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3.

Das letzte Frühstück der jungen Braut im Hause ihrer Familie verlief sehr schweigsam zwischen den beiden einander bitter feindseligen Frauen: ihrer strengen Großmutter und Mademoiselle Bonneau.

Gleich nach Beendigung des Mahles zog sich das junge Mädchen in ihr Zimmer zurück.

Während dieser letzten Stunden, die ihr noch übrig blieben, wollte sie sich vorbereiten wie zum Tode, indem sie ihre Papiere ordnete und tausend kleine Erinnerungszeichen verbrannte, aus Furcht vor den Blicken des ihr noch gänzlich unbekannten Mannes, der morgen ihr Gebieter werden sollte. Ihre Seelenqual war ohne Hilfe, und ihre Angst wie ihre Empörung wuchsen fortwährend. –

Sie setzte sich vor ihren Schreibtisch, das brennende Wachslicht vor sich hinstellend, an dem sie alle die Briefchen zu verbrennen beabsichtigte, die in den Fächern des Tisches schlummerten: zumeist Briefe von Freundinnen, die sich vor längerer oder kürzerer Zeit verheiratet hatten.

Die Briefe waren teils in türkischer, teils in französischer, deutscher oder in englischer Sprache geschrieben, aber alle waren vergiftet von dem allgemeinen Pessimismus, der gegenwärtig die Harems der Türkei verheert. Das junge Mädchen durchlas einige der Briefe, zögerte dann einen Augenblick, trübe nachsinnend, näherte jedoch schließlich die Blätter der Flamme, die sie in kurzem Aufflackern vernichtete. Und ebenso erging es all den geheimen Gedanken der unglücklichen schönen jungen Frauen, ihren Klagen und Verzweiflungsrufen. Alle verwandelten sich in Asche, die sich in einem kupfernen Brasero ansammelte, dem einzigen orientalischen Möbelstück dieses Zimmers.

Nachdem alle Schubfächer geleert waren, blieb noch eine, mit einem goldenen Verschluß versehene große, elegante Schreibmappe übrig, die mit vielen, in französischer Sprache engbeschriebenen Blättern angefüllt war. Sollte sie diese auch verbrennen? ... Nein, dazu fühlte sie wahrlich nicht den Mut in sich. Denn diese Blätter enthielten die ganze Geschichte ihres Lebens, sie bildeten ein geheimes Tagebuch, das sie an ihrem dreizehnten Geburtstage begönnen – dem düsteren Tage, an welchem sie, wie man dort sagt, den »Tcharchaf« genommen, um dadurch für immer das Gesicht vor der Außenwelt zu verbergen, sich hinter hohen Mauern zu verschließen und eines der unzähligen schwarzen Gespenster Konstantinopels zu werden.

Nichts aus der Zeit vor jener Schleiernahme war in diesen Tagebuchblättern enthalten. Nichts aus ihrer Kindheit als halbwilde kleine Prinzessin, dort hinten, in der Tiefe der Ebenen Zirkassiens, in den verlorenen Landstrichen, in denen ihre Familie seit zwei Jahrhunderten gewohnt. Auch nichts aus ihrem Leben als vornehmes, kleines Mädchen, als in ihrem elften Lebensjahre sich ihr Vater mit ihr in Konstantinopel niederließ, wo er von Seiner Majestät dem Sultan den Titel Hofmarschall erhielt. Das war ein Zeitabschnitt wundervoller Ueberraschungen. Außerdem galt es, Unterrichtsstunden zu nehmen und eifrig zu studieren. Während zweier Jahre sah man sie auf allen Festen, bei den Tennisspielen, auf den Bällen in den fremden Botschaften. Mit den geschicktesten und verwöhntesten Tänzern der europäischen Kolonie hatte sie gewalzt wie eine erwachsene junge Dame; überall eingeladen, war ihre Tanzkarte stets im Fluge mit Namen besetzt. Sie entzückte allgemein durch ihr reizendes kleines Gesichtchen, durch ihr graziöses Benehmen, ihre luxuriösen Toiletten, sowie durch die ihr eigentümliche, unnachahmliche Art, gleichzeitig sanft und verletzend, sehr schüchtern und sehr hochmütig zu sein.

Dann aber, eines schönen Tages, auf einem von der englischen Botschaft für die Jugend gegebenen Ball, fragte man allgemein: »Wo ist denn die kleine Zirkassierin?« Und ihre Landsleute antworteten: »Wußten Sie denn nicht, daß sie den Tcharchaf genommen hat?« – Man würde sie also nie mehr wiedersehen; und wenn sie in einem geschlossenen Wagen an einem zufällig vorbeifahren sollte, so würde sie nichts sein als eine unförmige schwarze Puppe, durchaus unerkennbar. Tot für die große Welt.

Mit ihrem vollendeten dreizehnten Lebensjahre war sie also, der unbeugsamen Vorschrift gemäß, in die Welt der Verschleierten eingetreten, die in Konstantinopel abseits von der anderen Welt leben. Jene Verschleierten, die man auf der Straße nicht anblicken darf, müssen sich, sobald die Sonne untergeht, in ihre Häuser mit den vergitterten Fenstern begeben. Von dort aus sowohl als auch auf der Straße durch ihre Schleier sehen, beobachten und bespötteln sie so manches, und was sie nicht sehen, erraten sie und stellen es sich in ihren Vorstellungen zusammen.

