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Achtundzwanzigstes Kapitel

Am Abend vor der Schlacht verkehrt der Geist
Mit tief geheimnißvollen Zauberdingen –
Beschwört herauf des Bittern viel und Süßes,
Und hält den grellen Wetterglanz der Krone
Des Siegs zusammen mit dem kalten Grab.

Altes Schauspiel.

Meine Erzählung nähert sich nun einer Krisis. Ich fühle mich aufgeregt, und da die Ereignisse von vielen Punkten aus sich nach einem einzigen gemeinschaftlichen Mittelpunkte hinziehen, so werde ich, während ich die Massen vorwärts bringe, nur wenig Gelegenheit haben, mich über Einzelheiten zu verbreiten. Ich weiß, meine Methode ist nicht kunstgerecht, und fürchte daher, daß ich mir verlorene Mühe gebe und daß mein Klimax vielleicht an der unrechten Stelle explodirt. O daß ich alle meine Leser um mich versammeln könnte! Wie demüthig würde ich sie, den Hut mit der verschossenen Borte in der Hand und meine wenigen silbernen Locken im Winde spielend, der Reihe nach um Verzeihung bitten, daß ich einen Versuch gemacht habe, den nur diejenigen wagen sollten, welche mit der Feder recht gut umzugehen wissen. Leider ist aber dies unmöglich. Ich finde, daß ich jetzt in meiner eilften Stunde nicht mehr innehalten kann, und doch vervielfältigen sich die Schwierigkeiten dermaßen, daß ich nicht weiß, wie ich fortfahren soll.

Doch horch! es dünkt mich, ich höre den fernen Ton der ächten und gerechten königlichen Seeartillerie. Mein Blut kreist wieder gesund. Mein Busen erwärmt und die Fibern meines Herzens kräftigen sich. Es ist die Rückerinnerung an das Schlachtengetös längst vergangener Tage – der Zeit, zu welcher Männer in seltsamer Kampflust, für deren kurze Wonne wir Alle unsere Freuden opfern, fochten, litten und starben. Horch! es ist der Hall des doppelt geladenen Geschützes über dem schweigenden Wasser. Jetzt zögere ich nicht mehr – ich weiß, wo ich sein muß! Neben dem tapfern alten Commodore ist meine Stelle.

Bereits hatte Jedermann an Bord des Donnerkeils den verstümmelten alten Helden liebgewonnen. Er schien die Mannschaft des ganzen Geschwaders weniger durch Strenge, als durch eine nie erschlaffende Wachsamkeit zu beherrschen. Kein begangener Fehler wurde übersehen, und doch kamen nur wenige Vergehen zur Bestrafung, die noch obendrein nach den Begriffen der Zeit keine entsprechende Rüge erhielten. Eine stille, aber rasche Umwandlung ging unter den Matrosen vor; ihr Ehrgefühl begann sich zu regen und jeder Einzelne hatte seine frühere Fahrlässigkeit gegen eine neugeborne Selbstachtung umgetauscht.

Sir Octavius war nun fast einen Monat an Bord, und doch hatte sich noch kein Rücken vor der Qual der schimpflichen Geißel entblößen müssen. Gewohnheitshalber brauchte zwar der Hochbootsmann hin und wieder sein Rohr, aber er brachte sogar diese beziehungsweise sehr unbedeutende persönliche Züchtigung nie vor den Augen des Commodore in Anwendung, weil er besorgte, sie könnte demselben mißfallen.

Doch wie ging dies zu? War denn die Mannschaft des Donnerkeils plötzlich – folglich durch ein eigentliches Wunder makellos geworden? O nein. Betrunkenheit fand noch immer Statt, und vielleicht wurden zehn von den Schlimmsten sogar noch schlimmer. Aber diese sehr schwarzen Schafe wurden trotz ihrer beziehungsweisen Straflosigkeit doch eigentliche Parias unter den Uebrigen – Gegenstände der Verachtung und des Abscheu's, denen selbst bei der strengsten Strafe ihre Kameraden kein Mitleid gezollt haben würden.

