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Achtes Kapitel

Dies ist die Rache einer Seele,
Die sich ertränkt im bodenlosen Meer
Von Schrecken sonder Gleichen.

Wir müssen nun fortfahren, die Ereignisse des nächsten Morgens zu berichten. Mr. Underdown pflegte stets früh aufzustehen, verließ aber selten, den Hochsommer ausgenommen, vor dem Frühstücke sein Gemach, da er die Morgenstunden entweder mit Studiren oder mit Führung der Rechnungen über Sir Octavius sehr großes Besitzthum ausfüllte. Miß Matilda Bacuissart war kaum je zu veranlassen, sich vor Mittag zu zeigen, während Rebekka je nach der Grille des Augenblicks entweder schon auf war, ehe die früheste Lerche trillerte, oder noch im Bette lag, wenn die Sonne bereits begonnen hatte, ihre Schatten gegen Osten zu werfen.

Nun saßen an jenem denkwürdigen vierten April Punkt neun Uhr in dem Frühstückzimmer von Trestletree-Hall zwei Personen, die in ihrer eigenen Meinung sehr bedeutsam waren. Die eine stellen wir als Becky Backy vor, denn einen bessern Titel verdiente sie nicht, wenn man sie nach ihrer Außenseite beurtheilte. Sie hatte fast die ganze Nacht vor Weinen nicht geschlafen, und wie der erste Schimmer des Tages durch die Fenstervorhänge brach, war die Erbin von Trestletree-Hall aufgestanden, und ungewaschen und ungekämmt heruntergekommen, um die Hallenthüre aufzuriegeln und geraden Weges bei Augustus Astells Schimmel einen Besuch zu machen. Der Morgen war rauh und nebelig; auch hatte der Rasen und der schmutzige Stallhof, über den sie waten mußte, ihre Kleider bis über die Hüfte hinauf besudelt. Daraus machte sie sich jedoch nicht viel, denn sie hatte sich fest vorgenommen, fortan Alles zu thun, was sie nicht thun sollte, und da sie eigentlich fest gegen Erkältung war, so kümmerte sie sich nicht darum, wie sie aussah, oder was aus der Vernachlässigung ihres Anzuges folgen konnte.

Die Ställe befanden sich in einiger Entfernung vom Hause und waren von einer Mauer eingeschlossen. Da der Raum, in welchem sich der Schimmel befand, nicht verriegelt war, so stand die junge Dame bald an der Seite des edlen muthigen Thieres, dessen Hals sie mit ihren weißen symmetrischen Armen umschlang. Sie liebkoste es und weinte über dem Rosse weit zärtlicher, als sie über dessen Gebieter gethan haben würde; und da sie sich unbelauscht glaubte, so erging sie sich in den leidenschaftlichen Aeußerungen, ihres Vetters Andenken zu Ehren.

»Ich hätte große Lust, mich auszuhungern, wenn es nur nicht etwas so gar Schreckliches um den Hunger wäre. Ich will nicht leben – will mich selbst tödten. Ich will warten, bis der Vater nach Hause kömmt und dann das Haus in Brand stecken. Ja, das will ich, lieber, lieber theurer Augustus – um deinetwillen. Wir Alle wollen miteinander sterben, und dann hat's mit der ganzen Familie, ihrem thörichten Stolze und mit ihren Vorlesungen über Anstand, Lernen und dergleichen ein Ende. Ich will das Haus abbrennen und Alles, was darin ist. Aber der gute arme Mr. Underdown, was hat er gethan, daß ich ihn verbrennen sollte? Nein, ich muß warten, bis er weg ist. Und Tante Matty – die gute einfältige Tante Matty; ich wollte lieber meinen ganzen Leib verbrennen, als ihr nur den kleinen Finger. Und der Vater – der rauhe alte Vater – nachdem er so lang und so schwer gefochten hat – es wäre schrecklich, ihn zu verbrennen. Dazu ist er obendrein so freundlich gegen mich – nein, er darf nicht verbrannt werden. O Himmel! ist also Niemand da, der verbrannt werden könnte, als ich selbst? Was soll ich thun – was soll ich thun? aber wie – – ist dieß auch eine Streu für Rover?«

