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Erster Teil

1.

André Lhéry, der bekannte und beliebte Romandichter, durchforschte mit einer gewissen Lässigkeit seine soeben eingetroffene Briefpost. Es war an einem bleichen Frühlingsmorgen an der Küste des Biscayischen Meerbusens, in dem kleinen Häuschen, das er, einer seiner Launen folgend, seit Beginn des vergangenen Winters bewohnte.

»Viele Briefe heute morgen,« seufzte er, »zu viele!«

Dabei war er an den Tagen, an denen der Postbote ihm weniger Briefe brachte, noch weniger zufrieden, denn er glaubte dann von der ganzen Welt vergessen zu sein. – Größtenteils waren es Briefe von Frauen; einige mit Namensunterschrift, andere ohne eine solche; alle aber streuten dem berühmten Schriftsteller vollauf den Weihrauch ihrer geistigen Verehrung. Meistens begannen sie mit den Worten: »Sie werden gewiß sehr erstaunt sein, mein Herr, die Handschrift einer Frau zu sehen, die Sie nicht kennen?« ... »Erstaunt?« sagte sich André dann, über diesen Eingang lächelnd. O nein! Schon seit langer Zeit erstaunte er über nichts mehr. Keine neue Korrespondentin, die sich einbildete, die einzige in der ganzen Welt zu sein, die einen so gewagten Schritt zu tun die Kühnheit habe, unterließ es jemals zu sagen: »Meine Seele ist eine Schwester der Ihrigen; niemand, ich kann es Ihnen versichern, hat Sie jemals so verstanden wie ich!«

Hierüber lächelte André nicht, trotz der Häufigkeit solcher Versicherung. Er war davon vielmehr gerührt. Denn das Bewußtsein seines Einflusses auf so viele in der ganzen Welt zerstreute menschliche Wesen, mit denen er wohl niemals zusammenkommen würde, das Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit hinsichtlich deren geistiger Entwicklung machte ihn häufig nachdenklich. Auch befanden sich unter jenen Briefen zuweilen so offenherzige, vertrauensvolle, wahrhafte Hilferufe an einen mitfühlenden älteren Freund oder Bruder, auf dessen Teilnahme die Schreiberin hoffte.

Solche Briefe legte André Lhéry sich beiseite, nachdem er die andern, mit abgeschmackten Redensarten und faden Schmeicheleien angefüllten Stilübungen dem Papierkorbe überantwortet hatte. Jene beiseite gelegten Briefe beabsichtigte André gelegentlich zu beantworten. Leider aber fehlte es ihm dazu häufig an Zeit, und die armen Briefchen häuften sich von Tag zu Tag aufeinander, um endlich ganz in Vergessenheit zu geraten.

Unter den mit heutiger Post angekommenen Briefen befand sich einer aus der Türkei, der den Poststempel »Stambul« trug, ein Name, der auf André stets einen tiefen Eindruck machte. Das einzige Wort »Stambul« übte auf ihn eine zauberhafte Wirkung aus. Bevor er noch den Umschlag des Briefes öffnete, der möglicherweise ganz gleichgültigen Inhalts war, überließ André sich noch einige Zeit dem sonderbaren, ihm selbst unerklärlichen Schauer, der ihn jedesmal ergriff, wenn Stambul in seiner Erinnerung auftauchte. Und wie so oft in seinen Träumen, trat auch jetzt das Bild jener Stadt vor seine Augen. Aus allem, was er gesehen, leuchtete Stambul hervor, die Stadt der Minaretts, die Majestätische, Einzige, Unvergleichliche.