Die Guten konnten nun zu denen, welche geneigt waren, auch nur für einen Augenblick in ihrem Dienste lässig zu werden, sagen und sagten es auch oft: »He, thu' es nicht dem schlechten Kerl, dem Jack so und so gleich,« und die Mannschaft begann, das Laster nicht wegen der Furcht vor der Strafe, sondern weil sie nicht anrüchig werden wollte, zu meiden. Mit diesem Stolze, der ein neues Glück in ihrem Innern erzeugte, hatten sie bereits einen großen Schritt zu moralischer Vollkommenheit gethan.

Vielleicht war die einzige Person an Bord des Donnerkeils, an welcher die Reformation schwierig wurde, der Commodore selbst, welcher so rasch alle Uebrigen reformirte. Hin und wieder fiel ein abgebrochener Fluch, halb in der Geburt erstickt, zu Boden, und oft glühete seine Stirne, während das Kreisen des eisernen Spiekers an seinem linken Arme den Kampf seines Innern verrieth. Niemand wußte den schweren Kampf zu würdigen, der hin und wieder in seinem männlichen Busen zwischen der wildesten Leidenschaftlichkeit und einem tiefen, von Reue begleiteten Pflichtgefühle ausgefochten wurde. »Führe mich nicht in Versuchung!« lautete der wichtige Schluß seines täglichen Gebetes.

Wie ganz anders war es auf dem Halbdecke des Donnerkeils, als früher auf dem Terrific. So oft damals Sir Octavius auf dem Decke erschien, verbreitete er so zu sagen eine Einöde um sich her; denn Niemand wagte den Weg des Löwen zu kreuzen, diejenigen ausgenommen, welche durch ihren Dienst dazu verpflichtet waren. Die Matrosen wichen vor ihm zurück, und jedes Ohr befand sich in jenem peinlichen Gefühle der Spannung, mit welchem man auf das bevorstehende Rollen des Donners lauscht, denn keiner konnte wissen, wen zunächst die Schrecken seiner rauhen, gewaltigen Stimme trafen. Wenn sein dreieckiger Hut unter der Hütte auftauchte, betrachtete manches scheue Auge die Spuren auf seinem Gesichte; der Lieutenant der Wache blickte ängstlich nach den gesetzten Segeln, die Midshipmen erblaßten, wenn ein loses Taugarn auf dem Decke sichtbar war, die Schiemänner riefen auf's Nachdrücklichste ihr »Luv, Luv, Luv!« und die Leute am Rad fürchteten jeden Augenblick, einen Schlag von seiner schrecklichem eisernen Hand zu erhalten.

Welche ganz andere Wirkung übte jetzt sein Erscheinen! Heitere aber höchst achtungsvolle Blicke folgten ihm auf jedem Schritte und Tritte. Die frohe Kunde, daß er sich auf dem Decke befinde, verbreitete sich rasch bis in's Lockpit hinunter, und die Offiziere nebst den Midshipmen kamen in Schaaren herauf, um die freundliche Begrüßung seines einzigen Auges entgegenzunehmen und zu erwiedern. Der Quartiermeister an dem Steuer blickte stolz und zuversichtlich auf, der Mann am Rade nahm mit dankbarer Wärme den gewöhnlichen Beifall entgegen, und jedes Gesicht, das der alte Held sah, strahlte den Frieden und das Glück seines eigenen Herzens wieder.

Wie gespannt war nicht jedes Ohr und Auge, wenn er einen Wunsch ausdrückte, und wie hurtig und eifrig wurde er nicht in Vollzug gesetzt! Es herrschte ein eigentliches Wetteifern. Und wenn der ehrliche Jack einen Vorwand finden konnte, in die Nähe seines verehrten Befehlshabers zu kommen, so fühlte er sich glücklich, dreimal glücklich für den ganzen langen Tag in dem freundlichen Blicke, der ihm zugeworfen wurde. Der schönste und rührendste Anblick bestand aber vielleicht darin, wenn irgend ein blühender schöner Knabe, stummen Entzückens voll, mit glühendem Gesichte und vor Erregung schwellendem Busen in Gegenwart seiner Kameraden und Tischgenossen von dem alten Helden gelobt wurde. Ja, da trat nicht selten eine Thräne in das Auge des Jünglings, wurde aber mit heroischer Standhaftigkeit zurückgehalten. Wenn der Held zu sprechen aufhörte, ging der glückliche Junge nach der Einsamkeit seiner dunkeln Kajüte, verbarg seinen Kopf auf dem Tische und machte seinem Glücke in einem Strom von Thränen Luft, ohne sich erklären zu können, warum er weinte. Man hatte dies oft bemerkt. O ihr Kapitäne von Kriegsschiffen! – Doch nein – in diesem Augenblicke kann ich keine Anrede an euch halten!

