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29.

Zum zweitenmal seit der Rückkunft vom Bosporus befand sich André in Gemeinschaft des Trios der Vermummten in dem geheimnisvollen alten Hause im Herzen von Stambul.

»Sie wissen noch nichts von dem Ort unseres nächsten Stelldicheins,« sagte Mélek zu André. »Zur Abwechslung werden wir uns einmal an anderer Stelle treffen. Eine unserer Freundinnen, die in Mehmed-Fatih wohnt – also in Ihrem Lieblingsstadtteil, werter Freund, – hat uns angeboten, uns bei ihr zu versammeln. Ihr völlig türkisch eingerichtetes Haus, das keinen anderen Gebieter hat, ist ein wahrer Glücksfund: es ist still und sicher. Ich bereite Ihnen dort übrigens eine Ueberraschung, in einem Harem, viel luxuriöser als dieser hier und mindestens ebenso orientalisch. Sie werden es sehen!«

André hörte ihr kaum zu. Er war entschlossen, heute seine Schiffe zu verbrennen, um zu versuchen, Djenanes Augen kennen zu lernen. Er war ganz von diesem Gedanken erfüllt und fühlte, daß, wenn sie bei ihrem unbeugsamen Charakter sich sträuben würde, seine Bitte zu erfüllen, ... er für immer ein Ende machen müßte. Der ewige schwarze Schleier über ihrem Gesicht bewirkte in ihm ein unerträgliches Mißbehagen, ein wachsendes Leiden, je mehr er sich an sie anschloß. Er wollte endlich wissen, was sich unter jenem Schleier befand! Nur eine Sekunde den Anblick dieser Sirene mit der herrlichen Stimme erfassen, um ihn für immer im Gedächtnis zu bewahren! ... Weshalb verbarg sie sich denn so streng, während ihre Gefährtinnen es nicht taten? Welcher Unterschied bestand zwischen ihnen? Welch anderem, unerklärlichem Gefühl konnte diese reine, stolze Seele gehorchen? ...

Zuweilen tauchte wohl eine Erklärung in ihm auf, aber er verwarf sie stets sofort als widersinnig und aus dünkelhafter Einbildung entstanden. »Nein!« sagte er sich dann immer, »sie könnte ja meine Tochter sein; ... darin ist kein Sinn noch Verstand!«

Sie war hier ganz in seiner Nähe; er brauchte nur jenes Stückchen Stoff mit seiner Hand zu erheben!

Weshalb war ihm diese so verlockende, einfache Handbewegung ebenso unmöglich und abscheulich wie ein Verbrechen? ...

Die Zeit verging, bald schon würde man sich trennen müssen, da sagte er schnell entschlossen zu der nichts ahnenden Djenane:

»Hören Sie mich an, liebe Freundin! Ich muß um jeden Preis Ihre Augen kennen lernen! Es ist mir unmöglich, den bisherigen Zustand noch fernerhin zu ertragen. Zunächst ist unsere gegenseitige Stellung ungleich, weil Sie meine Augen jederzeit sehen, selbst durch Ihren zwei- oder dreifachen Schleier, der Ihr Mitschuldiger ist.

Ich bitte Sie, das nächste Mal anstatt dieses verzweifelten Tcharchafs im Yachmak zu erscheinen, der wenigstens Ihre Augen sehen läßt, ... und die Augenbrauen, die für den Ausdruck des Blickes so wichtig sind. – Verdecken Sie, wenn es nicht anders sein kann, den übrigen Teil Ihres Gesichtes meinetwegen für immer, ... nur nicht Ihre Augen! ... Ich bitte Sie darum, ... ich flehe Sie an! ... Warum verbergen Sie sich in solcher Weise, ... da Ihre Cousinen es doch nicht tun? Geschieht es Ihrerseits aus Mißtrauen, so ist das ein Unrecht!«

Nachdem er geendet, schwieg sie noch einen Augenblick, überlegend und mit sich kämpfend; dann sagte sie im Ton ernster Entschlossenheit:

»Blicken Sie her, André, und überzeugen Sie sich, ob ich mißtrauisch bin!«

Und ihren Schleier hoch erhebend und zurückwerfend, enthüllte sie ihr ganzes Gesicht, um ihre jungen, wundervollen meergrünen Augen voll und fest auf die Augen ihres Freundes zu richten!

Es war das erstemal, daß sie es wagte, ihn bei seinem Namen zu nennen, ausgenommen in ihren Briefen. Diese ihre Entscheidung und die Art der Ausführung hatte etwas so Feierliches, daß die beiden Cousinen vor Ueberraschung völlig stumm blieben, während André unter dem fest auf ihn gerichteten Blick der herrlichen Erscheinung unwillkürlich zurückwich.


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