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17.

Auf dem alten Friedhofe, dort hinten, vor den Mauern von Stambul, war die Wiederherstellung des einfachen Grabes vollendet, dank der Mithilfe türkischer Freunde; und André Lhéry, der nicht gewagt hatte, sich an jenem Orte zu zeigen, solange die Marmorarbeiter mit der Aufstellung der Marmorplatten beschäftigt waren, – wollte heute, am Dreißigsten des wunderschönen Monats Mai, der kleinen Toten unter ihrer erneuten Grabstätte seinen ersten Besuch machen.

Bei seiner Ankunft in dem Gräberwäldchen erblickte er schon von weitem das heimlich ausgebesserte Grab, das einen Glanz der Neuheit hatte, inmitten all der grauen Verfallenheit ringsumher. Die beiden Marmorschäfte, der eine am Kopfende, der andere am Fußende, standen in weißer Sauberkeit fest und aufrecht da unter den mit Moos bewachsenen, mehr oder weniger eingestürzten Grabstätten in der Nachbarschaft. Man hatte auch den blauen Anstrich zwischen den Buchstaben der Inschrift erneuert, die jetzt in hellem Gold hervortrat; sie lautete außer einem kurzen Verse über den Tod in türkischer Sprache:

»Betet für die Seele von Nedjibe, Tochter von Ali-Djianghir Effendi, gestorben am 18. Moharrem 1297.«

Tief ergriffen stand André Lhéry lange Zeit an diesem Grabe, der Vergangenheit gedenkend. Das gute Kind, dessen irdische Hülle nun schon seit so vielen Jahren hier ruhte, hatte ihn einst, davon war er überzeugt, wahr und aufrichtig geliebt, und auch er war sich bewußt, nur ihr angehört zu haben. Sie war seine Jugendliebe gewesen, der er sein ganzes Leben hindurch, bis zur Stunde, ein treues Andenken bewahrte. Und das sollte, das würde niemals anders werden!

Mit diesem stillen Gelöbnis wandte er sich zum Gehen, nachdem er noch einmal den ganzen Friedhof überblickt, der in seiner durch nichts gestörten, überwältigenden Ruhe heute einen unvergeßlichen Eindruck auf ihn machte, so daß es ihm schwer wurde, diese Ruhestätte so vieler, ihrem Glauben unverbrüchlich treu gebliebener Menschen zu verlassen.

Als er endlich ging, empfand er in seinem Innern eine große Beruhigung darüber, daß es endlich geglückt war, jene Grabstätte wieder instand zu setzen. Er hatte schon längst deren Verfall befürchtet; dieser Gedanke und der Wunsch, das Grab, wenn nötig, wieder herstellen zu lassen, hatte ihn niemals während seines ganzen bewegten Lebens verlassen.

Jetzt nun war jener Wunsch erfüllt, und das ihm so heilig gewordene Grabmal glaubte er für alle Zukunft als sein Eigentum betrachten zu können.

Allmählich hatte sich der Tag geneigt, aber da die Luft sehr milde war und der Abend unter dem Schein des vollen Mondes wunderbar schön zu werden versprach, so beschloß André Lhéry, sich nach Stambul zu begeben und den ihm schon zur Gewohnheit gewordenen Platz gegenüber der Moschee des Sultan-Fatih einzunehmen. Als er dort anlangte, war es völlig dunkel geworden, und alle die kleinen Kaffeehäuser, die den großen Platz umgaben, hatten ihre Lampen und die an den Bäumen hängenden Laternen bereits angezündet, und alle Bänke vor den Häusern waren durch die beturbanten Raucher und Träumer besetzt. Zwischen diesen setzte auch André sich nieder, rauchte das ihm als Stammgast alsbald überbrachte Nargileh, erfreute sich an dem wunderbar schönen Mondschein und verfiel dann ebenfalls zeitweise in süße Träumereien wie seine Nachbarn. – Diese harmlosen, ruhigen Leute waren ersichtlich sehr zufrieden mit ihrem Schicksal und wünschten sich gar nichts Besseres. – – – – – – –