Das junge Mädchen, mit dreizehn Jahren plötzlich eine Gefangene, lebte nun zwischen einem Vater, der fast immer im kaiserlichen Palast dienstlich beschäftigt war, und ihrer auf strenge Formen haltenden, jeder zärtlichen Regung unfähigen, alten Großmutter, ganz allein in ihren großen Wohnräumen in Khassim-Pascha, in einem Stadtviertel von alten fürstlichen Palästen und ebenso alten Friedhöfen, wo in der Nacht Schweigen und Schrecken herrschte. In Ermangelung irgendwelcher Zerstreuungen hatte sich das junge Mädchen bald gänzlich und leidenschaftlich den Studien hingegeben, und darin war sie fortgefahren bis jetzt, das heißt, bis zu ihrem einundzwanzigsten Jahre. Unaufhörlich strebte sie danach, alles zu lernen und zu erforschen: außer verschiedenen Sprachen auch Literatur, Geschichte, Geographie und Philosophie. Unter ihren vielen Freundinnen, die ebenfalls hochgebildet waren, galt sie als ein Stern; man rühmte ihre Gelehrsamkeit, ihre Urteilsfähigkeit wie ihre Schlagfertigkeit. Gleichzeitig kopierte man ihre geschmackvollen Toiletten. Ganz besonders aber galt sie allen als ihre Führerin und Fahnenträgerin im Aufstand gegen die Strenge der Haremsbestimmungen.

Ihr Entschluß stand fest, das von ihr am ersten Tage des Tcharchaf begonnene Tagebuch nicht zu verbrennen. Lieber wollte sie es, fest verschlossen und versiegelt, einer zuverlässigen und unabhängigen Freundin übergeben, deren Schreibtisch nicht der Gefahr ausgesetzt wäre, von einem Gemahl durchsucht zu werden. Und wer konnte wissen, ob es ihr in Zukunft nicht möglich werden würde, die Tagebuchblätter zurückzunehmen und fortzusetzen? – War doch das Niederschreiben der Begebenheiten ihres bisherigen Lebens der einzige Schutz der armen Eingemauerten gegen Trübsinn und Verzweiflung gewesen. Und während das junge Mädchen darüber nachdachte, kam ihr der Wunsch, gleich jetzt noch eine Fortsetzung zu schreiben, um die Trauer des heutigen Tages, des letzten ihrer Unabhängigkeit, zu mildern.

Sie blieb an ihrem Schreibtisch sitzen, öffnete die Schreibmappe und nahm ihren goldenen, mit kleinen Rubinen besetzten Federhalter zur Hand. – Wenn sie bei diesen Niederschriften von Anfang an sich der französischen Sprache bediente, so geschah dies deshalb, damit weder ihre Großmutter, noch sonst jemand von den Hausbewohnern den Inhalt lesen könne. Seit etwa zwei Jahren hatte sie, einer Laune folgend, alles, was sie in ihr Tagebuch schrieb, in die Form von Briefen an einen ihr persönlich ganz unbekannten Leser gekleidet.

Allmählich hatte sie sich als diesen Leser eine in weiter Entfernung lebende Persönlichkeit gedacht: den Romandichter André Lhéry, der wohl niemals Kenntnis von dem Inhalt dieser Briefe erhalten würde! Sie hatte sich jetzt so sehr in diese Idee eingelebt, daß sie alles nur für ihn allein schrieb, indem sie sogar, vielleicht ohne es zu wollen, ein wenig seine Schreibweise nachahmte. Die Briefe waren tatsächlich an ihn gerichtet, – aber selbstverständlich nicht abgeschickt; und die kleine Schwärmerin redete ihn darin kurzweg »André« an, wie einen alten Freund oder Bruder.

Heute schrieb sie nun folgendes in ihr Tagebuch:

»18. April 1901.

Ich habe Ihnen niemals von meiner Kindheit erzählt; nicht wahr, André? ... Aber Sie sollen es erfahren, daß ich, die ich Ihnen so sehr gebildet scheine, im Grunde eine Halbwilde bin. Etwas wird immer in mir zurückbleiben von einer Tochter der freien Berge, die einst auf den wildesten Pferden einhergaloppierte, und unter Waffengeklirr oder im leuchtenden Mondschein unter dem Klingen der silbernen Gürtel tanzte.

