habe ich geträumt, wie ein thörichter, alter Mann, oder darf ich auf diesen ruhmvollen Augenblick hoffen? Wenn auch nicht für die Ehre deines mütterlichen Hauses, des Hauses der Bacuissarts – willst du nicht für den Ruhm deiner langen väterlichen Ahnenreihe einem einzigen Pulverblitze aus den Kanonen des Feindes stehen? Willst du nicht ein einziges Jahr triumphirend über die Wellen segeln, die deinen normännischen Altvater, den grimmigen Tramontane, trugen, um für seine Söhne das weite Erbe dieser Lande zu erobern? Ich frage dich, Augustus, willst du dies thun, oder willst du dich als einen Feigling erweisen, welcher der beiden Häuser, aus denen er abstammt, unwürdig ist, und mich zwingen, meinen Kajütenjungen zu adoptiren, um ihm meinen Namen und meine Tochter zu geben?«

»Gib dir um meinetwillen keine Mühe, Pa – ich mag ihn nicht haben. Ja wohl da, einen Kajütenjungen!« rief die kindliche Rebekka.

»Aber wenn ich sage, du sollst, Miß?« entgegnete der Vater.

»Dann sagst du eine Lüge, weiter nichts,« lautete die kalte Antwort.

Dieses kleine Wortgefecht gab Augustus Zeit, seine Gedanken zu ordnen und eine Erwiederung zusammen zu bringen, welcher er sich in folgender Weise entledigte.

Zuerst kniete er vor seiner Mutter nieder, küßte ihre Hand und sagte:

»Mutter, vergib mir, wenn ich dir ungehorsam bin.«

Dann erhob er sich wieder, trat stolz auf den Commodore zu und fuhr fort:

»Onkel, verzeiht, wenn es den Anschein gewann, als ob ich nur langsam der Berufung auf meine Ehre, meinen Muth, meinen Stolz und meine Vaterlandsliebe Folge gab; aber Ihr seht mich im Kreise dessen, was mich entschuldigt. Ich bin bereit, diesen Augenblick mit Euch zu ziehen. Selbst Euer strenger Charakter« – das Wort strenge wollte nur mit Stottern heraus – »kann nicht verkennen, was mich dieser Entschluß kosten muß, da Ihr wißt, wie lange ich in ihrem Segenskreise« – er wandte sich dabei an seine Mutter – »geweilt und wie sehr ich sie geliebt habe.«

»Ja, ich weiß es zu schätzen, mein edler Knabe. Von diesem Augenblicke an bist du in Wahrheit mein Sohn!« rief Sir Octavius, ihn an seine sehnige Brust drückend.

Aber was sprach die Mutter – die Mutter, die sich bereits kinderlos fühlte? Außer sich rang sie die Hände über ihrem Haupte und murmelte:

»Jetzt bin ich in der That verwaiset! Mein einziger Sohn hat mich verlassen. Ich muß eilen, um meinen Gott aufzusuchen, damit ich nicht glaube, auch er sei von mir gewichen.«

Und in der Tiefe ihres Schmerzes suchte sie die Einsamkeit ihres Gemachs, um daselbst zu beten und zu weinen.

Wir wollen über das Elend der vier Tage weggehen, welche noch zwischen der Abreise des Onkels und des Neffens nach Portsmouth lagen. Niemand schien sich wohl zu fühlen, als der Commodore, und auch er war mit seinem Sieg nur halb zufrieden, denn man hörte ihn oft murmeln:

»Wie, wenn ich ihn zurückließe – diesen glattgesichtigen Narren, an dem alle einen Affen gefressen haben? Doch nein, er ist ein schöner, edler Junge – der König darf ihn nicht verlieren – ich will über ihm wachen, wie über einem Wiegenkinde.«