Zu dieser nämlichen Stunde beginnt in Pera, der auf der anderen Seite des Goldenen Horns liegenden, sogenannten »Europäischen Stadt«, das eigentliche Leben der Nacht. Dort begeben sich Levantiner aller Rassen, die sich rühmen, sehr gebildet zu sein und eine aufgeklärte, feine Lebensweise zu besitzen (wegen ihrer Pariser Kleidung) .. an ihre allabendliche Beschäftigung. Sie lassen sich in den Wein- und Bierhäusern nieder oder in Kneipen schlimmster Gattung, wo es sehr heiter, aber auch sehr lärmend zugeht. Ueberall wird viel getrunken, gesungen, gespielt und getanzt. Die vornehmeren jungen Leute, oder die sich dafür ausgeben, sitzen an den Spieltischen und verlieren dort ihr Geld; oder sie besuchen die Cercles de la haute élégance Pérote! – Bedauernswerte, alberne oder verächtliche Menschen, die nur an Zerstreuung und Vergnügen denken, unfähig zu ernster oder gar geistiger Beschäftigung; von ihrer Moralität gar nicht zu sprechen! –

Welcher Unterschied zwischen ihnen und den stillvergnügten Träumern und frommen Mohammedanern, die vor der Moschee des Sultan-Fatih jetzt geduldig auf den Ruf des Muezzin zum Abendgebet warten, um sich vertrauensvoll vor Allah niederzuwerfen und ihr Gebet zu verrichten. – Und ist einst ihre Zeit gekommen, werden sie getreu ihrem Glauben in voller Seelenruhe aus dem irdischen Leben scheiden. –

Nun beginnt der rufende Gesang von der Höhe der Minaretts herab in vollster Deutlichkeit. Man verliert nicht einen Ton, jedes der gesungenen Worte ist genau zu verstehen.

Diesem Rufe folgend, erheben sich die Träumer langsam, einer nach dem andern, und begeben sich ebenso langsam nach der heiligen Pforte der Moschee, in die sie allmählich eintreten. Von allen Seiten kommen andere beturbante Beter langsam und bedächtig wandelnd herbei. Und während der Gesang von den Minaretts unablässig ertönt, bilden die in die Moschee Eintretenden eine lange, ununterbrochene feierliche Prozession. –

Nachdem alle eingetreten waren, erhob sich auch André Lhéry und begab sich zum Eingangstor; als letzter trat er in die Moschee und fühlte sich als der Unwürdigste, denn er kam ja nicht um zu beten! – Im Innern blieb er dicht an der Pforte stehen. Zweitausend Turbane aus weißem Musselin waren anwesend, die sich in mehreren Reihen dicht nebeneinander aufgestellt hatten, die Gesichter dem Allerheiligsten zugewendet.

Und eine Stimme schwebte über der schweigenden Menge, eine schwermütig singende, klagende Stimme, die in hoher Tonlage, ebenso deutlich wie die des Muezzins draußen, die Worte zu Gehör brachte. Die Stimme schien zuweilen vor Erschöpfung hinzusterben, belebte sich jedoch bald wieder und wuchs dann zu einer Gewalt an, daß ein Schauer den hohen Kuppelbau durchbebte, zog sich dann aber wieder hin und erlosch allmählich wie im Todeskampf, erstarb scheinbar, aber nur um wieder zu erwachen und von neuem zu beginnen. Diese Stimme ist es, die alle jene Zweitausende in ihrer Andacht leitet. Zuerst knien sie nieder, dann beugen sie sich tiefer hinab und werfen sich endlich vollends zur Erde, die Stirn mit dem Fußboden berührend, und zwar alle zu gleicher Zeit und genau in demselben Rhythmus, wie weggemäht durch die schaurige Stelle des Gesanges und wieder erhoben durch den sanften Gesang, der zuweilen so leise wird wie ein Gemurmel, trotzdem aber den gewaltigen Raum völlig ausfüllt, der übrigens nur durch kleine Lämpchen, die an langen Schnüren von den Wölbungen herabhängen, beleuchtet wird, so daß ein förmliches Halbdunkel herrscht. Das benutzen denn auch die zahmen Tauben, die im oberen Teil der Kuppel nisten, zu einem kleinen Ausflug über den Köpfen der Betenden, die sie in der Runde sanft umschweben, ohne dadurch die Feierlichkeit irgendwie zu stören. Die Inbrunst der Betenden ist so tief, ihr Glaube so stark, daß man ihr gemeinsames Gebet zu hören meint, wenn sie ihre Köpfe beugen unter dem aus der Höhe kommenden sanften Gesang:

Mögen Allah und der Kalif das religiöse, treue und gute türkische Volk beschützen! Eines der edelsten der Welt, besitzt es Kraft und Mut, um die größten Heldentaten auf den Schlachtfeldern zu vollbringen, wenn das Vaterland, der Islam oder der Glaube in Gefahr käme! – – – –

Nach beendigtem Gebet kehrte André Lhéry ebenso wie seine vorigen Genossen nach seinem Sitz vor dem kleinen Kaffeehause zurück, um bei dem wundervollen Mondschein noch ein wenig im Freien zu rauchen. Er dachte mit Genugtuung an das wiederhergestellte Grab, das in diesem Augenblick ebenfalls vom Monde beschienen sein würde. Und da sagte er sich, daß er jetzt, nachdem er somit seine Pflicht erfüllt hatte, dieses Land verlassen könnte, weil er sich ja anfangs vorgenommen, nur so lange hier bleiben zu wollen, bis jene Herstellung bewirkt sein werde.

Doch nein! Der Reiz des Orients hatte sich nach und nach wieder seiner bemächtigt; ... auch wollte er erst die Rückkunft der drei kleinen Geheimnisvollen abwarten, die wohl schwerlich während des ganzen Sommers da draußen verbleiben würden. – Anfangs hatte er sich Gewissensbisse über das Abenteuer gemacht wegen der vertraulichen Gastfreundschaft, die seine türkischen Freunde ihm gewährten; jetzt empfand er jedoch nichts mehr davon. Er sagte sich: »Im Grunde verletze ich dadurch die Ehre keines einzigen von ihnen! Zwischen dieser Djenane, die noch so jung ist, daß sie meine Tochter sein könnte, und mir, der sie noch nicht einmal gesehen hat und ohne Zweifel auch nie sehen wird, ... wie könnte da wohl von einer wie von der anderen Seite irgend etwas anderes bestehen als eine schöne unschuldige Freundschaft?« ...

Gerade heute hatte er von ihr einen Brief erhalten, der die Sache ein für allemal klarlegen dürfte.

Er hatte den Brief bei sich und nahm ihn aus der Tasche, um ihn beim Licht einer am nächsten Baum hängenden Lampe nochmals ruhig zu lesen. Sie schrieb aus dem großmütterlich-altmodisch-verzauberten Schloß:

»An einem Tage der übelsten Laune und der schlimmsten moralischen Einsamkeit, empört über die unzerstörbare Schranke, gegen die wir uns Tag für Tag auflehnen, dir uns aber vernichtet, zogen wir mutig hinaus zur Entdeckung einer Persönlichkeit, die Sie wohl sein konnten. Daraus, aus Kampflust und Neugier, entstand unser erster Wunsch nach einer Zusammenkunft.

Wir begegneten einem ganz anderen André Lhéry als wir ihn uns gedacht hatten. Und jetzt? Den ›wahren André Lhéry‹, den Sie uns kennen zu lernen erlaubten, werden wir nimmermehr vergessen! ... Indessen man muß diese Worte erklären, denn von einer Frau zu einem Manne gesagt, klingen sie fast wie eine fade Schmeichelei. Wir werden Sie nicht mehr vergessen, weil wir durch Sie kennen lernten, was den Reiz des Lebens der abendländischen Frauen ausmacht: die geistige Berührung mit einem Künstler! ... Wir werden Sie niemals vergessen, weil Sie uns einige herzliche Sympathie erwiesen haben, ohne noch zu wissen, ob wir schön sind oder alte Masken. Sie haben sich für den besseren Teil von uns selbst interessiert: für unsere ›Seele‹, die unsere Gebieter bisher immer als unwichtig erachtet hatten. Sie haben uns durchblicken lassen, wie wertvoll die reine Freundschaft eines Mannes sein könnte!« ...