Ungeachtet all des Glanzes der europäischen Kultur tauchen in meiner Seele häufig die Erinnerungen meiner Kindheit auf, die in mir eine gewaltige Sehnsucht erwecken. Mir erscheint aus weiter Ferne das zirkassische Dorf Karadjiamir, wo meine Familie herrschte seit ihrer Ankunft aus dem Kaukasus. Meine Voreltern waren in ihrem Vaterlande einst Khans von Kisildepe, und der damalige Sultan gab ihnen die Landschaft Karadjiamir als Lehen. Dort lebte ich bis zu meinem elften Jahre in glücklicher Freiheit. Die zirkassischen Mädchen sind nicht verschleiert, sie plaudern und tanzen mit den jungen Männern und wählen sich einen Gatten nach ihrem Herzen.« –

Soweit war sie in ihrem Schreiben gekommen, als Kondja-Gül trotz des Verbots plötzlich das Zimmer betrat mit dem Ruf: »Herrin, er ist da!«

»Wer ist da?«

»Er, der junge Bei! ... Er kam her, um mit dem Pascha, Eurem Vater, zu sprechen, und will sich nun eben wieder entfernen. Tretet schnell an Euer Fenster, da könnt Ihr ihn sehen, wenn er zu Pferde steigt!«

Die kleine Prinzessin antwortete, ohne sich zu bewegen, und mit eisiger Ruhe, über welche die gute Kondja-Gül ganz verblüfft wurde:

»Und deswegen störst Du mich? ... Ich werde diesen Mann noch früh genug sehen, ganz abgesehen davon, daß ich genötigt sein werde, ihn bis zu meinem höchsten Alter vor Augen zu haben!«

Sie sagte dies absichtlich, um vor der Dienerin zu betonen, wie gering sie ihren zukünftigen Gebieter schätze. Kaum aber hatte Kondja-Gül in größter Verwirrung das Zimmer verlassen, als die junge Braut sich eilig ans Fenster begab. Der junge Bei war soeben aufs Pferd gestiegen in seiner schönen Offiziersuniform und ritt im Trabe davon, längs der Gräber und Zypressen, gefolgt von seiner Ordonnanz. Noch hatte sie Zeit genug gehabt zu sehen, daß er einen blonden Schnurrbart hatte, fast etwas zu blond für ihren Geschmack, ... daß er aber ein hübscher Mann war und eine recht stolze Haltung hatte, Er blieb trotzdem ihr Gegner, der ihr aufgedrungene Gebieter, der niemals ihr Herz gewinnen würde!

Fest entschlossen, sich jetzt nicht weiter mit ihm zu beschäftigen, kehrte sie zu ihrem Schreibtisch zurück, obgleich ihr das Blut ein wenig in die Wangen gestiegen war, – um in ihrem Tagebuch den Brief an den unbekannten Vertrauten fortzusetzen. Und sie schrieb:

»Zu jener glücklichen Zeit war ich eine kleine Königin. Tewfik Pascha, mein Vater, und Senika, meine Mutter, liebten mich über alles, denn ihre anderen Kinder, meine Geschwister, waren gestorben. Ich galt als die Sultanin unseres Dorfes; keine andere hatte so schöne, prächtige Kleider wie ich, noch ebenso glänzende goldene und silberne Gürtel. Meine Mutter war sanft und schweigsam; mein Vater war herzensgut und niemals ungerecht. Jeder Fremdling, der durch unseren Bezirk kam und an unsere Tür klopfte, fand Einlaß und Unterkunft; war's ein Flüchtling, so bot unser Haus ihm eine Freistatt, deren Sicherheit mein Vater gegen jeden, wer es auch gewesen, verteidigt haben würde. –

Leider starb meine gute Mutter; und mein Vater, der ohne sie nicht in Karadjiamir bleiben mochte, ging mit mir nach Konstantinopel, zu meiner Großmutter.

Elf Jahre sind seitdem vergangen.

Das sorglos-heitere Kind ist ein erwachsenes Mädchen geworden, das schon viel geweint hat. Vielleicht wäre sie glücklicher geworden, wenn sie ihr früheres Leben fortgeführt hätte? ... Aber ›es stand geschrieben‹, daß sie daraus scheiden müsse, weil sie dazu bestimmt war, ein denkendes und ernstes Wesen zu werden, dessen Lebensbahn sich eines Tages mit der Andrés kreuzen sollte. – O, wer könnte uns das ›Warum‹ und den tieferen Grund dieser Begegnungen erklären, bei denen die Seelen sich, nur aneinander vorüberstreifend, berühren, und dennoch diese Berührung nie wieder vergessen können?!«

*

Sie war es überdrüssig, weiter zu schreiben. Auch hatte der Zwischenfall mit dem Bei sie verwirrt. – Was aber sollte sie unternehmen, um diesen Tag zu beendigen?

Sie begab sich in den kleinen Salon neben ihrem Schlafzimmer; dort stand ihr Piano, von dem sie Abschied nehmen wollte, denn dieses in ihre zukünftige Wohnung mitzunehmen, wurde ihr nicht gestattet. Die Mutter des jungen Beis war eine strenggläubige Mohammedanerin, eine 1320erin, wie die jungen modernen Türkinnen jene nennen, die den europäischen Kalender nicht anerkennen, sondern noch immer die Zeitrechnung nach der »Begira« anwenden. Die Mutter des Beis hatte zwar die Ueberführung der Bibliothek der Braut gestattet, nicht aber die des Pianos, das der so sehr daran Gewöhnten also in jenem Hause auf der anderen Seite des Golfs, im Herzen des alten Stambul, recht fehlen würde.