Und sie schieden unter den rückhaltlosen Thränen Aller, einer Einzigen ausgenommen, deren Schmerz in dem Düster der Verzweiflung erstarrt war. Ich will den Leser nicht mit einer Aufzählung der feierlichen Beschwörung quälen, die Lady Astell am Morgen der Abreise an den Commodore erließ. Sie lautete wild und fast wahnsinnig – das einemal flehte sie zu ihm, als wäre er ein Gott gewesen, und dann rief sie wieder allen Segen auf sein Haupt nieder, wenn er ihren Sohn wohlbehalten in ihre Arme zurückführe, dagegen aber auch allen Fluch, der hienieden seinen Leib und jenseits seine Seele quälen könne, falls er aus Vernachlässigung oder Grausamkeit nicht die Hoffnung ihres Herzens, das Kleinod ihrer Seele, das Leben ihres Daseins vor allem Uebel bewahre. Er gab das Versprechen und bereute, was er gethan; aber er war ein starrsinniger Mann und ließ nicht ab von dem Entschlüsse, obschon er damals wünschte, ihn nicht gefaßt zu haben.

Dieses fast gewaltsame Losreißen des Sohnes von seiner Mutter, von seiner Familie und von der ihm vorgezeichneten Lebensbahn führte von Anfang an eine Menge schlimmer Resultate mit sich. Lady Astell zog sich nach ihrer eigenen Wohnung zurück, Mr. Underdown ging natürlich mit dem Commodore zur See und die sanfte, etwas geistesschwache Miß Matilda vermochte auch nicht den Schatten einer Herrschaft über ihre wilde Nichte Rebekka zu bewahren. Die guten Wirkungen des Beispiels und einer vieljährigen Leitung waren in eben so vielen Monaten verloren, und das Mädchen wurde wilder und unbändiger als nur je. Inzwischen war Augustus auf dem Schiffe seines Onkels, dem Terrific, einem Vierundsiebenziger erster Klasse, der mit den anderen Linienschiffen und zwei Fregatten ein großes Geschwader in dem Hafen von Cherburg bewachen sollte, als Midshipman eingetreten. Auf dem Terrific flatterte natürlich das breite Commodore-Wimpel. Der Dienst wurde jetzt sehr streng, denn das französische Direktorium hatte damals nur diese einzige verfügbare Flotte, und sie harrte nur auf günstige Gelegenheit, in die See hinauszuschlüpfen, um unsere werthvollen Handelsschiffe, die aus Ost- und Westindien zurückkehrten, aufzufangen. Der Commodore war zumal sanft und streng gegen seinen Neffen, denn obschon er ihm bei jeder Gelegenheit große Nachsicht erwies, forderte er doch von ihm die pünktlichste Erfüllung seines Dienstes. Indeß vergällten die Umstände bald ein Temperament, das nie zu den gelassenen gezählt werden konnte. Der Commodore wurde von der Küste weggeblasen, und das französische Geschwader, welches aus sechs Linienschiffen bestand (darunter ein Dreidecker und zwei große Fregatten) benützte nach sechsmonatlicher schwerer Blokade diese Gelegenheit, um in die See zu stechen. Sir Octavius jagte nun diesen Schiffen fünf weitere Monate fast buchstäblich über die ganze Welt nach.

Seit Sir Octavius an Bord gekommen, hatte Niemand auf dem englischen Geschwader seinen Fuß an's Land gesetzt, und die Schiffe waren durch Transportfahrzeuge, welche zu diesem Ende über den Kanal herübergeschickt wurden, mit Proviant versehen, worden; als sie daher ihre lange Jagd antraten, waren sie zufälligerweise nicht am besten mit Lebensmitteln ausgerüstet. Die Offiziere sowohl, als die Matrosen hatten viele Entbehrungen zu dulden, aber während dieser ganzen Zeit versah der weichlich genährte Augustus seinen Dienst mit unermüdlichem Eifer. Er hatte sich die Liebe seiner Kameraden und die Anhänglichkeit der Mannschaft gewonnen, aber auch der Commodore konnte ihm seine Bewunderung nicht versagen.