Nachdem sich ihre Aufmerksamkeit in dieser Weise einem andern Gegenstande zugewendet hatte, fühlte sie sich schon etwas weniger untröstlich, und sie begann mit einer großen Mistgabel frische Streu herbeizuholen – eine Beschäftigung, die bei ihr durchaus nicht zu den ungewöhnlichen gehörte. Sie hatte jedoch noch nicht lange umhergewühlt, als etwas im Stroh die Gabelzinken festhielt und ein rundes, sehr knabenhaftes, vergnügt aussehendes Gesicht über dem Streuhaufen zum Vorschein kam, während der übrige Leib noch immer unten verborgen blieb.

»Das kann Einem emporhelfen!« rief das possierliche Gesicht. »Ihr hättet mir beinahe mein Steuerbordhochlicht ausgestochen.«

Ohne sich durch diese auffallende Erscheinung einschüchtern zu lassen, trat Rebekka einen Schritt zurück, holte dann mit ihrer rechten Hand zu einem Schlage aus und blieb als ein nicht übles Modell einer jungen Amazonen-Venus stehen.

»Und wer seid Ihr, daß ich Euch wie einen Räuber auf meinem Grund und Boden versteckt finde? Steht auf und sprecht!« lautete die kecke Herausforderung des furchtlosen Wildfangs.

»Recht gern. Ich bin überzeugt, wenn Ihr nur halb so gut seid, als hübsch, so werdet Ihr mir nichts zu leide thun. Ohne Zweifel spreche ich mit der Tochter des fechtenden alten Commodore, den der Teufel holen möge!«

»Wie könnt Ihr Euch unterstehen, Ihr elender Vagabund, so achtungswidrig von meinem Vater zu sprechen?«

»Ich bitte um Verzeihung, Miß Rebekka, aber war mir's doch eben, als hörte ich, wie Ihr selbst für den alten Knaben einen Rost bereiten wolltet.«

»Nichts mehr von diesem Unsinn oder ich rufe das Gesinde herbei. Ich frage noch einmal, wer Ihr seid, damit ich mein Benehmen gegen Euch danach einrichten kann?«

»Ihr braucht Euch nicht zu fürchten, Miß Rebekka.«

»Wie, ich mich fürchten vor einem so kleinen Geschöpfe, wie Ihr seid? Was wollt Ihr? Seid Ihr ein Bettler, ein Landstreicher oder was sonst?«

»Leider etwas nicht viel Besseres, junge Dame – ich bin ein Deserteur.«

»Sprecht – hurtig – von welchem Schiff?«

»Von dem Terrific.«

»Wie – von dem Schiffe meines Vaters? – Und was wißt Ihr von meinem theuern Augustus?«

»Ich war sein Freund – sein liebster Busenfreund.«

»Wie, von Augustus Astell?«

»Ja – von wem sonst? Um seinetwillen bin ich desertirt.«

»Um seinetwillen – um meines Augustus willen desertirt? O du herrlicher kleiner Mensch, wie liebe ich dich!«

»Ja, Miß, ich habe viel für ihn gelitten. Euer achtbarer Vater hat mich zweimal um seinetwillen peitschen lassen.«

»Armer kleiner Bursche! kommt mit mir nach dem Hause und erzählt mir Alles.«

Aber der kleine Danvers mochte dies nicht wagen, weshalb er bis neun Uhr mit dem Fräulein im Gespräche umherging, und während dieser Zeit hatte der zerlumpte kleine Midshipman sein Aeußerstes gethan, die Tochter glauben zu machen, ihr Vater sei einer der heillosesten Tyrannen, welche je die vormalige Arena der Tyrannei, das Halbdeck eines Schiffes beschritten.

Betrachten wir diese beiden plötzlichen Freunde, wie sie Hand in Hand nach der Thüre hinausgehen – ein mit Thränen kämpfendes Lächeln in dem Antlitz der jungen Dame und Dreistigkeit mit Unruhe vermischt auf dem Gesichte des entlaufenen Reffers.