Sie setzte sich an das geliebte Instrument, und die kleinen nervösen Hände, die im Klavierspiel wunderbar geübt waren, fuhren hastig hin und her über die Tasten, allerlei Unzusammenhängendes improvisierend; bald aber begann sie eine äußerst schwierige Lisztsche Transskription Wagners zu spielen und begeisterte sich dabei so sehr, daß sie aufhörte, diejenige zu sein, die morgen den Kapitän Hamdi Bei, den Adjutanten Seiner kaiserlichen Majestät heiraten sollte, sondern sie war die Braut eines jungen Kriegers mit wallendem Haupthaar, der ein auf einer Felsspitze belegenes Schloß bewohnte, in der Finsternis der Wolken, oberhalb eines großen, schaurigen Flusses; sie hörte tatsächlich die Sinfonie der Sagen aus alter Zeit in den Tiefen der nordischen Wälder.

Als sie aber aufgehört hatte zu spielen, als alles verrauscht war in den letzten Schwingungen der Saiten, da bemerkte sie aufblickend an den schon geröteten, schrägfallenden Sonnenstrahlen, daß der Tag sich seinem Ende zuneige, und da überfiel sie plötzlich eine große Angst bei dem Gedanken: ganz allein zu sein an diesem letzten Abend – obgleich sie das ja selbst so gewünscht hatte.

Schnell lief sie zu ihrer Großmutter, ihr eine Bitte vorzutragen, die ihr auch gewährt wurde, und ebenso schnell schrieb sie an ihre Cousinen, diese wie in höchster Not bittend, um jeden Preis zu ihr zu kommen und ihr Gesellschaft zu leisten.

Schon seit einigen Tagen hatte sie selbst zu ihren Cousinen, denen sie dadurch wehe tat, über ihre schweren Sorgen geschwiegen; sie war zurückhaltend und fast hochmütig gewesen. Selbst diesen beiden gegenüber hatte sie sich ihres Seelenschmerzes geschämt; aber jetzt konnte sie sich nicht mehr beherrschen; sie wollte die treuen Freundinnen bei sich haben, um sich an ihren Schultern aus weinen zu können. –

Würden sie aber genügend Zeit haben, zu kommen? Die Sonne senkte sich, wie es schien, schneller als sonst. Die ungeduldig Wartende lehnte sich, um über die Straße sehen zu können, soweit es ihr die Fenstergitter irgend gestatteten, hinaus. Ganz Stambul und der Golf leuchteten jetzt im purpurfarbenen Abendrot, und auch dort hinten das Goldene Horn erschien rotglühend, wie der Himmel. Hunderte von Barken und kleinen Schiffen durchfurchten die Gewässer, wie das täglich geschah nach dem Schluß der Basare; und dieselben klaren singenden Stimmen ertönten wie am Mittag aus der Höhe herab, die gläubigen Osmanlis zum vierten Gebet, dem Sonnenuntergang, rufend.

Die kleine Gefangene, deren Ungeduld sich im Anblick des wunderbaren Panoramas von Stambul, des Golfs und des Goldenen Hornes bei Abendbeleuchtung ein wenig gemäßigt hatte, beunruhigte sich nun wieder um so mehr darüber, ob Zeyneb und Mélek noch rechtzeitig kommen würden. Noch schärfer als zuvor blickte sie nach dem Wege hinaus, der auf der einen Seite von den altertümlichen Palästen mit den vergitterten Fenstern, auf der anderen Seite von den romantischen Ruhestätten der Toten begrenzt wurde.

Siehe da! Dort kamen die sehnlich Erwarteten! Ja, sie waren es, jene beiden schwarzen Gespenster, die aus dem großen Tor ihres Hauses traten und nun eiligst herbeikamen, begleitet von zwei Negern mit langen Säbeln. – Gleich nach Empfang des Briefchens waren die beiden jungen Mädchen bereit gewesen, dem an sie ergangenen Ruf zu folgen. Und als die Harrende sah, wie eilig die beiden herbeieilten, füllten sich ihre Augen mit Tränen, aber es waren Freudentränen. Kaum hatten sich alsdann die Eintretenden ihrer schwarzen Umhüllungen entledigt, so warf sich die unglückliche Braut weinend in ihre Arme, und jene drückten sie mit zärtlicher Teilnahme an ihre Herzen.

»Wir ahnten wohl, daß Du nicht glücklich seist, da Du aber nicht mit uns darüber sprachest, so wagten wir auch nicht, Dich zu fragen. Seit einigen Tagen schon fanden wir Dich so zurückhaltend und frostig gegen uns.

»Ihr wißt ja, wie ich bin! Es ist albern, aber ich schäme mich, wenn man mich leiden sieht.«

»Weshalb sagtest Du aber nicht ›Nein‹ bei der Werbung?«

»Ich habe schon so oft ›Nein‹ gesagt. Die Liste der von mir Abgelehnten ist schon sehr lang. Und bedenket: ich bin zweiundzwanzig Jahre alt. Auch ist es ja gleichgültig, ob ich den nehme oder einen anderen, wenn ich doch einmal heiraten muß!«

Aehnlich hatte sie schon früher einige ihrer Freundinnen, die sich verheirateten, sprechen gehört, und sie war empört gewesen über solche Gleichgültigkeit. Wie war es möglich, sich wie die Sklavinnen verheiraten zu lassen? ... Und jetzt hatte sie selbst einem solchen Handel zugestimmt dessen Abschluß morgen stattfinden sollte! Ueberdrüssig des fortwährenden Ablehnens und des ewigen Kämpfens hatte sie wie die anderen schließlich das »Ja« ausgesprochen das sie ins Verderben stürzte, anstatt das »Nein«, daß sie mindestens noch für einige Zeit gerettet haben würde. Und nun, da es zu spät war, ihr Wort zurückzunehmen war sie an den Rand des Abgrundes gelangt, dem sie morgen verfallen sollte!