Ich will nur eines einzigen possierlichen Zuges gedenken, welcher mehr als ein halber Band voll gut geschriebener Betheurungen beweisen wird, wie sehr der alte Commodore allgemein verehrt wurde. Unter den Leuten vor dem Mast befindet sich stets ein eingebildeter Stanfield, welcher mit dem gläubigen übrigen Schiffsvolk meint, daß er ein wunderbares Talent für's Zeichnen besitze. Dieser Künstler, der sich selbst gebildet hat, ist stets ein rauher, guter Matrose, der, ohne Rücksicht auf Schatten, Perspektive und Zeichnung zu nehmen, ein Schiff entwirft, auf dem er jedes Tau und jeden Block genau anbringt und statt des Meeres eine krause grüne Perücke hinwirft. Nun war der Künstler des Donnerkeils ein so ehrlicher Jack Theer, wie nur je Einer über den steinharten Zwieback gemurrt hat, und eben so geschickt mit dem Merlpfriem, wie mit dem Pinsel – ja, wir müssen ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen – sogar noch weit geschickter, denn wenn er sich nicht auf das Mausen des großen Stags oder auf das Einsetzen einer Jungfer besser verstanden hätte, als auf das Abreißen eines Kriegsschiffes, so würden gewisse Leute – natürlich nur solche vom Lande – behauptet haben, er verdiene für seine Pfuscherei gekielholt zu werden. Indeß hatte dieser Tim Tint einen Fehler mit dem Kardinal Richelieu gemein – man konnte Letzterem nicht schmeicheln, wenn man seine tiefe Staatskunst bewunderte, obschon er in diesem Fache vollendet war, während er sich mit Gier den ekeln Weihrauch gefallen ließ, den man ihm als Dichter zollte – ein Talent, das er einigermaßen, die Welt aber gar nicht bezweifelte.

In gleicher Weise wurde Tim Tint ungeduldig, wenn man ihn einen tüchtigen Matrosen nannte, da dies kein Interesse für ihn hatte; erklärte man ihn aber für einen großen Maler, so hatte man sein Herz für immer gewonnen. Eines Tages nun zog ihn ein boshafter Schalk von Midshipman in fröhlicher Laune wegen seiner künstlerischen Fertigkeit auf.

»Mit Erlaubniß,« entgegnete der beleidigte Timothy, »ich kann Alles malen.«

»Nur keinen Engel.«

Die Herausforderung wurde mit stolzer Zuversicht angenommen und ein Schiedsgericht bestellt.

Aber oh der ermüdenden Sisyphusarbeit, welche Timotheus übernommen, als er wirklich einen Engel malen sollte! Er brachte alle Arten von beschwingten Ungeheuern und grausigen Chimären zu Stande, aber nicht einmal die Größe seiner Eigenliebe gestattete ihm, auch nur eine einzige seiner Leistungen für einen Engel zu erklären. Endlich war es ihm nach unsäglicher Mühe gelungen, etwas herzustellen, was wie ein Polster in einem Schlafrocke aussah und mit einem genügenden Paar von Schwingen und Händen sammt entsprechenden Füßen begabt war – aber der Kopf, das Gesicht – »ja, da sitzt der Haken!« Freilich ein schwerer Haken, denn er hatte wohl fünfzigmal den Versuch gemacht und ihn stets wieder ausgewischt.

Timothy Tint stand am Rande der Verzweiflung. Mit einer Ausdauer, die in jeder Sache edel, in einer englischen aber glorreich genannt werden konnte, hatte er sich bemüht, die Porträts von neun fleckenlosen Damen des Portsmouth-Points, welche an Bord kommen durften, aufzunehmen. Am besten gelang es ihm mit der branntweingesichtigen Nan, da er deren Gesicht nicht genug mit Roth überladen konnte; aber dennoch wollte es nicht gehen.