»Das war es also, was sie sich gedacht hatte,« sagte sich André Lhéry, »einen niedlichen ›Seelenflirt‹, nichts weiter; einen Seelenflirt mit viel Gefahr dabei, äußerer Gefahr natürlich, keiner moralischen! ... Und alles bliebe weiß wie Schnee, ... weiß wie jene Dome der Moschee im Mondschein!«

Die Fortsetzung des Briefes lautete:

»Und jetzt, da wir Sie nicht mehr haben, ... welche Traurigkeit, wieder in unsere Erstarrung zurückzufallen! .. Gestattet Ihnen Ihre so glänzende, an Abwechslung so reiche Lebensweise, die unserige zu begreifen, die so öde, so einförmig durch die Jahre hinschleicht, ohne eine Erinnerung zurückzulassen?! – Wir wissen stets im voraus, was der morgige Tag uns bringen wird: nichts! ... Und daß alle folgenden Tage, bis zu unserem Tode, mit der gleichen öden Einförmigkeit hinschleichen werden.

In den Romanen, die wir aus Europa erhalten, findet man immer Leute, die am Abend ihres Lebens ihre verlorenen Illusionen beweinen; also haben sie wenigstens welche gehabt; sie haben wenigstens den Rausch empfunden, hinauszuziehen in den Wettkampf um ein schönes Spiegelbild! ... Während wir? ... Man hat uns niemals die Möglichkeit gelassen, eine solche Illusion zu haben, ... weder eine Illusion noch ein Ideal! ...

O, wieviel schmerzlicher empfinden wir dies, seit wir Sie kennen lernten!

Welch köstliche Stunden waren es, die wir in Ihrer Gesellschaft in jenem alten Hause im Stadtteil Sultan-Selim zubringen durften! Für uns ging dort ein Traum in Erfüllung, den ich seit Jahren hegte: André Lhéry für uns allein zu haben, von ihm behandelt zu werden wie denkende Wesen und nicht wie Puppen, ja sogar ein wenig wie Freundinnen, so daß er vor uns geheime Saiten seiner Seele enthüllte.

Jetzt aber wollen wir Ihnen in voller Aufrichtigkeit und Herzenseinfalt einen Vorschlag machen. Als wir Sie neulich von dem Grabe sprechen hörten, das Ihnen so wertvoll ist, hatten wir alle drei den gleichen Gedanken, den ein Gefühl der Furcht uns hinderte, auszusprechen. Wir wagen es jetzt aber, dies brieflich zu tun. Wenn wir wüßten, wo das Grab Ihrer Freundin sich befindet, könnten wir zuweilen dorthin gehen, um zu beten ... und sobald Sie abgereist sein werden, darauf acht zu geben und Ihnen von Zeit zu Zeit Nachricht darüber zu geben. Vielleicht würde es Ihnen angenehm sein, zu denken, daß jenes Fleckchen Erde, wo ein Teil Ihres Herzens schläft, nicht nur von Gleichgültigkeit umgeben ist? – Und wir würden so glücklich sein über dieses einigermaßen wirkliche Band mit Ihnen, wenn Sie fern sein werden. Die Erinnerung an Ihre frühere Freundin würde vielleicht auch Ihre jetzigen Freundinnen davor behüten, vergessen zu werden! Und in unseren Gebeten für die, welche Sie einst lehrte, unser Vaterland zu lieben, werden wir auch für Sie beten, dessen Herzenstrauer wir sehr wohl erkannt haben! ... Wie sonderbar, daß ich wieder angefangen habe, irgend etwas zu hoffen, seitdem ich Sie kennen lernte, ... ich, die ich keine Hoffnung mehr kannte! ... Habe ich denn nötig, Ihnen ins Gedächtnis zurückzurufen, daß man nicht das Recht hat, seine Erwartung und sein Ideal auf das irdische Leben zu beschränken? ... Einer solchen Ermahnung bedürfen Sie doch nicht, der Sie gewisse Seiten Ihrer Bücher geschrieben haben!

Djenane.«

*

André Lhéry hatte schon seit langer Zeit gewünscht, das Grab Nedjibes irgend jemand empfehlen zu können, der sich darum kümmern und es pflegen würde; er hatte dabei den allerdings schwer ausführbaren Plan gehabt, diese Pflege einer Türkin anzuvertrauen, einer durch die Rasse und den Islam der Verstorbenen Verwandten. Mithin berührte ihn Djenanes Vorschlag nicht nur sehr angenehm, sondern er übertraf sogar seine kühnsten Hoffnungen und beruhigte sein Gewissen hinsichtlich der Grabstätte vollkommen.