Nun weinten sie alle drei gemeinschaftlich die Tränen, welche die kleine Braut so viele Tage hindurch aus Stolz zurückgehalten, aber sie weinten auch über ihre bevorstehende Trennung, als wenn eine von ihnen sterben sollte. Natürlich sollten Zeyneb und Mélek an demselben Abend nicht mehr nach ihrem Hause zurückkehren, sondern bei ihrer Cousine schlafen, wie das allgemein üblich war, und wie sie selbst seit etwa zehn Jahren das häufig getan hatten. Diese drei jungen Mädchen waren fast immer beisammen wie unzertrennliche Schwestern und waren gewohnt, meistens in Gemeinschaft zu schlafen bei einer oder der anderen, und vorzugsweise bei der Zirkassierin.

Als diesmal, nachdem die Sklavinnen, ohne einen Befehl dazu abgewartet zu haben, die seidenen Matratzen für die Besucherinnen auf dem Teppich ausgebreitet hatten, die drei Freundinnen allein blieben, hatten sie das Gefühl, als wären sie zu einer Totenwache vereinigt. Sie hatten die Erlaubnis erbeten und erhalten, zum Abendtisch nicht hinunterkommen zu brauchen; und ein unbärtiger, dicker Neger hatte ihnen auf einem großen goldenen Präsentierbrett ein vollständiges Souper mit allem Zubehör überbracht, aber keine von ihnen dachte daran, es zu berühren.

Im Speisesaal des Erdgeschosses speisten außer ihrer gemeinsamen Großmutter der Pascha, der Vater der Braut, und Mademoiselle Bonneau de Saint-Miron, ohne sich zu unterhalten, wie nach einem Unglücksfall. Die Großmutter, noch erzürnter als jemals über das Benehmen der Tochter ihrer verstorbenen Tochter, und recht gut wissend, an wen sie sich dabei zu halten habe, beschuldigte die moderne Erziehungsweise der Lehrerin. – Das junge Mädchen, echt muselmanischem Blut entsprossen, war im Laufe der Jahre eine Art Wunderkind geworden, dessen Rückkehr zu den altehrwürdigen Gebräuchen nicht zu erhoffen war; dennoch liebte sie das Kind recht sehr, aber sie hatte immer geglaubt, sich ihm gegenüber streng erweisen zu müssen, ... und heute, bei dieser unbegreiflichen, offenbaren Auflehnung, wollte die Großmutter ihre Strenge und Härte noch deutlicher zeigen.

Auch der Pascha, der sein einziges Kind allezeit verhätschelt und verwöhnt hatte wie eine Prinzessin aus »Tausend und eine Nacht«, und dem sie dafür mit der zärtlichsten Liebe anhing, verstand ihr jetziges Benehmen ebensowenig wie seine alte 1320er Schwiegermutter. Er war ebenfalls aufgebracht und meinte, dieser Eigensinn sei doch zu arg, sich als Märtyrerin aufzuspielen, weil man in dem Augenblick, wo man ihr einen Gatten gäbe, für sie einen hübschen, stattlichen, reichen jungen Mann ausgewählt hatte, der aus vornehmer Familie stammte und in besonderer Gunst bei der kaiserlichen Majestät stand!

Die arme Lehrerin jedoch, die sich bewußt war, niemals in dieser Heiratsangelegenheit tätig gewesen zu sein, und stets die vertraute Freundin des jungen Mädchens, ihrer Schülerin, gewesen war, fühlte sich schmerzlich dadurch berührt, daß diese, obgleich sie ihre ehemalige Lehrerin zur Hochzeit besonders eingeladen hatte, nicht ihre Anwesenheit in den oberen Zimmern für diesen letzten Abend wünschte!

Nein, die drei schwärmerischen jungen Mädchen hatten gewünscht – ohne der guten Mademoiselle Bonneau dadurch wehe tun zu wollen –, an diesem letzten Abend vor der Trennung ganz unter sich zu bleiben. –

Vom morgigen Tage an würden diese Zimmer, in denen sie oft so glücklich gewesen, für immer verödet sein!

Damit es weniger traurig sei, hatten sie alle Kerzen auf den Kandelabern und Wandleuchtern angezündet, ebenso die große, auf einer hohen Säule stehende moderne Lampe mit dem kolossalen bunten Schirm, der das Licht in magischer Weise dämpfte.

