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56.

Drei Tage später empfing er von Zeyneb einen langen Brief, der noch einen anderen verschlossenen Brief enthielt, auf dem sein Name »André« noch von Djenanes Hand geschrieben war.

Zeynebs Brief.

»André, alle meine Leiden, alle meine Qualen wandelten sich in Freude, solange ihr Lächeln sie beleuchtete; alle meine trüben Tage erweiterten sich durch sie: jetzt erst verstehe ich es, da sie nicht mehr hier ist! ...

Fast eine Woche ist es, daß sie in der Erde ruht! ... Niemals werde ich ihre tiefen, ernsten Augen wiedersehen, in denen ihre ganze Seele erschien; niemals mehr werde ich ihre Stimme hören, noch ihr kindliches Lachen! ... Alles wird finster um mich sein bis zum Ende!

Djenane ist in die Erde gebettet! ... Ich glaube es noch immer nicht, André, ... und ich habe doch ihre kalten kleinen Hände berührt, ... ich habe ihr erstarrtes Lächeln gesehen und ihre Perlenzähne zwischen den bleichen Lippen!

Ich war es, die zuerst zu ihr eilte, die den letzten Brief, den sie während der Nacht an Sie geschrieben, André, aus ihrer erkalteten Hand genommen, die ihn fast zerdrückt hatte.

Ich glaube es noch immer nicht, und doch habe ich sie bleich und starr gesehen! ... Ich glaube es nicht, und es ist doch wahr! ... Ich sah auch ihren Sarg eingehüllt in den Valideschal und bedeckt mit einem grünen Schleier von Mekka, ... und ich hörte den Imam die Gebete der Toten für sie sprechen! ...

Am Donnerstag, dem nämlichen Tage, wo wir sie zu Hamdi Bei führen sollten, erhielt ich frühmorgens ein kurzes Schreiben von ihr nebst einem Schlüssel zu ihrem Zimmer. Kondja-Gül brachte es mir; aber weshalb zu so früher Stunde? Angstvoll öffnete ich den Brief und las die wenigen Worte:

›Komm! Du wirst mich tot finden. – Du wirst als Erste und Einzige mein Zimmer betreten; suche dicht bei mir nach einem Brief, verstecke ihn in Deinem Kleide, und sende ihn späterhin an meinen Freund!‹ ...

Ich lief hin und trat ganz allein in ihr Zimmer. – O, André! Schon vor meinem Eintreten hatte ich mich zitternd gefragt: ›Wie werde ich sie finden?‹ ... Und als ich dann eintrat, mit welchem Grausen suchte ich nach ihr! Ah! da! Da saß sie im Fauteuil vor ihrem Schreibtisch, den Kopf zurückgeworfen, das weiße Gesicht nach oben gerichtet, als blicke sie in den eben erwachenden Tag. – Und ich durfte nicht aufschreien, durfte niemand herbeirufen! – Nein, zuerst mußte ich den Brief suchen. Auf dem Schreibtisch lagen mehrere versiegelte Briefe, ohne Zweifel Abschiedsbriefe. Aber es lagen da auch lose, beschriebene Blätter und ein vorbereiteter Umschlag mit Ihrem Namen, André; ... das mußte es sein! Und das letzte Blatt, das ganz zerknittert war, nahm ich aus ihrer linken Hand, mit der sie es krampfhaft festgehalten hatte. – Ich verbarg das alles, nach ihrem letzten Willen; ... und dann erst schrie ich mit voller Stimme, bis andere herbeikamen.

Djenane! Du meine einzige Freundin, meine Schwester! Für mich gibt es nichts mehr ohne sie! ... Nicht Freude, noch Liebe, noch Zärtlichkeit oder Freundschaft! Sie hat alles mit sich fortgenommen in ihr Grab, auf dem sich bald ein grüner Gedenkstein erheben wird, auf dem alten Friedhof in Eyub, den Sie ja ebenso liebten, André, wie unsere unersetzliche Djenane! ... O! Sie hätte lange leben können, wenn sie die Barbarin geblieben wäre, die kleine Prinzessin der asiatischen Ebenen! Dann hätte sie nichts gewußt von der Vergänglichkeit und Nichtigkeit aller Dinge. – Das zu viele Denken und Wissen ist es, das sie mehr und mehr vergiftet hat. Das Streben, es dem Abendlande gleichzumachen, hat sie getötet! ... Wenn man sie gelassen hätte, wie sie ursprünglich war: unwissend, schön und lieblich, ... dann säh' ich sie noch hier, neben mir, und hörte ihre himmlische Stimme! Und meine Augen hätten nicht geweint, ... wie sie noch fernerhin weinen werden bei Tag und bei Nacht! ... Ja, André, ich verzweifelte nicht so hoffnungslos, wenn sie die kleine Prinzessin der asiatischen Ebene geblieben wäre!