»Darf ich es glauben?« fragte der leidenschaftliche Wildfang.

»Nicht gerade glauben, Miß Becky, aber die Wahrscheinlichkeit steht sehr zu seinen Gunsten. Der Abend war zwar dunkel und das Wetter kalt, aber Salzwasser ist stets wärmer, als die Luft, und die hohe See war mit kleinen Fahrzeugen bedeckt. Augustus schwamm wie eine Ente; ich glaube nicht, daß ein so hübscher Bursche ertrinken konnte.«

»So will ich also denken, daß er noch am Leben sei, und mich mit aller Inbrunst an diesen Glauben anklammern. Sollen wir seiner theuern Mutter sagen, daß wir dieser Ansicht sind?«

»Ich weiß nicht, ob es gerathen wäre, denn es würde sie doch nur sehr abängstigen, Miß. Und wenn er am Ende doch den Tod in den Wellen gefunden hätte!«

»Wir wollen an dies nicht denken – wißt Ihr gewiß, daß er schwimmen konnte?«

»Gesehen hab' ich's freilich nie, und ich glaube auch nicht, daß er mir's je gesagt hätte; aber er war ein so prächtiger Bursche und konnte gewiß Alles.«

»Wir wollen augenblicklich Mr. Underdown fragen.«

»Mr. Underdown, den Sekretär der alten Eisenfinne? Ist er hier?«

»O ja; er wird sich freuen, Euch zu sehen.«

»Kein Zweifel, kein Zweifel; aber Miß, ich muß meinen Anker aufziehen und einen hübschen Vorsprung zu gewinnen suchen. Er würde mich dem Commodore überantworten, ehe eine Katze ihr Ohr lecken oder ein Bettpfosten blinzeln kann, wie wir Seeleute zu sagen pflegen.«

»Ihr Seeleute sagt gar possierliche Dinge – aber Ihr müßt hier bleiben und sie auch auf dem Lande sagen. Glaubt Ihr denn, daß ich mich so schnell von Euch trennen wolle, mein artiger kleiner Midshipman?«

»Wißt ihr gewiß, daß er mich nicht festhalten läßt?«

»Er darf nicht, mein lieber kleiner Freund.«

Damit begaben sie sich in das Frühstückzimmer, und bald nachher stürzte sämmtliches Gesinde des Hauses der Reihe nach herein, um die tausend Befehle der absoluten Erbin zu erfüllen. Das splendideste Frühstück wurde bestellt – Geflügel in Morchelnsauce sollte augenblicklich zubereitet und die besten Weine aus dem Keller herbeigeschafft werden.

Nun war der kleine Daniel Danvers oder Doppel-Dan, wie er gewöhnlich von seinen Tischgenossen benannt wurde, obgleich ihn Miß Rebekka in so patronisirender Weise behandelte, volle drei Jahre älter als das Fräulein, obgleich kaum so groß. Er war von breitem etwas gedrungenem Wuchse, hatte aber das lieblichste rothbackigste Gesicht, das nur je über einem steinharten Zwieback grinste. Alles, was er sah, setzte ihn dermaßen in Erstaunen, daß er wohl regungslos dagestanden haben würde, wenn er nicht ungemein hungerig oder vielmehr völlig ausgehungert gewesen wäre. Das prachtvolle Gemach, welches alle seine bisherigen Vorstellungen von Zimmern weit übertraf, die Fülle und der feine Geschmack des Mahls, ferner der Eifer des zahlreichen Gesindes, um jedem Wunsche des schönen, obgleich schmutzigen und unordentlich gekleideten Mädchens zuvorzukommen – Alles dies erschien ihm wie ein Zauber aus irgend einem Feenmährchen. Er aß übrigens und sagte nichts, während seine wohlwollende Wirthin, höchlich über einen Appetit erstaunt, der alle ihre Möglichkeitsbegriffe so weit überstieg, seinen Teller mit Leckereien zu überhäufen fortfuhr.