Unter dieser Beleuchtung sammelten und ordneten sie alle die kleinen Andenken, die sie im Laufe der Jahre hier aufgespeichert hatten, größtenteils ziemlich wertlose Gegenstände, an die sich jedoch so manche freudige oder ernste Erinnerung knüpfte. Selbst verschiedene Puppen und andere Spielsachen aus ihrer frühesten Kindheit, die wie Heiligtümer aufbewahrt worden waren, kamen dabei zum Vorschein. – Allen diesen Dingen widmeten die drei Freundinnen die grüßte Aufmerksamkeit. Dagegen kümmerten sie sich durchaus nicht um die angekommenen, größtenteils sehr kostbaren Hochzeitsgeschenke, die Mademoiselle Bonneau in einem der Nebensäle ausgestellt hatte.

Eben war die Aufräumung der kleinen Reliquien beendet, als wiederum der aus der Höhe kommende Gesang der schönen klaren Stimmen erklang, der die Gläubigen zum fünften Gebet des Tages rief.

Um den Gesang besser zu vernehmen, öffneten die jungen Mädchen eines der Fenster und setzten sich dort nieder, um gleichzeitig die wundervolle Abendluft und den Duft der Zypressen und des Meerwassers einzuatmen, soweit dies das Gitterwerk des Fensters zuließ.

Die Stimmen aus der Höhe sangen immerfort, und aus der Ferne schienen andere zu antworten, wieder andere ertönten von Stambuls hohen Minaretts herab über den schlafenden Golf hinweg, getragen durch den Widerhall des Meeres; man hätte glauben mögen, daß diese Harmonie der klaren Stimmen aus dem vollen Himmel käme, in sanften Tönen die Gläubigen von allen Seiten zugleich herbeirufend.

Aber das währte nur kurze Zeit, und als die Muezzine, jeder nach den vier Windrichtungen, die nach den religiösen Ueberlieferungen aus unvordenklicher Zeit gebräuchlichen Worte gerufen hatten, folgte plötzlich ein tiefes Schweigen.

Stambul erschien nun in bläulicher Beleuchtung, hervorgerufen durch den niedersinkenden Mond. Ein bezauberndes Bild, das sich im Wasser des Golfs widerspiegelte, und dessen Anblick die drei jungen Mädchen, so oft sie ihn auch im Laufe der Jahre genossen, stets mit schwärmerischer Bewunderung erfüllte, die heute indessen mit tiefer Schwermut gepaart war. – Tiefes Schweigen ringsum; denn der in Pera übliche Lärm des fast europäischen Nachtlebens drang nicht bis hierher. Nur ein einziger Laut ließ sich von Zeit zu Zeit hören, ein sonderbares, den Nächten Konstantinopels eigentümliches Geräusch, das schon seinen Bewohnern der frühesten Jahrhunderte bekannt gewesen: »Tack! tack! tack!« ein dumpfer Ton, der durch die in der Nachtstille liegenden leeren Straßen schauerlich widerhallte. Der Wächter des Stadtviertels, der in seinen »Babuschen« genannten Schlappschuhen, langsam durch die Straßen gehend, mit einem schweren, eisenbeschlagenen Stabe in gleichmäßigem Takt auf das Steinpflaster stößt. Aus der Ferne antworten andere Wächter in der gleichen Weise, und das wiederholt sich von einem Stadtteil zum andern, durch ganz Konstantinopel, am Bosporus entlang und am Marmarameer, bis zum Schwarzen Meer, als wollten sie den Einwohnern sagen: »Schlafet unbesorgt! Wir wachen offenen Auges über Eure Sicherheit bis zum Morgen, ausspähend auf Diebe und Feuersgefahr!«

Fast hätten die jungen Mädchen durch die äußere allgemeine Ruhe sich betören lassen, hätte der Gedanke an den morgigen Tag sie nicht wieder aufgeschreckt.

O, welch ein fürchterlicher Tag, der morgige, für die Braut! ... Während des ganzen Tages mußte sie Komödie spielen, wie dies der Gebrauch verlangte, und sie gut spielen, es koste, was es wolle! ... Den ganzen Tag hindurch lächeln wie ein Götzenbild und laut lachen mit den vielen Freundinnen und den unzähligen Neugierigen, die bei Gelegenheit großer Hochzeiten das Haus der Braut stürmen. Zu allen soll man liebenswürdige Worte sagen, die empfangenen Glückwünsche freundlich aufnehmen und vom Morgen bis zum Abend stets eine Miene höchsten Glückes zeigen, obgleich einem das Herz brechen möchte!

Ja! Sie würde lachen und scherzen, trotz alledem! Ihr Stolz verlangte es! ... Als eine Besiegte zu erscheinen, das wäre zu demütigend für sie, die sich stets gerühmt hatte, sich nie anders zu verheiraten als nach ihrer eigenen Wahl; ... sie, die den andern so oft den Kreuzzug für die Rechte des Weibes gepredigt hatte!

»O, über welch schweren Tag wird sich morgen die Sonne erheben!« sagte sich das Opferlamm. »Und wenn doch, sobald die Sonne untergegangen sein wird, alles zu Ende wäre! Doch nein!... Monate, Jahre, mein ganzes Leben hindurch wird jener Mann, der mir heute noch ganz fremd ist, mein Gebieter sein! Ha! zu denken, daß ich nie mehr, an keinem einzigen Tage, zu keiner Stunde mehr mir selbst angehören soll! ... Und weshalb? Weil es diesem Manne plötzlich einfällt, die Tochter eines kaiserlichen Hofmarschalls zu heiraten!?«

Die teilnahmsvollen kleinen Cousinen schlugen vor, als sie sahen, wie ihre Freundin bei diesen Worten nervös mit dem Fuß auftrat, zu musizieren, zum letztenmal! Gemeinschaftlich begaben sich alle drei in das Musikzimmer, wo das Piano offengeblieben war.