Zeyneb.«

*

Den Brief Djenanes zu öffnen, erregte in André Lhéry eine heilige Scheu.

Das war etwas anderes als die formelle Todesanzeige, die er ganz arglos geöffnet hatte. Diesmal war er gewarnt. Seit mehreren Tagen schon hatte er Trauer um die geliebte Freundin angelegt, ... und der Schmerz über ihren Verlust wuchs von Tag zu Tag. Er hatte auch bereits Zeit gehabt, über den Teil der Verantwortlichkeit nachzudenken, der bei dieser entsetzlichen Verzweiflungstat auf ihn fiel! ...

Bevor er den Brief erbrach, schloß er sich in sein Studierzimmer ein, um durch nichts in seinem geistigen Beisammensein mit ihr gestört zu werden.

Als er den Brief endlich geöffnet hatte, fand er darin mehrere einzelne Blätter, und das letzte Blatt, das sie noch in der erstarrten Hand gehabt, war allerdings von ihren Fingern zerknittert worden.

Zunächst sah er, daß die Schrift die gleiche ihrer früheren Briefe war, die gleichmäßige saubere Schrift. Sie mußte mithin vollkommen Herrin ihres Willens im Angesicht des Todes gewesen sein! ...

Sie begann mit etwas sentimentalen Redewendungen, wie das ihre Art war, aber in so ruhiger Form, daß André fast an dem entsetzlichen Schluß gezweifelt hätte, er, der sie nicht bleich und starr gesehen, ... er, der nicht ihre erkaltete Hand berührt hatte.

»Mein Freund, die Stunde ist gekommen, uns Adieu zu sagen! ... Das Irade, durch welches ich mich geschützt glaubte, ist zurückgenommen worden, wie Zeyneb Ihnen wohl mitgeteilt hat. Meine Großmutter und mein Onkel haben alles vorbereitet für meine Wiederverheiratung, und der morgige Tag soll mich dem Manne zurückgeben, ... den Sie kennen.

Es ist Mitternacht, und in dem Frieden des verschlossenen Hauses kein anderes Geräusch als das Kritzeln meiner Feder; nichts wacht, außer meinem Seelenschmerz! ... Für mich ist die Welt schon versunken. Ich habe bereits Abschied genommen von allem, was mir lieb und wert gewesen. Ich habe meinen letzten Willen niedergeschrieben und meine Abschiedsgrüße. Ich habe meine Seele von allem befreit, was nicht zu ihrem Wesen gehört, ... ich entfernte auch alle Bildnisse daraus, ... damit nichts verbleibe zwischen Ihnen und mir, ... um nur Ihnen die letzten Stunden meines Lebens zu widmen, ... und daß Sie ganz allein die letzten Schläge meines Herzens fühlten.

Denn, mein Freund, ich werde sterben ... O! eines friedlichen Todes, ähnlich einem Schlummer, der mich hübsch erhalten wird! ... Die ewige Ruhe, das Vergessen, schlummert hier in einem Flakon, ich brauche nur die Hand danach auszustrecken! Es ist ein arabisches Gift, ... sehr süß, das – wie man sagt – dem Tode das Traumbild der Liebe verleiht. –

André, bevor ich aus dem Leben scheide, habe ich eine Wallfahrt gemacht nach dem Grabe, das Ihnen so teuer ist. Ich habe dort gebetet und die, welche Sie einst liebten, gebeten, mich in meiner letzten Stunde zu unterstützen, .. und auch zu erlauben, daß das Gedenken an mich mit dem Gedanken an sie sich im Herzen Andrés vereinige! ...

Und dann begab ich mich, nur von meiner alten Sklavin begleitet, nach Eyub, um meine Toten zu bitten, mich gut aufzunehmen. Zwischen den Gräbern irrte ich umher, eine Stelle für mich auswählend; an jener Ecke, wo wir uns ehemals gemeinschaftlich niedersetzten, habe ich mich ganz allein ausgeruht. Der Wintertag war ebenso milde wie jener Tag im April, als ich, an derselben Stelle, Ihnen meine Seele gab! ...

O mein Land, wie schön bist du im Purpur des Abends! Ich schloß meine Augen, um dieses Bild in das andere Leben mit hinüberzunehmen! – – – – – –

Zeyneb hatte mir zur Flucht geraten, als uns die Zurücknahme des Irades verkündet wurde; ich konnte mich aber nicht dazu entschließen. Vielleicht, ... wenn ich gewußt hätte, unter einem anderen Himmel die Liebe zu finden, die mich aufnehmen wollte ... Nein! Ich hätte höchstens das Recht auf ein wohlwollendes Mitleid. – Ich ziehe den Tod vor! ...