Einige fünfzehn Jahre früher hatte André Lhéry unter seinen ihm persönlich unbekannten Korrespondentinnen einige schöne Müßiggängerinnen der türkischen Harems. Manche von ihnen zürnten ihm, andere liebten ihn, wenn auch mit Gewissensbissen, weil er in einem Werke seiner Jugendzeit die Abenteuer erzählt hatte, die er mit einer ihrer Schicksalsgenossinnen gehabt. Sie schickten ihm heimlich vertrauliche Mitteilungen, die in fehlerhaftem Französisch geschrieben, aber gutgemeint waren und durch ihren naiven Ton einen großen Reiz ausübten. Nachdem einige Briefe ausgewechselt waren, schwiegen die Korrespondentinnen jedoch und hüllten sich in ein undurchdringliches Geheimnis. André öffnete endlich den Brief und begann darin zu lesen; aber bald sagte er sich achselzuckend: Die Schreiberin wolle sich wohl lustig über ihn machen? Ihre Schreibweise war zu modern; ihr Französisch zu rein und zu gewandt. Obwohl sie den Koran erwähnte, sich Zahide Hanum nannte und eine Antwort poste restante erbat, unter Anempfehlung von Vorsichtsmaßregeln, als sei ein Ueberfall der Rothäute zu befürchten –, so schien es doch unzweifelhaft, daß die Briefschreiberin eine Pariserin war, die sich zurzeit in Konstantinopel aufhielt; vielleicht die Frau eines Gesandtschaftsattachés, oder allenfalls eine in Paris erzogene Levantinerin.

Indessen übte dieser Brief einen so großen Reiz auf André aus, daß er ihn sofort beantwortete. Er wollte der Dame wenigstens seine Kenntnis der muselmanischen Welt beweisen und ihr in höflicher Form sagen: »Sie, Madame, eine Türkin? O nein! Das kann man mir nicht vorreden!«

Der Reiz jenes Briefes war unbestreitbar, und André hatte bis zum folgenden Tage, das heißt, bis er wie gewöhnlich aufhörte, daran zu denken, das dunkle Gefühl, als begönne etwas in seinem Leben, das eine Folge haben werde, eine Folge von Süßigkeit, ... aber auch von Gefahr und von Trübsal!

Dieser Brief schien fast wie ein Ruf aus der Türkei an den Mann, der jenes Land einst so sehr geliebt hatte, aber seit langer Zeit nicht dorthin zurückgekehrt war.

Der Meerbusen von Biscaya erweckte an jenem unfreundlichen Apriltage mit seiner fast winterlichen Beleuchtung in André eine unerträglich melancholische Stimmung. Das mattgrüne Meer, seine unaufhörlich heulenden Schlagwellen, die ihre ungeheuren Wassermengen gewaltsam gegen das Ufer schleuderten, gewährten einen imposanten, aber auch beunruhigenden Anblick.

Wie anders erschien dagegen dem Träumenden das in seiner Erinnerung auftauchende Marmarameer! So lieblich und einlullend, mit dem Mysterium des Islams rund um die Ufer!

In Stambul war die ehrwürdige Vergangenheit noch überall zu finden: im Schatten der hohen Moscheen, im Schweigen der Straßen, in den endlosen Reihen der Friedhöfe, auf deren Gräbern abends die kleinen gelben Flammen für die Seelen der Verstorbenen zu vielen Tausenden entzündet werden.

Nach dem zauberhaften Schauspiel der Levante ... was gibt es Rauheres und Düsteres als den Golf der Gascogne? »Weshalb verweile ich denn hier, anstatt dort zu sein? Welcher Unverstand, hier die mir zugeteilten Tage meines Lebens zu zählen, während dort das Land des Entzückens winkt, wo man das Entfliehen der Zeit vergißt!« Aber doch –: hier an der Küste des düsteren Golfes hatten Andrés Augen sich dem Weltschauspiel geöffnet, hier war er zum Bewußtsein seiner selbst gekommen. Er hatte deshalb auch dieses Land trotz alledem liebgewonnen, und er wußte, daß ihm manches fehlen werde, wenn er sich anderwärts befinden würde. – André Lhéry empfand an diesem Aprilmorgen das unheilbare Leiden von neuem, ein Nomade auf dem ganzen Erdball zu sein. Mein Gott! mußte er denn hier und dort sein Vaterland suchen: sein eigenes, und dann das andere, sein Vaterland des Orients?


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