In diesem Zimmer befanden sich auf Tischen, Stühlen und Konsolen die verschiedenartigsten Gegenstände, die das Geistesleben einer modernen Türkin bekundeten, die begierig ist, in ihrer Einsamkeit alles zu versuchen, alles zu wissen oder doch kennen zu lernen. Sogar ein Phonograph war vorhanden, mit dem die jungen Mädchen sich einige Tage hindurch belustigt hatten, um sich Szenen aus französischen Gesangspossen und Operetten vorspielen zu lassen. Die wertlosen Dinge waren aber bald beiseite gestellt worden und gerieten dann gänzlich in Vergessenheit; sie würden nun wohl den Dienerinnen und den Eunuchen zu deren größtem Vergnügen in die Hände fallen. –

Die Braut setzte sich an das Piano, zögerte einen Augenblick, spielte dann aber ein Concerto ihrer eigenen Komposition. Sie hatte die Harmonik mit den ausgezeichnetsten Meistern studiert und sehr bedeutende Erfolge erzielt.

Sie trug sodann ein Notturno vor, das jedoch noch unvollendet war; sie hatte es erst vor kurzem begonnen; es herrschte darin eine überaus düstere Stimmung.

Dieses Musikstück mußte abgebrochen werden, weil sich von der Straße her das Stampfen des Nachtwächters in die Töne der Musik mischte. – Nachdem draußen wieder Stille eingetreten war, trat Zeyneb an das Piano, um, von Mélek begleitet, zu singen. Mit einer sehr schönen Stimme in tiefer Tonlage begabt, erzielte sie besonders günstige Wirkung in ernsten Musikstücken; sie wählte deshalb bei dieser Gelegenheit unter den bunt durcheinander liegenden Noten Glucks unsterbliche »Gottheiten des Styx«, den ersten Satz prachtvoll beginnend. Die Seelen der Verblichenen, die dort drüben in den Gräbern des nahen Friedhofs, unter den dunklen Zypressen ruhten, mußten nicht wenig erstaunen über dieses noch zu so später Stunde erhellte Fenster, dessen Lichtstreifen auf ihre Gräber hinüberfielen; ein Haremfenster, ohne Zweifel, aus dem aber recht fremdartige Melodien ertönten. –

Kaum hatte Zeyneb den wundervollen ersten Satz beendet, als Mélek aus Schreck einen falschen Akkord anschlug. Eine menschliche Gestalt, die sie zuerst erblickte, tauchte plötzlich neben dem Piano auf; eine große, schwarz gekleidete magere Gestalt war es, die geräuschlos wie ein Gespenst erschienen war. Zwar keine Erscheinung vom Styx, aber auch nicht viel besser als ein Gespenst, war es Madame Husnugul, der Schrecken des Hauses, die jetzt mit hohler Stimme sagte:

»Ihre Großmutter befiehlt Ihnen, die Lichter auszulöschen und sich schlafen zu legen!«

Und sie entfernte sich geräuschlos, wie sie gekommen war, alle drei ganz erstarrt zurücklassend. Diese Frau hatte ein eigenes Talent, jedesmal und überall einzutreten, ohne daß man sie hörte.

Madame Husnugul (Schönheit der Rose), eine ehemalige zirkassische Sklavin, wäre vor dreißig Jahren fast ein Mitglied der Familie geworden, denn sie hatte ein Kind von dem Schwager des Paschas. Das Kind starb jedoch, und man verheiratete sie mit einem Gutsverwalter auf dem Lande. Als dieser aber auch gestorben war, erschien sie eines Tages mit einem Bündel wertloser Kleidungsstücke, ihrem ganzen Hab und Gut, wieder hier, »zu Besuch«, wie sie sagte. – Nun, dieser Besuch dauerte bereits fünfundzwanzig Jahre! – Madame Husnugul, halb Gesellschafterin, halb Aufseherin und Spionin der jungen Mädchen, war die rechte Hand der alten Herrin des Hauses geworden.