Timothy nahm sich die Sache schwer zu Herzen und wurde darüber ernstlich krank. Den ganzen langen Tag hatte er, wenn er nicht zeichnete, die zartesten, theilnahmvollsten Fragen nach seinem Engel zu beantworten, und während er auf seiner Seekiste bemüht war, eine Pointdame zu porträtiren, standen so viele Kenner um ihn her, die ihre Gesichter verzogen, über die Bewegungen seines Pinsels die Zungen herausreckten und ihn die ganze Zeit über mit so viel unmöglichen, folglich vortrefflichen Rathschlägen überhäuften, daß er fast toll wurde.

»Was soll ich für einen Kopf machen – was soll ich für einen Kopf machen?« lautete Timothy Tints beständiger Klageruf.

»Nimm den des Sir Hocktivy,« sagte einer von der Geschützmannschaft, darunter den des alten Commodore verstehend. »Wenn es einen Engel von Menschen aus dem Wasser gibt, so ist es Sir Hocktivy Backeysquirt.«

Zu diesem Rathe gab männiglich aus vollem Herzen seine Zustimmung. Gesagt, gethan. Der kahle Scheitel, der steife gewickelte Zopf, die Narbenstirne und das schwarze Pflaster auf dem Auge waren Dinge, die sich weit leichter nachahmen ließen, als die Schönheiten der neun Musen von Point, und Tim erreichte ohne ihre Beihülfe seinen Zweck. Die Aehnlichkeit war augenfällig; der Midshipman gestand ein, daß er Wort gehalten habe, und Tim machte sich ein kleines Vermögen, indem er lauter Engel-Commodore's fertigte. Statt des Palmzweiges gab er demselben stets in die englische Rechte einen Stab, von welchem ein breites Commodorewimpel herunterflatterte. Sir Octavius kaufte gleichfalls ein Exemplar, das er mit fünf Guineen bezahlte: es hängt bis auf den heutigen Tag unter einem prächtigen Goldrahmen im besten Speisezimmer zu Trestletree-Hall.

Endlich signalisirte Kapitän Oliphant von der Belladonna, daß das Geschwader des Feindes in Sicht sei. Dies geschah mit Sonnenuntergang. Der Commodore untersuchte den Kurs, welchen der Feind steuerte, und änderte den seiner eigenen Flotille, um die französische aufzufangen. Da er nicht in der Nacht mit ihr zusammentreffen wollte, so ließ er nicht allen Segeldruck anwenden, sondern zog seine Schiffe zusammen, worauf er die Kapitäne nach dem Donnerkeil beschied. Sie begaben sich nach seiner Kajüte, wo er ihnen klärlich auseinandersetzte, welche Manöver sie für alle erdenklichen Vorfallenheiten auszuführen hätten, so daß die Offiziere seinen Scharfsinn und seine großen nautischen Erfahrungen nicht genug bewundern konnten. Nachdem er ihnen ihre Weisungen ertheilt hatte, verabschiedete er sich freundlich von ihnen und lud sie auf den andern Abend um sechs Uhr zum Diner ein, damit sie den französischen Admiral bei ihm sehen könnten.

Sie versprachen Alle, beim Gefechte ihr Bestes zu thun, um dieser Einladung pünktliche Folge geben zu können, und dann schieden sie unter wechselseitigen Ausdrücken der Freundschaft und Achtung. Jeder Kapitän begab sich nach seinem Schiffe, um Alles für die furchtbare Arbeit des nächsten Tages auf's Sorgfältigste vorzubereiten.

Während der kurzen Nacht waren sich die beiden Geschwader allmählig näher gekommen. Sir Octavius erfuhr in der Einsamkeit seiner Kajüte eine Seelenruhe, die fast an Glück gränzte, so daß er sich über seine eigenen Gefühle nicht genug wundern konnte. Wie sehr wünschte er, seinen Neffen, den Kapitän Oliphant, bei sich zu haben; aber dies gestattete der Dienst nicht, da seine Fregatte nebst einer Achtzehnkanonenbrigg die wichtige Obliegenheit hatte, die Bewegungen des Feindes zu beobachten.