Und in dieser wundervollen Nacht, die ihn so beschaulich stimmte, sann er nach über die Vergangenheit und die Gegenwart. Bisher schien es ihm immer, daß zwischen der eigentlich recht kindischen ersten Phase seines Lebens im Orient und der gegenwärtigen zweiten die Zeit einen Abgrund gegraben habe. Heute abend jedoch war einer der Augenblicke, wo er sie einander völlig genähert fand, wie in einer ununterbrochenen Reihenfolge. Indem er sich noch so lebensfrisch und jung fühlte, während die kleine Zirkassierin schon lange tot und ihr Körper längst zu Asche geworden war, empfand er abwechselnd tiefe Gewissensbisse, und dagegen wieder, im Bewußtsein seiner ungebrochenen Lebenskraft und seiner Jugendlichkeit, ... fast das Gefühl eines selbstsüchtigen Triumphes.

Zum zweitenmal an diesem Abend stellte er in seinen Gedanken beide nebeneinander: Nedjibe und Djenane: sie waren aus demselben Lande, beide Zirkassierinnen; die Stimme der einen hatte ihm zu verschiedenen Malen die Stimme der anderen ins Gedächtnis gerufen; gewisse türkische Worte sprachen beide ganz gleichmäßig aus.

Plötzlich bemerkte er, daß es schon sehr spät sein müsse, denn er hörte von der Nebenstraße her das Schellengeläute der Maulesel, die vor die Wagen der Gemüsegärtner gespannt sind, die ihre Erzeugnisse in Gemüsen, Früchten und Blumen schon in der Nacht aus der Umgegend zur Stadt bringen, wo die Frauen aus dem Volk, mit den weißen Schleiern, schon sehr früh am Morgen in der Nähe der Moscheen ihre Einkäufe machen.

André Lhéry blickte umher und sah, daß er der einzige und letzte Raucher auf dem großen Platze war. Fast alle Laternen vor den Kaffeehäusern waren bereits ausgelöscht; und ein junger Bursche stand hinter ihm, an einen Baum gelehnt, und wartete ganz geduldig, bis der Gast aufhören würde zu rauchen, um alsdann das Nargileh forttragen und seine Tür schließen zu können. Es war gegen Mitternacht. André Lhéry erhob sich, um hinabzugehen nach den Brücken des Goldenen Horns und sich nach dem anderen Ufer zu begeben, wo er wohnte. Selbstverständlich war zu so später Stunde kein Wagen mehr zu finden; er mußte sich also entschließen, den weiten Weg zu Fuß zurückzulegen, der durch das ganze Alt-Stambul führte. Der verspätete einsame Wanderer kam dabei durch viele enge, winkelige Gassen, wo sich ein Fremder nimmermehr zurechtfinden konnte; André kannte jedoch diese Gegend ganz genau. Auch an einigen Moscheen kam er vorüber und an mehreren Friedhöfen, auf deren Gräber die Lämpchen mit den kleinen gelben Flammen brannten. Wie überall, so standen auch auf diesen Friedhöfen hier und da dicht an den Straßen Marmorkiosks mit Fenstern, durch die man die reichausgestatteten Katafalke mit den Paradesärgen, durch Lampen schwach beleuchtet, erblicken konnte. – In den öden Straßen herrschte überall peinliche Stille; auf dem Steinpflaster schliefen, zu Kugeln zusammengerollt, herrenlose Hunde in ganzen Rudeln. Die türkischen Hunde sind ebenso gutmütig wie die Muselmanen, die diesen Tieren volle Freiheit lassen und sich nicht einmal ernstlich erzürnen, selbst wenn sie von ihnen belästigt werden.

Eine förmliche Totenstille lagert über dem ganzen Stadtteil; man hört keinen Laut, höchstens in langen Zwischenräumen das Aufstampfen des Wächters mit seinem eisenbeschlagenen Stabe.

Alt-Stambul, mit allen seinen Grabmälern, schläft sanft in seinem religiösen Frieden ..., in dieser Nacht, wie in jeder, seit mehr als dreihundert Jahren.


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