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49.

Andrés Kammerdiener, der am frühen Morgen das bewußte Fenstergitter prüfend betrachtet hatte, kam ganz verstört nach Pera zurück. »Mademoiselle Mélek scheint gestorben zu sein!« sagte er zu seinem Herrn, nachdem er ihn geweckt hatte. »Am Fenster steckt ein blaues Signal!«

Er hatte mehrmals Gelegenheit gehabt, mit Mélek zu sprechen, freilich nur durch eine Türspalte, wenn er die gefährlichen Aufträge seines Herrn ausführte; zuweilen hatte sie ihm sogar ihr hübsches Gesicht sehen lassen, wenn sie sagte: »Ich danke!« –Für ihn war sie immer »Mademoiselle Mélek«, weil sie ihm so sehr jung vorgekommen war.

André, den eine Stunde später Djenane benachrichtigte, daß man die Leiche der Verstorbenen gegen Mittag nach der Moschee bringen werde, stieg noch vor elf Uhr nach Khassim-Pascha hinunter. Er hatte einen Fes und die Kleidung eines Mannes aus dem Volke angelegt, um sicherer zu sein, daß man ihn nicht erkennen werde; denn er wollte sich in einem gewissen Augenblick dem Sarge möglichst nähern und versuchen, einen frommen Gebrauch des Islams bei seiner kleinen Freundin zu erfüllen.

Zunächst wartete er im Verborgenen auf dem Friedhof, der dem Sterbehause gegenüberlag. Bald sah er denn auch den einfachen Sarg aus dem Hause bringen, getragen von den ersten besten Leuten, wie es in der Türkei Gebrauch ist. Ein Schal »Valide« mit grünen und roten Streifen umhüllte den Sarg vollständig; ein kleiner weißer Schleier war darübergelegt, um anzuzeigen, daß die Leiche einer Frau im Sarge lag. Eine überraschende Neuerung war über der am Schal befestigte Strauß roter Rosen.

Bei den Türken beeilt man sich ungemein mit der Beerdigung der Toten, zu der nicht einmal Einladungen erlassen werden. Es kommt dazu, wer will: Verwandte, Freunde, die zufällig den Todesfall erfahren haben, die Nachbarn und die Diener. Niemals folgen Frauen den Leichenzügen; auch gibt es keine bestimmten Träger: die Vorübergehenden verrichten diesen Dienst, von Strecke zu Strecke wechselnd.

Méleks Sarg ging häufig von einer Schulter auf eine andere; es drängten sich viele Vorübergehende zu der frommen Tat, einige Minuten den Sarg der ihnen gänzlich Unbekannten zu tragen.

Voran gingen zwei Priester mit grünen Turbans; etwa hundert Männer aller Klassen folgten, auch einige alte Derwische mit ihren Magiermützen waren gekommen; sie psalmodierten auf dem Wege mit lauter Stimme, in kläglichem Ton, der dem Geschrei der Wölfe an Winterabenden in den Wäldern ähnlich war.

Der Zug begab sich nach einer altertümlichen Moschee, die weit entfernt von bewohnten Häusern lag. Der Sarg wurde auf die Marmorplatten des Vorhofs gesetzt, und die Imams sangen mit sehr sanften Stimmen die Gebete für die Tote.

Nach kaum zehn Minuten setzte sich der Zug wieder in Bewegung, um nach dem Golf hinabzusteigen und in Barken das andere Ufer zu erreichen, wo sich die großen Friedhöfe von Eyub befinden.

Bei der Annäherung an das Goldene Horn verlangsamte sich der Zug wegen der vielen Leute, die daran teilnehmen wollten. André, der solange gezögert hatte, näherte sich jetzt, berührte mit der Hand den alten Schal »Valide«, schob seine Schulter vor und fühlte den Sarg mit dem Körper seiner kleinen Freundin auf sich ruhen, aber nur ganz kurze Zeit – dann kam schon ein anderer, der ihm die traurige Last abnahm. Er blieb stehen und entfernte sich bald gänzlich, aus Furcht, seine Beharrlichkeit, dem Zuge zu folgen, könnte auffallen.


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