Eine befremdende Ruhe herrscht in mir. – Ich ließ in dieses Zimmer, das ich in meiner Jugend schon bewohnte, und das auch Sie, André, einmal betraten – alle die Blumen bringen, die meine Freundinnen mir zu dem morgigen ›Fest‹ geschickt hatten. Indem ich sie um mein Bett und um den Tisch, an dem ich schreibe, aufstellen ließ, denke ich an Sie, mein Freund. Ich rufe Sie herbei! ... In dieser Nacht sind Sie mein Gefährte! Wenn ich jetzt meine Augen schließe, sind Sie hier, kühl und unbeweglich, aber mit Ihren unergründlichen Augen, deren Geheimnis ich nie entdecken konnte, durchdringen Sie meine geschlossenen Augenlider und entzünden mir mein Herz! ... Und wenn ich die Augen öffne, sind Sie wieder hier, zwischen den Blumen blicken Sie mich durch Ihr dort aufgestelltes Bild an. –

Aber Ihr Buch, – unser Buch!? – Außer den Bogen, die Sie mir sandten, und die mir in mein Grab folgen werden, – soll ich nichts weiter davon kennen lernen? Mithin werde ich nicht einmal Ihre wahren Gedanken erfahren haben! ... Sind Sie sich wirklich der ganzen Trostlosigkeit unseres Lebens bewußt geworden? Haben Sie eingesehen, welches Verbrechen es ist, schlummernde Seelen aufzuwecken und hernach, wenn sie sich aufschwingen wollen, sie zu unterdrücken? ... Und haben Sie die Nichtswürdigkeit erkannt, Frauen zu vernunftlosen Wesen zu erniedrigen? ... Wenn Sie das erkannt und eingesehen haben, so sagen Sie es deutlich und unerschrocken, und sagen Sie auch, daß man uns des freien Willens in den wichtigsten Lebensverhältnissen beraubt! ...

O, Freund, sagen Sie das alles in Ihrem Buch, damit mein Tod wenigstens meinen muselmanischen Mitschwestern einigen Vorteil bringt! Wieviel Gutes hatte ich ihnen tun wollen im Leben!? Ich träumte sogar einmal davon, sie alle zu erwecken. – Doch nein! Schlafet nur weiter, Ihr armen Seelen. Bildet Euch niemals ein, Flügel zu haben! ...

Aber diejenigen meiner bisherigen Leidensgenossinnen, die bereits einen Entschluß gefaßt haben und im Aufflug begriffen sind nach einem anderen Horizont als dem des Harems, ... diese, André, empfehle ich Ihnen ganz besonders. Sprechen Sie von ihnen und für sie ... Seien Sie ihr Verteidiger in der Welt, die denkt und Mitgefühl hat. – Und mögen die Tränen aller, ... möge mein Todeskampf endlich die Verblendeten rühren, ... unsere nächsten Angehörigen, die uns in ihrer Weise lieben, ... uns aber trotzdem unterdrücken!«

(Hier änderte sich die Schrift plötzlich und wurde weniger fest, beinahe zitternd.)

»Es ist drei Uhr morgens, und ich setze meinen Brief fort. – Ich weinte inzwischen, weinte so viel, daß ich nicht mehr klar zu sehen vermag.

O, André! ... Ist es denn möglich: jung zu sein und zu lieben und dennoch in den Tod getrieben zu werden?! ... O ... es drückt mich etwas in der Kehle ... und droht mich zu ersticken! ...

Ich hatte das Recht, zu leben und glücklich zu sein! ... Ein Traum des Lebens und des Lichtes umschwebt mich noch jetzt ... Aber morgen, ... sobald die Sonne aufgeht, ... holt mich der Gebieter, ... den man mir aufdrängt; ... er will mich mit seinen Armen umfangen! ... Wo aber sind die Arme, von denen ich umfangen zu werden wünschte?! ...«

(Ein Zwischenraum, der eine zweite Unterbrechung andeutete, folgt und beweist ohne Zweifel eine letzte Zögerung vor dem Vollzug der unwiderruflichen Tat.)