In allen Angelegenheiten ein volles Vertrauen auf seinen Freund Underdown setzend, hatte der Commodore für den Fall, daß der Tag unglücklich für ihn ausfalle, nur wenige häusliche Verfügungen zu treffen. Er schrieb einen ergreifenden Brief an seine Schwester, die Lady Astell, in welchem er sie um Vergebung anflehte, zugleich sie bittend, seinen Segen nicht zu verschmähen und seiner bloß noch als eines liebenden Bruders zu gedenken. Um zehn Uhr speiste er wohlgemuth mit Kapitän Egerton zu Nacht, und nachdem dieser Gentleman sich zur Ruhe begeben hatte, ertheilte er Befehl, sowohl Matrosen, als Offiziere sollten, soweit sich dies mit dem Schiffsdienste vertrage, ein Gleiches thun, indem er die Weisung beifügte, die Segel mit möglichst geringer Leutezahl zu setzen. Ein Häuflein von Offizieren und Midshipmen, die sich auf der Hütte versammelt hatten, und durch ihre Nachtgläser sehnsüchtig nach dem französischen Geschwader fahndeten, wurden eigentlich zu Bette getrieben und murrten darüber wie fortgejagte Schulknaben.

Ehe sich Sir Octavius, ungefähr eine Stunde vor Mitternacht, nach seiner Hängematte begab, erging er sich in seiner Sterngallerie, um – auch unter den Guten eine nicht häufige Erscheinung – in seinem Innern einzukehren. Der Frieden, den er in sich fühlte, war ihm nicht recht begreiflich, und da er, wie die meisten Matrosen, auch seinen Antheil von Aberglauben in sich barg, so kam er auf den Gedanken, es liege darin ein Vorzeichen, daß der nächste Tag seinem irdischen Dasein ein Ziel stecken werde. Bisher hatte er am Vorabend eines Kampfes stets eine wilde Freude empfunden – eine Art Schlachtendurst – ein wildes Entzücken im Vorgenusse der Zerstörungswerkzeuge, die er gegen den Feind spielen ließ. Jetzt aber betrachtete et das bevorstehende Gefecht nur als einen bedauerlichen, aber notwendigen Wettstreit mit dem Gegner. Sein Ohr verlangte nicht mehr mit Gier nach dem Weheruf der Verwundeten, und seine Seele dürstete nicht nach dem konvulsivischen Stöhnen der Sterbenden. Der Donner der Kanonen, das Zischen der unwiderstehlichen Kugeln und das Krachen des gewaltigen Gebälks, wenn es unter dem zerreißenden Eisen sich spaltete – Vorgefühle, die früher seine Brust mit grimmiger Wonne erfüllt halten, besaßen jetzt keine Reize mehr für ihn. Er fühlte, daß er ein anderer Mann geworden war, und freute sich darüber.

Langsam und nachdenklich schritt er auf dem Sterngange hin und her. Der Mond stand hoch am Himmel und warf einen einzigen, glänzenden, breiten Strahl, welcher von dem einen Ende des Horizonts bis zu dem andern ging, auf die sich kräuselnden Wellen. In gleicher Linie bewegten sich majestätisch die schwimmenden Besten, welche seinen Befehlen gehorchten – den Befehlen des armen gebrechlichen Greisen – auf dem Wasser dahin. Der Commodore fand etwas Erhabenes in der Idee seiner physischen Schwäche. Sein Wille reichte zu, um jene ungeheuren Maschinen mit ihren Tausenden von Menschen, welche in jeder körperlichen Beziehung ihm überlegen waren, zu eifrigem, schnellem Gehorsam zu veranlassen. Aber dieser Gedanke war in jener Nacht keine Frucht seiner Eitelkeit.

Weit ab von dem Luvbuge des Donnerkeils, glänzend weiß, deutlich und sehr lieblich anzusehen, lag die Fregatte seines Neffen, und eine Achtzehnkanonenbrigg folgte ihrem Kielwasser wie ein weißgekleideter Page, welcher einer Königin nachtritt. Diese Schiffe standen dem Feinde viel näher, als die seines eigenen Geschwaders.