Das jagdmachende Geschwader schoß über den Ocean dahin, aber das flüchtige segelte schneller. Als Sir Octavius die Küsten von Amerika erreichte, kam er zu spät; der hurtige Feind war nach Westindien abgezogen. Nach einigen Wochen, während welcher die Mannschaft in dem Froste Neufundlands sehr nothgelitten hatte, kamen sie nun in einen Zustand von Auslösung unter der lebenverzehrenden Sonne der Tropen. Einen ganzen Monat ahmten die beiden Geschwader in nichts weniger als unschuldigen Absichten das sehr unschuldige Kinderspiel »Verstecken« durch alle westindischen Inseln nach, und der französische Admiral, der beinahe alle barbadischen Eingebornen durch Einschüchterungen fast völlig um ihren vermeintlichen Verstand gebracht hatte, machte, weil er nicht hoffen durfte, irgend etwas Erfolgreiches zu erwirken, einen Abstecher über das atlantische Meer nach dem Cap der guten Hoffnung, während der Commodore stets hinter ihm drein fluchte.

Nachdem sich der Franzmann in der Tafelbay umgesehen und nichts bemerkt hatte, was für seine Bequemlichkeit ausgelegt worden war, so nahm er nicht nur französischen Urlaub, sondern auch zu gleicher Zeit ein halb Dutzend englische Kauffahrer, verproviantirte sich, nahm die Kerne aus den Nüssen, und ließ dann die Schaalen ihre spezifische Schwere auf dem Salzwasser versuchen – das heißt, er versenkte die Schiffe, sobald er sie geplündert hatte.

Dann ließ er die höfliche Absicht blicken, unseren Präsidentschaften in Ostindien einen Besuch zu machen, gab sie aber – ob aus Zweifel über die Aufnahme oder weil er seinen Sonntagsputz ausgenützt hatte, können wir nicht sagen – wieder auf, änderte seinen Kurs und steuerte nach was immer für einem Theile der südamerikanischen Küste, die er erreichen konnte; das heißt, er segelte von einem Platze zum andern, wie ihn eben der Wind führte, und hinterließ auf seiner Linie unterschiedliche Seemarken seines früheren Dagewesenseins in der Gestalt von geplünderten und entmasteten Schiffen.

Während dieser ganzen Zeit bekam unser alter Commodore den Feind nie zu Gesicht, obschon alle Matrosen meinten, daß ihm ein solcher Anblick gut thun würde, weil er doch eine Beruhigung darin gefunden haben würde, seine Flüche unmittelbar auf die Flüchtlinge abzubrennen; so aber blieb ihm nichts übrig als sich selbst wie auch alle seine Untergebenen zu verwünschen und zu quälen. Alle Stationen waren sehr kurz zugemessen, nur die der Flüche und Hiebe nicht. Trotz meiner großen Vorliebe für den Commodore muß ich gestehen, daß er sich auf dieser letzten Fahrt sehr unangenehm zu machen begann und ein bischen öfter, als gerade nöthig war, die Katze walten ließ. Ich bin selbst über viele tausend Stunden Salzwasser gesegelt und habe stets gefunden, daß Gleichmuth das beste Mittel ist, sich günstigen Wind zu sichern, und daß letzterer nie ungestümer tobt, als wenn der Kapitän gegen seine Matrosen und Offiziere wüthet; dies wußte aber freilich der Commodore nicht. Der Verstand hatte damals noch nicht seine Siebenmeilenstiefel angezogen und den gigantischen Marsch begonnen; auch dachte Niemand an einen andern Dampf, als an den aus der Schnauze des Theekessels.

In seiner Unwissenheit wurde nun der Commodore ein bischen leidenschaftlich und ein bischen tyrannisch; er verwandte zu wenig Zeit auf den Schlaf und auf die Erholung seines Körpers, zu viel aber auf Zustutzen seiner Schiffe und seiner Offiziere. Der Franzmann mußte wohl stets das Beste von der Brise oder das Beste von der Segelgeschwindigkeit (vielleicht auch beides) haben, denn er blieb stets dem Commodore voraus, und Letzterer mußte im Sterne des Galliers nachjagen, was, wie der witzige Zahlmeister sagte, ganz geeignet war, die Galle des gestrengen Herrn aufzuregen. Das Wortspiel war zwar bitterschlecht, mag aber doch Verzeihung finden, wenn man den Zustand der Brodkörbe und den Umstand ins Auge faßt, daß die Matrosen einen Tisch für Vier jetzt mit Sechsen bemannen mußten. Ich für meine Person blicke zu einem Menschen, der mit leerem Magen ein Wortspiel machen kann, fast wie zu einem Helden aus, denn schon der Versuch hat etwas Heroisches in sich.