Gegen den von Madame Husnugul überbrachten Befehl war nichts auszurichten. Die trostlosen jungen Mädchen schlossen deshalb leise das Piano und löschten die Kerzen aus. Bevor sie sich aber zu Bett begaben, umarmten sich alle drei noch recht innig und weinten dabei so schmerzlich, als würde der morgige Tag sie für immer voneinander trennen. Aus Furcht, nochmals Madame Husnugul auftauchen zu sehen, die ohne Zweifel hinter der kaum angelehnten Tür lauschte, wagten sie nicht, miteinander zu sprechen. Zu schlafen vermochten sie aber noch nicht; und von Zeit zu Zeit hörte man noch einen Seufzer oder ein Schluchzen sich aus einer oder der anderen jugendlichen Brust befreien. –

In der nächtlichen Stille, die den Gedanken ein so weites Feld bot, erregte sich die Braut immer mehr, im Gefühl, daß sie sich von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute unaufhaltsam dem Augenblick ihrer tiefsten Erniedrigung und der unwiderruflichen Vollendung ihres Unglücks nähere. Sie haßte jetzt förmlich den Mann, in dessen Gewalt sie hilflos gegeben werden sollte. Da jedoch augenblicklich noch nichts abgeschlossen war, so kam ihr der Gedanke, noch einen letzten Versuch zu machen, um dieser verhaßten Verbindung zu entgehen, möge geschehen, was da wolle! ...Was aber sollte sie tun? Sich ihrem Vater zu Füßen werfen? Es war zu spät; sie würde seinen Willen nicht beugen. –

Fast Mitternacht war es geworden. Der Mond warf sein phantastisches Licht in schmalen Streifen durch das Gitterwerk ins Zimmer. Einer dieser Streifen erleuchtete gerade den über dem Bett angebrachten Koranspruch, der da lautete: »Meine Sünden sind groß wie die Meere, aber Deine Gnade ist noch größer, o Allah!« Noch lange Zeit, nachdem das junge Mädchen aufgehört hatte, dem strengen Glauben anzuhängen, übte jener Spruch, der gleichsam ihren Schlaf bewachte, eine geheimnisvolle Wirkung auf ihre Seele aus; es war ihr ein gewisses Vertrauen geblieben auf die höchste Gnade und Güte. – Das war jetzt aber vorbei; weder vor noch nach dem Tode erhoffte sie noch Güte und Gnade.

In diesem Augenblick fühlte sie sich deshalb auch bereit zu den äußersten Entschlüssen. – Indessen, was konnte sie unternehmen? ... Entfliehen? ... Aber auf welche Weise? Und wohin? ... Um Mitternacht, aufs Geratewohl, durch die schaurig-öden Straßen? ... Und wo sollte sie eine Zuflucht finden? ...

Zeyneb, die ebensowenig schlief, sprach ganz leise zu ihr. Es war ihr eingefallen, daß um Mitternacht der Tag anbrach, den die Türken »Basar-Guni« (gleichbedeutend mit »Sonntag«) nennen, zu welcher Zeit man für die Toten beten muß. Diese Pflicht hatten sie bisher nie versäumt; es war dies sogar einer der wenigen religiösen Gebräuche, die sie noch beobachteten. Im übrigen waren sie wie die meisten modernen Türkinnen ihres Alters von den Ideen Darwins, Schopenhauers und anderer Philosophen angehaucht. Die Großmutter sagte öfter zu den jungen Mädchen: »Was mich in meinem Alter am meisten betrübt, ist, daß Ihr schlimmer seid, als wäret Ihr zum Christentum übergetreten. Denn im Grunde lieben alle Gott, die einer Religion angehören; aber Ihr seid in Wirklichkeit die ›Ungläubigen‹, von denen der Prophet in seiner Weisheit voraussagte, daß ›ihre Zeit kommen werde!‹«

Ungläubig waren sie in der Tat und zweifelsüchtig, sogar in höherem Grade als die meisten der jungen Mädchen des Abendlandes; aber für die Toten zu beten, bewahrten sie als eine Pflicht, an der niemand zu rühren wagte. Selbst bei ihren sommerlichen Spaziergängen durch die Dörfer des Bosporus, die herrliche Friedhöfe haben, im Schatten der Zypressen und der riesigen Eichen, geschah es häufig, daß sie stehen blieben, um am armseligen Grabe eines ihnen vielleicht ganz Unbekannten zu beten.

Die drei Freundinnen zündeten mit großer Vorsicht eine bescheidene Nachtlampe an, und die kleine Braut nahm ihren Koran, der stets in der Nähe ihres Bettes auf einem kleinen Tischchen lag. – Den Koran, immer umhüllt mit einem seidenen Tuch aus Mekka, nach Sandelholz duftend, muß jede Muselmanin neben ihrem Lager liegen haben, eigens für die Nachtgebete.

Und alle drei begannen nun mit gedämpfter Stimme zu beten; und allmählich beruhigte sie das Gebet, gleich wie frisches Wasser das Fieber stillt.

Bald jedoch erschien eine schwarzgekleidete große Frau wie stets, ohne daß man sie kommen gehört, und richtete sich nach Art der Gespenster plötzlich neben ihnen auf, in gewohnter Weise sprechend: »Ihre Großmutter befiehlt: die Lampe auszulöschen!« »Es ist gut, Madame Husnugul,« sagte die Braut; »haben Sie die Gewogenheit, selbst die Lampe auszulöschen, da wir uns schon in den Betten befinden; und erklären Sie gefälligst unserer Großmutter, daß wir keineswegs beabsichtigten, ihr ungehorsam zu sein; ... wir sprachen nur die Gebete für die Toten!«

Als Madame Husnugul verschwand, war es zwei Uhr nachts. – Die drei jungen Mädchen, erschöpft von Aufregung, Schmerz und Empörung, schliefen alle zu gleicher Zeit ein und versanken in einen ruhigen, tiefen Schlaf.


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