Der Brief nimmt nochmals, für einige Minuten, seine frühere Ruhe an; aber diese Ruhe erregt Schauder! – – –

»Es ist geschehen! ... Nur ein wenig Mut brauchte es ... Der kleine Flakon des ewigen Vergessens ist leer! ... Ich bin schon ein Gegenstand der Vergangenheit! – In einer Minute werde ich die Grenze des Lebens überschritten haben; ... es bleibt nur ein etwas bitterer Geschmack nach Blumen ... auf den Lippen zurück. – ... Die Erde scheint mir schon weit entfernt ... Alles verwirrt sich ... und löst sich auf ... außer dem Freund, den ich liebte, ... den ich rufe, und den ich bei mir haben will ... bis ans Ende ...!«

Die Handschrift begann jetzt hin und her zu schwanken wie die kleiner Kinder; dann, zu Ende dieser Seite, gingen die Linien kreuz und quer. Die arme Hand hatte keine Kraft mehr, und die Buchstaben hatten schon keine Verbindung mehr untereinander; besonders bei dem letzten Blatt, das ganz zerknittert worden war von der Sterbenden.

... »Freund, den ich rufe, ... den ich bei mir haben will bis ans Ende ... Vielgeliebter! Kommen Sie schnell, ... denn ich will es Ihnen sagen! ... Wußten Sie es denn nicht, ... daß ich Sie lieb hatte von ganzem Herzen? ... Wenn man tot ist, ... kann man alles eingestehen. – Die Gebräuche der Welt ... bestehen nicht mehr! – ... Weshalb sollte ich Ihnen in der Scheidestunde nicht sagen, ... daß ich Sie geliebt habe? ... André, an dem Tage, als Sie sich an diesen selben Schreibtisch setzten, ... auf dem ich jetzt diesen Brief schreibe, ... wollte der Zufall, ... daß, als ich mich bückte, ich Sie berührte; ... da schloß ich die Augen, ... und vor meinem inneren Gesicht schwebten wunderschöne Träume... – Sie preßten mich an Ihr Herz, – träumte mir, – und meine Hände berührten Ihre Augen und verjagten alle Betrübnisse daraus ...! –

Ah! In jenem Augenblick hätte der Tod kommen können! ... Welch glückliche, freudige Seele würde er ... geradeswegs aus meinem Traum irdischer Glückseligkeit ... in die ewige Seligkeit ... entführt haben! ... Ah! ... Alles verwirrt und verschleiert sich ...! Man hatte mir gesagt, ... ich würde einschlafen, ... aber ich fühle noch keine Schlaflust, ... es bewegt ... und verdoppelt sich .. und tanzt... um mich herum! ... Meine Augen sind so groß wie Sonnen, ... die Blumen sind gewachsen, ... ich befinde mich ... in einem Walde ... riesiger Blumen...!

O komm', André! ... Komm' hierher, zu mir, ... was tust Du da ... zwischen den Rosen? ... Komm' her zu mir,... während ich schreibe!... Ich will Deinen Arm um mich geschlungen haben, ... und Deine teuren Augen an meinen Lippen! ... So! ... mein Geliebter! ... So will ich schlafen, ganz dicht bei Dir, und Dir sagen, daß ich Dich liebe! ... Nähere mir Deine Augen, denn in dem anderen Leben, in dem ich bin, kann man durch die Augen in den Seelen lesen. – Und ich bin eine Tote, André! ... In Deinen klaren Augen, in die ich nicht blicken konnte, ist da eine Träne für mich? ... Ich höre Dich nicht antworten, weil ich tot bin! ... Deshalb schreibe ich Dir; Du würdest meine Stimme nicht aus der Ferne vernehmen ...! Ich liebe Dich! Hörst Du das wenigstens? Ich liebe Dich! ...«

O! Diesen Todeskampf förmlich zu fühlen, wie mit der Hand! ... Und der selbst zu sein, mit dem zu sprechen sie begehrte, während der Minute des großen Geheimnisses, wenn die Seele entflieht, ... und die letzte Spur ihres teuren Gedankens, die schon aus dem Reich der Toten kam, selbst in Empfang zu nehmen! ...

»Und ich gehe fort, ich entfliege! Drücke mich fest an Dich, André! O! Wird man Dich jemals noch ebenso innig lieben? ... Ah! Der Schlummer naht, ... und die Feder wird mir schwer ... O! In Deinen Armen, ... mein Vielgeliebter...!«

Die letzten Worte verloren sich, kaum niedergeschrieben.

Der Leser dieses Briefes vermochte nichts mehr zu lesen. – Auf das zerknitterte Blatt, das die arme kleine Hand der Sterbenden, die von nichts mehr wußte, festgehalten hatte, drückte er andächtig und innig seine Lippen.

Und das war ihr einziger Kuß!

*

O, Djenane – Feride – Azade, möge der Rahmet Allahs auf Dich niedersteigen! ... Möge Deiner stolzen und weißen Seele der Friede werden! Und möchten Deine Schwestern in der Türkei, auf meinen Ruf, noch während einiger Jahre, vor dem Vergessen, abends bei ihren Gebeten Deinen teuren Namen mitnennen!...


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