»Das ist eingemachter Schellfisch, mein köstlicher Dan –.«

Bei diesen Worten öffnete sich die Thüre und die majestätische Gestalt der Lady Astell, welche sich auf Mr. Underdowns Arm lehnte, trat in ihrem Reiseanzuge über die Schwelle. Daniel ließ erschrocken sein Besteck fallen und stierte die neuen Ankömmlinge mit großen Augen an, als sei ihm der letzte Bissen im Halse stecken geblieben.

»Kehrt Euch nicht daran, lieber Daniel; es ist nur Tante Agnes und Underdown. Ihr braucht Euch nicht mit Aufstehen zu bemühen.«

»Ei, im Namen alles Anstandslosen, wen habt Ihr hier?« fragte Mr. Underdown mit etwas scharfem Tone.

»O Rebekka! was ist dies wieder für ein toller Einfall?« sagte Lady Astell in wehmüthigem Tone.

Nun hatte Mr. Danvers nichts, was ihm das Wort reden konnte, als sein Gesicht – freilich ein Empfehlungsbrief, von dem man sagt, er sei von der Hand Gottes selbst geschrieben, im Falle dasselbe gewinnend ist. Was Daniel betrifft, so war das gedachte Rekommandationsschreiben nicht übel, aber das Aussehen des Menschen, der es führte, sammt allem übrigen Zugehör, strafte die Empfehlung geradezu Lügen. Daniel war bei nassem unfreundlichem Wetter fast achtzig Meilen weit zu Fuße gegangen; die Kleider hingen daher in Fetzen um ihn her, das bischen Weißzeug, welches an seinem Halse sichtbar wurde, war schmutzig, und seine Hände zeigten dunkle Schmutzkrusten. Zu alledem trug seine Uniform in reichlichem Grade die Ueberreste des Lagers, welches er in der vorigen Nacht eingenommen, denn sie war mit Heu, Stroh und anderem Stallunrath bedeckt. Trotz ihrer traurigen Klemme hatte übrigens Rebekka noch nie schöner ausgesehen. Die Glut der Begeisterung leuchtete aus ihrem Gesichte und aus ihren Augen blitzte das unsterbliche Feuer ihrer Seele.

»Wer ist dies, Rebekka?« fragte Mr. Underdown strenge.

»Mein Gast und mein Freund – ich dächte, dies wäre hinreichend, um Euch zufrieden zu stellen, Sir!« versetzte der schöne Unband aufbrausend. »Der Vater sagt, man müsse mir meinen Willen thun, und ich lasse mir dieses Recht nicht verkümmern.«

»Erlaubt mir, Miß, in aller Demuth zu fragen, wo Ihr diesen etwas zerlumpten Freund aufgelesen habt?«

»Im Stalle; er hat dort die ganze Nacht geschlafen – eine wahre Schande für uns. Unser bestes Bett wäre nicht gut genug für ihn gewesen.«

»Mr. Underdown,« sagte der Eindringling stotternd, »ich war der Freund von Augustus Astell.«

»Der Freund meines Sohnes?« rief die Mutter. »Sprecht, sprecht!«

»Wahrhaftig, es ist Daniel Danvers,« sagte Mr. Underdown, der ihn jetzt zum erstenmal erkannte.

»Ja, ich bin diese unglückliche Person. Ich war der Tischgenosse, der Vertraute des Augustus Astell. Jetzt bin ich ein Deserteur von dem Terrific; Ihr könnt mich ausliefern. Ich mache mir nichts daraus, da ich meinen Eid gehalten habe.«

»Was für einen Eid? – Beeilt Euch, mich Alles wissen zu lassen. Wenn Ihr der Freund meines Sohnes seid, will ich Euch beschützen.«

»O Tante, o Mr. Underdown, eh' ihr noch ein weiteres Wort mit ihm sprecht, sagt mir, konnte August schwimmen?«

Die Antwort von Beiden lautete verneinend, und Rebekka's Schwungkraft war mit einemmale dahin. Sie brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus, legte ihr Köpfchen auf den Frühstücktisch und bedeckte ihr Antlitz mit der Hand.