Jetzt begann sich zum erstenmal der Mangel oder die Erbsünde des jungen Augustus zu zeigen. Dieser Mangel ist oft als Tugend gelobt worden – aber gleichviel, ob Tugend oder Verbrechen, am Borde eines Kriegsschiffes hätte er sich nicht zeigen sollen, am allerwenigsten unmittelbar vor der Meuterei am Nore. Wir meinen damit einen so bittern Abscheu gegen Tyrannei und Unterdrückung, wie er nur je den Busen eines Hampden geschwellt oder einen Ruffel auf's Schaffot gebracht hat. Um der Ehre des Commodore willen, der unser Liebling und Held ist, darf man übrigens nicht glauben, daß er tyrannischer war, als die übrigen Seekönige seiner Zeit, vielleicht sogar noch weniger; aber der Eifer der Jagd hatte alle zartere Gefühle aus seinem Busen gejagt: er war ärgerlich – in Wahrheit die allerschlimmste Gemüthsstimmung, welche ein Mann nur haben kann, dem eine unbeschränkte Gewalt vertraut ist. Ungünstige Meinungen über den Eifer der Schiffsmannschaft tauchten in seinem Innern aus und er schrieb dieselben – muß ich sagen wohin?

Gegen all dieß empörte sich der edle Sinn des jungen Augustus Astell, und die Rebellion eines wahrhaft edeln Geistes trägt stets einen ungestümen Charakter. Das ewige Peitschen, welches er mit ansehen mußte, wurde ihm zum Abscheu, und als sich die Zahl dieser grausamen Scenen vermehrte, benutzte er das Privilegium, welches ihm sein Onkel immer noch gewährte, daß er, wenn sie allein waren, zuerst Bitten einlegte, dann Vorstellungen machte und endlich – thörichter Knabe! – mit drohenden Erklärungen anrückte. Vier-, fünf- und sogar sechsmal ging ihm dies hin, denn der Commodore liebte ihn noch immer und erinnerte sich des feierlichen Gelübdes, das er seiner Schwester gegeben hatte; aber durch diesen übel gewählten Weg verbesserte der Anwalt der Menschlichkeit weder die Stimmung des Commodore, noch die Lage der Mannschaft. Außerdem war der junge Astell zu gut, um nicht einige Feinde zu haben, welche die Entfremdung zwischen den beiden Verwandten mit aller Emsigkeit der Bosheit zu einem recht ordentlichen Hasse umzubilden bemüht waren. Dennoch kam Augustus mit erhöhetem Eifer seinen Obliegenheiten nach und schien in demselben Grade seinem mürrischen, alten Onkel Bewunderung und Achtung abzuzwingen, als er die Liebe desselben verlor.

So standen die Dinge, als der Commodore bei schlechtem Wetter, und in möglichst schlechter Laune zu Rio Janeiro anlangte. Wie gewöhnlich hatte ihm Monsieur Schnellläufer siebenundzwanzig Stunden Vorsprung abgewonnen. Das englische Geschwader sah sich genöthigt, achtzehn Stunden in der Höhe des gedachten Hafens zu bleiben, um Wasser und einige sonstige Nothdürftigkeiten einzunehmen, während welcher Zögerung sich die Stimmung des Commodore dermaßen verschlimmerte, daß sein alter Quartiermeister, der schon fünfundzwanzig Jahre unter ihm diente, sich der Bemerkung nicht entschlagen konnte, wenn jetzt der Engel Gabriel vom Himmel herunter käme und Seiner Gnaden, dem Commodore, eine Anweisung an den himmlischen Magazinier auf ein neues Auge gäbe, so würde er diesen und den Boten verwünschen, ehe er sich herabließe, das Sehwerkzeug in seinen Sockel zu klappen.


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