Auch die Franzosen ließen sich mit Bestimmtheit unterscheiden; sie standen unter Gemachsegeln, hielten ihren Wind, und erschienen, wie eine lange Linie dunkler, aber kleiner Schatten am Horizont. So oft jedoch eines der Fahrzeuge unter dem Monde hinzog, kleidete es sich plötzlich in eine weiße Glorie, um dann wieder in einen bloßen Schatten überzugehen. Es war in der That ein Anblick, der verdient hätte, durch den Pinsel Stanfields, dieses Fürsten unter den Malern, festgehalten zu werden.

Die friedliche, lautlose Sommernacht übte einen großartigen Eindruck. Auch Sir Octavius hatte den gewöhnlichen Seemannsantheil von Aberglauben, und Stunde und Ort waren so ganz geeignet, der Phantasie die Oberherrschaft über den Verstand einzuräumen. In solch' einer Stunde scheint die Seele über die gewöhnlichen Eintheilungen der Zeit zu lachen und hat die Macht, die Ereignisse von Jahren in einen einzigen Augenblick zusammenzudrängen. Sir Octavius durchlief rasch die Vorfallenheiten seines Lebens, bis er zu dem Momente kam, der seinen geliebten Neffen in die verschlingenden Wogen geschleudert hatte. Dann kam ein Düster über ihn, und der Mond leuchtete ihm nicht mehr mit der früheren Herrlichkeit; die Strahlen desselben, welche mit den leichten Wellen spielten, däuchten ihm bleich und kränklich – kurz Alles hatte in seinen Augen plötzlich einen leichenhaften Anblick gewonnen. Er blieb regungslos mitten auf dem Gange stehen, schlug an seine Brust und rief:

»Ist der Mord jenes Knaben gegen mich aufgezeichnet? Möge Gott mir vergeben!«

Mit einem seltsamen Gefühle blickte er nach dem wirbelnden Wasser hinunter, das an dem Ruder und um die Puttingen Blasen aufwarf, als erwarte er, den Ertrunkenen wieder zu sehen, obschon er sich auf einem ganz anderen Schiffe und an einem völlig fernen Orte befand.

Nachdem der Greis eine Weile niedergeschaut hatte, wandte er sich schaudernd ab. Sein Herz sehnte sich nach einer Zwiesprache mit dem Geiste des Jünglings, und er würde denselben freudig bewillkommt haben, wenn er ihn hätte über das Wasser kommen sehen. Ja, er betete sogar darum, obschon es vielleicht eine vermessene Bitte war.

Sein nächster Gedanke war, nach dem Kaplan zu schicken, denn er war leider kaum im Stande, seine Gefühle in eine andere Gebetsform zu bringen, als in jenen Ausruf des Zöllners: »Herr, sei mir Sünder gnädig!« Aber bis jetzt hatte Sir Octavius den Charakter des ehrwürdigen Gentlemans noch nicht kennen gelernt, weshalb er sich scheute, seinen geheimen Kummer vor ihm auszuschütten. Schade, daß der Commodore nicht wußte, wie alle seine damaligen Gedanken Gebete waren, und jeder Entschluß, den er in jener Nacht faßte, als angenehmer Weihrauch zu dem Throne der Gnade aufstieg; auch gereichten sie ihm größtentheils zu einem unendlichen Troste.

»Wenn dieser Mord an meiner Schwelle niedergelegt werden soll,« sprach er halblaut vor sich hin, »so möge Gott mir elenden Sünder barmherzig sein! Ich will gut zu machen suchen, was ich kann. Morgen, wenn wir das französische Admiralschiff entern, soll der erste Mann den ich treffe im Namen des armen Augustus niedergehauen werden.«

Dann empfahl er seine Tochter dem Schutze des Himmels, rief ein kurzes Stoßgebet für die Wiedergenesung seiner Schwester, die er für wahnsinnig hielt, und legte sich mit den Kleidern in seine Hängematte, um bis zum Morgengrauen so friedlich zu ruhen, wie die Sommersonne auf einem Beete von Maaßliebchen.


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