»Was soll alles Dies?« hauchte die aufgeregte Mutter, da sie kaum im Stande war, zu sprechen.

»Je nun, gnädige Frau, just bevor Augustus über Bord sprang –«

»Ha, welch' neues Entsetzen! Ueber Bord? Mein Sohn ein Selbstmörder!« kreischte die Mutter außer sich und wankte nach einem Stuhle.

»Voreiliger junger Mensch, schaut, was ihr angerichtet habt,« rief Mr. Underdown, Danvers am Kragen fassend und ihn tüchtig rüttelnd. »Kommt mit mir in ein anderes Zimmer.«

Aber Lady Astell war nicht ohnmächtig geworden. Ein neues fremdes Leben schien sie zu durchströmen, und sie sagte mit heiserer Stimme:

»Mr. Underdown, ich befehle Euch, von dem Knaben abzulassen. Er war der Freund meines Sohnes – er achtete, liebte und verehrte ihn – er ist der Bote der Wahrheit. Die geringste Heftigkeit, die mindeste Härte – wäre es auch nur mit einem Worte – gegen diesen jungen Menschen, und unsere Freundschaft ist für immer aufgelöst. Komm zu mir, Freund meines Sohnes, komm zu mir, damit ich dich umarme. Aber ich beschwöre dich bei der Mutter, die dich einmal geliebt haben muß, bei Allem was deinem jungen Herzen theuer ist, – theile mir Alles mit – Alles, Alles! Mr. Underdown, entschuldigt mich; ich bin nicht wahnsinnig – auch nicht aufgeregt – sondern nur nicht länger das schwache Geschöpf von gestern. Sprich, sage mir Alles.«

Und nun theilte der verwirrte Jüngling den Vorgang so mit, wie man an Bord vermuthete, daß er sich zugetragen habe.

Im Verlaufe dieser schrecklichen Erzählung ging mit Lady Astell ein seltsamer Wechsel vor. Sie schien ein ganz anderes Wesen geworden zu sein, denn die Züge ihres Antlitzes waren kaum mehr dieselben. Der frühere Ausdruck war für immer dahin, und an seine Stelle war eine starre rachsüchtige Strenge getreten, die eher gemeiseltem Marmor, als lebendigem Fleische und Blut anzugehören schien. Sie sah höher aus, und auf ihren Wangen leuchtete wieder ein Roth, denn sie sah jetzt ein, daß ihr noch ein anderer Zweck bevorstand, als zu sterben. Endlich wand sich ein ehernes Lächeln wie eine giftige Schlange über die Krümmung ihrer Oberlippe. Nachdem die traurige Geschichte erzählt war, sah man nur wenig mehr an der christlichen Agnes – sie war die Medea des Alterthums geworden.

Im Laufe des Berichts kam auch der Brief des verzweifelnden Sohnes an seine Mutter zur Sprache, aber sie fragte noch immer nicht danach. Der Knabe wollte ihn überreichen, aber sie wehrte ihn mit der Hand ab – und seltsamerweise vergoß sie keine Thräne, als sie die Kunde von dem schaudervollen Ende ihres Sohnes ausführlich vernahm. Wie jedoch der junge Daniel von den Verfolgungen, die er selbst erlitten, von den Schmeicheleien, mit denen man ihn bedrängt und den Peitschenzüchtigungen sprach, die man an ihm verübt hatte, um ihn zu Auslieferung des verheimlichten Dokuments zu zwingen – als er ferner berichtete, welche Gefahren und Entbehrungen er auf seiner Flucht ausgestanden, und wie er nach Trestletree-Hall gewandert sei, nachdem er Lady Astell vergeblich in ihrem Landhause aufgesucht habe – da stahlen sich stumme Thränen über ihre Wangen nieder. Nachdem er geschlossen, sagte sie ruhig:

»Gib mir jetzt den Brief.«

Sie nahm und küßte ihn, ließ aber noch immer das Siegel unerbrochen. Dann wandte sie sich an Mr. Underdown und sagte in seltsamem, unnatürlichem Tone zu ihm:

»Ihr habt all dies gehört. Wißt Ihr etwas vorzubringen, um diesen Verwandtenmord in einem milderen Lichte darzustellen? Wenn dem so ist, so sprecht Euch jetzt aus.«

»Faßt Euch, theure Lady Astell – Euer Aussehen erschreckt mich.«

»Wirklich? – Ich fühlte mich in meinem Leben nie gesünder – nie kräftiger, entschlossener oder mehr im Stande, zu handeln. Wollt Ihr mir meine Frage beantworten?«

»Ich kann bloß erwiedern, daß kein Gegenbeweis gegen die Angabe vorhanden ist, die Sir Octavius gegen seine Offiziere in der Kajüte und in seinem Briefe an Euch aussprach.«

»Schon gut, ich will Euch nicht fragen, ob Ihr selbst daran glaubt. Gestern erfuhr ich, daß ich keinen Sohn mehr habe – und heute wird mir die Gewißheit, daß auch der Bruder dahin ist.«

»Laßt uns die Sache vom vernünftigen Standpunkte betrachten.«

»Nein, Sir; ich fühle, daß mir noch eine höhere Pflicht aufgelegt ist. Laßt uns das Geheiß des Todten lesen. Horcht auf die Stimme dessen, der in der Fülle seiner Jugendschönheit unnatürlich unter den kalten Wellen ertrank – laßt uns sehen, was er von uns verlangt, und es soll zuverlässig geschehen, so wahr ein gerechter Gott lebt, um diesen Mord zu strafen. Hört:

Sie las dann den Brief, den wir hier wiederholen.

»Mutter!

»Wenn Du dies siehst, so gehe hin und fordere von Deinem Bruder Deinen ermordeten Sohn. Ich flehe zu Gott, daß er dich segne.

Augustus Astell.«

»Augustus, mein Geliebter! Dir soll nach dem Buchstaben gehorcht werden. Die Frage soll in seine Ohren donnern – schlafend und wachend soll er sie hören – in gesunden und kranken Tagen – ja und sie soll ihm wiederhallen durch das Geplapper der Teufel, die sein Todbette umspuken werden.«

»Dies ist zu schrecklich, zu unchristlich, zu unweiblich.«

»Wie mögt Ihr so sprechen? Und doch sagt ihr Alle, daß ihr Augustus liebtet. Höre, mein junger ritterlicher Sir,« sie wandte sich dabei an Danvers, »hast du Eltern?«

»Ich bin eine Waise.«

»Um so besser – ich nehme dich an Kindesstatt an. Komm mit mir, der Wagen steht an der Thüre. Ich will nicht länger weilen unter diesem verfluchten Dache, werde aber wieder zurückkehren, um es in Schrecken zu setzen. Um derer willen, welche ich hier zurücklasse, will ich meinen Fluch nicht auf der Thürschwelle niederlegen, wohl aber den Staub von meinen Füßen schütteln, sobald ich sie überschritten habe. Rebekka, ehre deinen Vater; vielleicht lerne ich mit der Zeit dich wieder zu lieben. Mr. Underdown lebt wohl – wollte Gott, daß ich sagen könnte: ›mögen wir uns in glücklicheren Zeiten wiedertreffen.‹«

Dann lehnte sie sich auf die Schulter des jungen Midshipmans, schritt stolz durch die Halle und stieg in ihren Wagen, worauf die Pferde in einen wüthenden Galopp gepeitscht wurden. Die Equipage flog dahin wie ein verwirrter Morgentraum, der das Lager eines Kranken umspukt.

»Siehe, wie sich zwei edle Geister herabgewürdigt haben!« sagte der bekümmerte Underdown, während er seine Schritte nach der Leihbibliothek wandte.

Entsetzt und betäubt verließ Rebekka das Gemach, warf sich auf ihr Bette und weinte sich in den Schlaf.


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